FIHAVANANA

Vitaler Ausdruck von Solidarität in Madagaskar

Von Gisela Reppel

Fihavanana
Viele Töpfe - viele Hände. Ohne gegenseitige Hilfe ist eine große Familienfeier nicht möglich. Das Essen hier, anlässlich einer "Zweiten Bestattung", besteht aus Reis und Rindfleisch für etwa vierhundert Personen. Foto: G. Reppel

Bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2001 in Madagaskar standen sich nicht nur zwei Kandidaten unterschiedlicher politischer „Couleur“ gegenüber, sondern auch zwei Politiker, die bezüglich ihrer sozialen und kulturellen Werte unterschiedliche Ansichten vertraten. Zum einen der seit über 20 Jahren amtierende Präsident Didier Ratsiraka und zum anderen sein Herausforderer Marc Ravalomanana. Letzterer gewann die Wahl, die Ratsiraka nicht anerkannte, und in seinen scharfen Reden versuchte er eine Spaltung der Bevölkerung herbeizuführen. Er berief sich immer wieder auf den von den französischen Kolonisatoren ins Leben gerufenen „traditionellen“ Gegensatz zwischen den Bewohnern der Ostküste, „Côtiers“ (Ratsiraka gehört ihnen an), und den Bewohnern des Hochlandes, den Merina (die Ethnie Ravalomananas), ganz nach dem Motto: „Teile, um zu herrschen“. Ravalomanana hingegen sprach im Laufe der immer härter werdenden Auseinandersetzung von Einheit und beschwor geradezu den Aspekt fihavanana . Er hat damit ein Kernelement der madagassischen Kultur angesprochen, und letztendlich waren seine Hinweise auf diese traditionelle Idee durchaus mit ausschlaggebend für seine Wahl zum Präsidenten.

Kurz gesagt, bedeutet fihavanana eine Partizipation, die allumfassend ist, sowohl den Menschen als auch den Kosmos miteinbezieht. Die globale Anlage von fihavanana verweist darüber hinaus auf ihren integrativen Charakter, den sich in der familiären solidarischen Verbundenheit der Madagassen offenbart. Dass es sich bei fihavanana weder um eine hohle Floskel noch um eine „veraltete“ Idee handelt, konnte ich selbst bei meinem Aufenthalt in Madagaskar feststellen. Über mehrere Monate lebte ich bei einer Familie in einem kleinen Dorf im Hochland. Mit der Zeit lernte ich neben den weiteren Familienmitgliedern und den Dorfbewohnern viele andere Personen kennen. Die Mehrzahl von ihnen wurde mir als „Cousin“ und „Cousine“, also als Verwandte, havana, vorgestellt - es waren aber eindeutig zu viele, als dass sie noch in den Bereich Verwandtschaft, so wie wir es kennen, fallen konnten... Ich ging davon aus, dass man mich nicht unbedingt mit den präzisen Verwandtschaftstermini belasten wollte (wofür ich insgeheim dankbar war, da ich mich nie mit „Kreuzcousinen“ und Ähnlichem anfreunden konnte) und erhielt schließlich die Antwort, dass einige der mir vorgestellten Personen durchaus havana, also Verwandte, seien, aber alle seien "Verwandte" im Sinne von fihavanana .

Anders als bei uns definiert sich Verwandtschaft in Madagaskar nicht nur im Zusammenhang mit Biologie. Neben dem biologischen Sachverhalt existieren vor allem eine philosophische Sichtweise und ein sozialer Kontext, die beide ausschlaggebend dafür sind, ob man sich mit seinem Gegenüber verwandt fühlt, oder nicht. Mit anderen Worten: Es gibt eine „Idee von Verwandtschaft“, die aber bestimmten Gesetzmäßigkeiten wie der angesprochen Partizipation unterliegt und sich im Konzept von fihavanana ausdrückt.

Die verwandtschaftliche Sichtweise drückt sich vor allem durch ein "Sicheinsfühlen" mit einem anderen Menschen aus. Hierbei geht es um mehr als nur darum, Sympathie füreinander zu empfinden, denn diese gehört in den Bereich der Gefühlswelt, und Gefühle können sich ändern. Das Empfinden von Einheit im madagassischen Sinne beruht auf einer reellen "Gabe". Diese besteht darin, dass ein oder mehrere Personen teilhaben an demselben Lebensstrom – aina. Am deutlichsten ist dies bei Eltern und ihren Kindern: Die aina der Eltern konstituiert das Leben, das "Dasein" des Kindes. Beide, Eltern und Kinder, bilden eine unauflösbare Einheit, sie haben teil an demselben Lebensstrom, und diese Teilhabe begründet das Besondere ihrer Beziehung.

