HERDER UND DIE WELTKULTUREN

Johann Gottfried Herder starb vor 200 Jahren

Von Dieter Kramer

Herder und die Weltkulturen
J.G.Herder nach einem Gemälde von Anton Graff 1785

In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal der Todestag von Herder. Er starb mit 59 Jahren in Weimar - am 18. Dezember 1803 nach einem Vierteljahrhundert der Tätigkeit als Schriftsteller, Theologe und Philosoph. Nach Weimar hatte ihn 1776 Goethe geholt. Hier zählte Herder zu den wichtigsten Persönlichkeiten der örtlichen Intellektuellenszene. Deren Rolle für die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte kann kaum überschätzt werden, und es lohnt, sich ihrer zu erinnern.

„Auf wen wäre jetzt wohl noch Rücksicht zu nehmen!?“ So brachte der Schriftsteller Arno Schmidt Herders Haltung auf den Punkt während jener Seereise nach Nantes, die für den 25jährigen die Flucht aus den unerträglichen Lebensverhältnissen als Domschulprediger in Riga bedeutete. Auf dem Schiff, fernab von Büchern und Bibliotheken, schrieb er seine berühmte Programmschrift für ein neues Verständnis von der Vielfalt der Kulturen. Diese ist Ausgangspunkt für viele seiner späteren Überlegungen. Als Aufklärer und Prediger der Humanität wird er ein konsequenter Verteidiger der kulturellen Vielfalt. Und ist damit auch geistiger Vater der Ethnologie, auf den sich das Frankfurter Museum der Weltkulturen mit seinem aktuellen Bildungsauftrag berufen kann. Denn auch das Museum der Weltkulturen steht konsequent für die Anerkennung und Vermittlung kultureller Vielfalt.

An Herder anzuknüpfen ist nicht wegen seiner Romantisierung der "Wilden", die etwa in folgenden Worten erkennbar wird und dem Diskurs der damaligen Wissenschaften entspricht: "Nicht Krieg also, sondern Friede ist der Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts...Seht jene wilden Stämme an, wie unwild sie unter sich leben! Da neidet keiner den andern, da erwirbt sich und genießt jeder das Seine in Frieden. Es ist gegen die Wahrheit der Geschichte, wenn man den bösartigen, widersinnigen Charakter zusammengedrängter Menschen, wetteifernder Künstler, streitender Politiker, neidischer Gelehrter zu allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Geschlechts macht." (aus: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit).

Diese Idealisierungen Herders dient vor allem der Kritik an den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen, und sollte nicht als zuverlässige Beschreibung fremder Lebensformen missverstanden werden.

Interessanter dagegen sind Herders Verweise auf die Vielfalt in der Einheit: "Da die große Mutter auf unserer Erde kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch mochte - so war kein anderes Mittel, als dass sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen.... Unser Erdball ist eine große Werkstätte zur Organisation sehr verschiedenartiger Wesen", lautet die Überschrift des 6. Abschnittes im ersten Buch der "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Gleichwohl gilt, trotz aller Mannigfaltigkeit: "Jeder liebt sein Land, seine Sitten, seine Sprache, sein Weib, seine Kinder, nicht weil sie die besten auf der Welt, sondern weil sie die bewährten Seinigen sind und er in ihnen sich und seine Mühe selbst liebt."

In dieser notwendigen Konzentration auf die Seinen öffnet sich das Dilemma nicht nur des Herder’schen Denkens, sondern der ständig neu zu vermittelnden Balance zwischen Vielfalt und Einheit. Auch die Thesen, die von der Vereinigung der amerikanischen Anthropologen 1947 in die Menschenrechtsdiskussion der Vereinten Nationen eingebracht wurden, argumentieren ähnlich.

Die Menschengattung wird von Herder als Einheit gedacht. Zwar ist jeder Mensch prinzipiell zu Verschiedenstem fähig, aber Geographie und Klima bewirken, dass von den Möglichkeiten nur einige wenige realisiert werden können. Die allen Menschen prinzipiell möglichen Lebensformen werden geprägt durch Zeit und Ort: "Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfniß, Welt, Schicksal Anlaß gibt" (Aus: Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774). Auf diese Weise entsteht nach Herder die Verschiedenheit der Völker.