An ein und demselben Lebensstrom können aber auch Individuen partizipieren, die sich nicht kennen. Stellen zwei Menschen fest, dass ihre Familien von einem spezifischen Ahnen abstammen, so haben beide Anteil an der aina des gemeinsamen Ahnen. Beide Individuen bilden aufgrund dieses Wissens fortan eine Einheit, die an die Ebene des Seins anknüpft. Hier zeigt sich das afrikanische Bewusstsein: Körper und Seele sind untrennbar miteinander verbunden. Das bedeutet auch, dass die Welt als Ganzes erfahren werden will, und dabei spielt das soziale Umfeld und wie man sich diesem gegenüber verhält, eine wesentliche Rolle.

Auch wenn man nicht Anteil an der aina seines Gegenübers hat, so partizipiert der Einzelne doch am Leben anderer, indem er ihre Sorgen und Freuden teilt. Es reicht aber nicht aus, dies nur auf verbale Art zu tun, sondern die Partizipation drückt sich in einer aktiven, bestätigenden Teilnahme aus. Indem er Dorfversammlungen, Riten und Feierlichkeiten mit organisiert, anwesend ist und seine Meinung zum Ausdruck bringt, zeigt der Einzelne, dass er Teil des Ganzen, der Gemeinschaft, ist. Das Individuum ist Teil eines Organismus, der aus Familie, Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft besteht, aber jeder wird für sein Handeln als verantwortlich angesehen – „chacun à sa tête“ – und es soll nicht zum Nachteil anderer sein.

Das Konzept von fihavanana regelt daher auch das Verhalten von Individuen untereinander, denn es beinhaltet einen "Katalog" von Regeln und Pflichten, die mit den Beziehungen, die man miteinander pflegt, verbunden sind. Diese Regeln und Pflichten werden als ein von den Ahnen überlieferter Wert angesehen. Erkennt man diese an und richtet sich nach ihnen, zeigt man seine ethische Gesinnung, da es ein der Tradition gemäßes Verhalten ist.

fihavanana bezieht sich auf eine moralische und soziale, in Harmonie miteinander lebende Gemeinschaft überhaupt, dieser Gedanke ist die „l’âme profonde du peuple malgache“ (Henri Rasamoelina), er ist die Achse, um die sich das Leben eines Madagassen dreht. Ein wesentlicher Aspekt des "Regeln-und-Pflichten-Katalogs" ist daher die gegenseitige Hilfeleistung und Unterstützung in Bezug auf die unterschiedlichsten Umstände. Findet eine große Familienfeierlichkeit statt, so kommt nicht nur die ausrichtende Familie für die Kosten auf, sondern auch die Verwandten. Auf diese Weise ist der finanzielle Aufwand für den Einzelnen nicht so groß. Umgekehrt gilt aber auch, dass materielle Profite miteinander geteilt werden. So entsteht ein ausgewogenes Verhältnis von Gewinn und Verlust. Das System von Geben und Nehmen, welches fihavanana beinhaltet, ist aber nicht unbedingt im materiellen Sinne zu verstehen. Als Europäer, geprägt durch ein kapitalistisches "Werte"-System, denkt man vielleicht an einen potenziellen Lottogewinn, den man entsprechend diesem Prinzip gleichmäßig unter seinen Nächsten aufteilen müsste. Darum geht es nicht. Aber angenommen, den Lottogewinn gäbe es wirklich: So würde zum Beispiel der Gewinner seine Verantwortung für die Dorfgemeinschaft ausdrückendadurch aus, dass er von einem Teil seines Gewinns eine für alle zugängliche Wasserpumpe bauen lassen würde. Die Dorfbewohner wiederum würden sich in Form von regelmäßigen Besuchen für seine Gabe erkenntlich zeigen.

In einer Gesellschaft, in der harmonisch geprägte Beziehungen (noch!) einen hohen Wert haben, ist es durchaus möglich, auf eine materielle Gabe mit einer Gabe sozialer Form zu antworten. Man gibt etwas, wenn man kann - will man sich aber der Hilfe entziehen, sollte man gute Gründe für seine Entlastung angeben. Es ist also nicht die Gabe selbst, die verpflichtend ist, sondern das Wertesystem fihavanana , das, wie gerade beschrieben, sehr flexibel angelegt ist. Wesentlich ist, dass durch die gegenseitige Unterstützung und Hilfe, gleich welche Form sie nun annimmt, die Nähe und Solidarität dem Gegenüber, und damit der kulturelle Wert von fihavanana , bestätigt wird. So überrascht es nicht, dass der jetzige Präsident in seinen Wahlkampfreden großen Zuspruch von der Bevölkerung erhielt. Seine Betonung von fihavanana und die daraus resultierende Einheit der Madagassen hat durchaus mit dazu beigetragen, dass die monatelangen Demonstrationen für seine Wahlanerkennung friedlich verliefen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008