Kaum eine Formulierung taucht bei Herder so oft auf wie die von Zeit und Klima. Sie ist für sein Verständnis von kultureller Vielfalt von zentraler Bedeutung. Sie definiert eine ausgeprägt dynamische Vorstellung von Kultur und Ethnizität samt allen damit zusammenhängenden Begriffen wie Stamm, Volk, Nation. Allerdings wurden Herders Ideen oft missverstanden. Aus der Formulierung "... jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!" leiten manche Interpreten ab, Herder habe ein Konzept vertreten, in dem Kulturen oder Nationen in sich geschlossene, voneinander abgeschottete Einheiten bilden. Kulturen sind für Herder jedoch historische, sich stets verändernde und untereinander in Verbindung stehende Gebilde. Mit der Betonung von Zeit und Schicksal vertritt er damit eindeutig einen dynamischen Kulturbegriff.

Die Anerkennung der Pluralität der Kulturen bezieht alle „Völker des Erdbodens“ ein. So Herder fordert für seine Zeit, dass die außereuropäischen Fremden nicht nur durch „Fratzenkupferstiche“ wahrgenommen werden, sondern in ihren eigenen Äußerungen: Dann „...muß man sich nicht bloß um Nase, Gestalt und unwesentliche Stücke der äußern Lebensart der Wilden oder Halbwilden bekümmern! Nicht bloß reden, was ihr Land bringt, und wie sie noch besser unterjocht, genutzt, gequält, gehandhabt und verdorben werden können: nicht reden bloß von dem, was sie nicht sind – Menschen wie wir! Polizierte Nationen!! Und Christen!!! – sondern was sie sind? Uns treues Abbild ihrer Denkart, Empfindungen, Seelengestalt, Sprache nicht durch fremdes Gewäsch, wie jedem durchjagenden Europäernarren etwa der Kopf steht, sondern in eignen treuen Merkmalen und Proben“: Das ist das Programm von Herders weltberühmter Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“.

Herder verteidigt die kulturelle Authentizität jedes Zeitalters gegen den Stolz und die Arroganz der Aufklärer seiner Zeit. Der Plural Kulturen ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Sein Lehrer und Zeitgenosse Immanuel Kant dagegen spricht von Kultur nur im Singular. Mit dem Pluralismus von Herder und dem universalistischen Anspruch von Kant streiten zwei Konzepte der Aufklärung miteinander.

Herder ist ein Denker, der die Vielfalt menschlicher kultureller Formen in ein aufklärerisch-humanistisches Konzept integriert. Kulturelle Vielfalt stellt er damit nicht – wie zu seiner Zeit üblich - zur Disposition eines nur gewalttätig zu realisierenden evolutionistischen Universalismus. Herder ist mit seiner Weltsicht wieder anregend geworden in einer Zeit, in der zwischen dem Universalismus der "Moderne" und einer Aufwertung der Vielfalt von Kulturen vermittelt werden muss.

Heute werden mit Bezug auf die kleinen Gemeinschaften regionale Kräfte parallel zur Globalisierung aufgewertet. Und kulturell ereignet sich das genaue Gegenteil von Universalisierung: Nicht-abendländische Kulturmuster haben außerordentlich an Bedeutung gewonnen. Der Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung hat ausführlich begründet, weshalb angesichts der "Unwägbarkeiten der Zukunft" kulturelle Vielfalt eine unverzichtbare Ressource ist. So betont auch das von Kofi Annann herausgegebene Manifest "Brücken in die Zukunft" die kulturelle Dimension der globalen Entwicklung.

Es besteht ein Bedarf für ein humanes Miteinander, auch wenn das letzte Ziel oft unerreichbar scheint. Die vielzitierten Wege zur Humanität bleiben als Aufforderung relevant, wenn es um Zukunftsfähigkeit geht. Dazu müssen sich die vielen Kulturen bei weiterhin bestehenden Unterschieden, aber wechselseitig zugestandener Veränderungsfähigkeit, zusammenfinden. Das sind Gedanken und Forderungen, die Herder bereits im 18. Jahrhundert – zur Zeit der Aufklärung – formulierte und heute noch von aktueller Bedeutung sind.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008