MEDIZIN UND GLOBALISIERUNG

Warum sich zwischen "traditioneller" und "moderner" Medizin nicht sinnvoll unterscheiden lässt

Von Stefan Ecks und Oliver Razum

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Homöopathie in Indien. Foto: Stefan Ecks

Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass sich "traditionelle" und "moderne" Medizin klar voneinander unterscheiden lassen. Als die einzige wahrhaft "moderne" Medizin gilt die westliche Schulmedizin. Demgegenüber gelten alle Formen des Heilens als "traditionell", die zwar auf eine lange Geschichte zurückblicken können, aber nie die wissenschaftliche Fundiertheit und globale Ausweitung erreichen konnten. "Traditionell" und "modern" sind Begriffe, die das Heilen nicht nur in einen temporalen Bezugsrahmen setzen, sondern auch Urteile über Rationalität und über geographische Verankerung fällen: "Traditionell" ist meistens die "unwissenschaftliche" Medizin anderer Länder und Kulturen, "modern" ist die wissenschaftliche Schulmedizin des eigenen Landes, der eigenen Kultur.

Sofern diese Unterscheidungen nicht immer schon höchst fragwürdig waren, so werden sie gerade im Zuge der Globalisierung oft auf den Kopf gestellt. Unser Beitrag möchte Argumente dafür liefern, dass globale Wandlungen der Medizin nicht mehr mit Stichworten wie "traditionell" und "modern" beschreibbar sind.


Die Globalisierung und ihre Konsequenzen

Von der amerikanischen Filmdiva Joan Crawford stammt der Satz: "The only thing worse than being talked about is not being talked about." (Das Einzige, was noch schlimmer ist, als wenn über einen getratscht wird, ist, wenn niemand über einen tratscht.) Hinsichtlich der fundamentalen Veränderungen, die durch die Globalisierung hervorgerufen werden, stellt der Wirtschaftswissenschaftler R. C. Epping (2001) Ähnliches fest: "The only thing worse than opening up your economy to the world is not opening up." (Das Einzige, was noch schlimmer ist, als die eigene Wirtschaft der Welt zu öffnen, ist, sie nicht zu öffnen.) Was für die Globalisierung der Wirtschaft behauptet wird, würden viele auch über die Globalisierung der Schulmedizin sagen: Es gäbe nichts Schlimmeres, als dass die Schulmedizin zu einer globalen Monokultur des Heilens wird – außer, dass die Schulmedizin nicht zu einer weltweiten Monokultur würde. Was ist von solchen Aussagen zu halten?

Unter dem Schlagwort "Globalisierung" wird heute vor allem die stark zunehmende transnationale Verflechtung von Produkt-, Dienstleistungs- und Finanzmärkten bezeichnet. Dramatisch verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zwischen weit voneinander entfernten Orten ermöglichen eine nie da gewesene Loslösung der Wirtschaft von lokalen, regionalen oder nationalen Beschränkungen. Die Gegner solcher wirtschaftlicher Globalisierung weisen darauf hin, dass die Ausweitung des Welthandels viele Menschen in noch tiefere Armut stürzt. Transnationale Konzerne werden beschuldigt, in ärmeren Ländern lokale Strukturen zu zerstören, Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen auszubeuten. Gleichzeitig verlieren viele Menschen in den reichen Wirtschaftsnationen ihre Arbeit, weil Arbeitskraft in anderen Ländern billiger zu haben ist. Andererseits gibt es auch Hinweise darauf, dass wirtschaftliche Globalisierung insgesamt zu einer Abnahme von Armut und Hunger führen kann, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden und dass der globale Transfer von Kapital, Arbeitskraft und Know-how für den größten Teil der Menschen von Vorteil ist.

In der Debatte über die Konsequenzen der Globalisierung lassen sich drei Argumente grob unterscheiden: Zum einen wird unter dem Schlagwort der "McDonaldisierung" argumentiert, dass Globalisierung in erster Linie ein Prozess der Homogenisierung darstellt. Das Globale ist dabei aktiv, das Lokale passiv. Zum anderen wird spätestens seit dem 11. September 2001 Globalisierung als Polarisierung der Welt beschrieben, wobei ein sich aggressiv ausbreitender Kapitalismus US-europäischer Prägung aggressive Reaktionen verschiedenster Gegner hervorruft. Innerhalb der westlichen Gesellschaften wird diese Reaktion von Protestbewegungen wie Attac repräsentiert. Außerhalb der westlichen Industrienationen wird besonders ein angeblich mit dem Islam assoziierter Terrorismus als Widerstand gegen Globalisierung gedeutet. Theorien zur Heterogenisierung durch Globalisierung unterstreichen dagegen, dass eine klare Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht mehr möglich ist. Das Globale und das Lokale seien inzwischen in so komplexer Weise miteinander verschränkt, dass sowohl Homogenisierung als auch Polarisierung als ideologische Reduktion erscheinen müssen.

Parallelen bei der Schulmedizin?

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Homöopathie in Indien. Foto: Stefan Ecks

Die Argumente für oder gegen wirtschaftliche Globalisierung lassen sich nicht direkt auf Prozesse medizinischer Globalisierung übertragen. Gesundheit ist zwar auch ein "Gut", aber keines, das von einer Person oder Population zu einer anderen transferiert werden könnte. Dennoch lohnt es sich, Parallelen aufzuspüren: Führt die Verdrängung lokaler Heilmethoden nicht auch für viele zu einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung? Vertieft die Schulmedizin soziale Ungleichheiten? Beuten Pharmakonzerne lokales Heilwissen und lokale Pflanzenbestände aus? Ist die Migration hoch qualifizierter Ärzte aus Ländern der Dritten Welt in Richtung Westeuropa und die USA als ausbeuterischer Braindrain zu sehen?

Gleichzeitig sind die positiven Seiten schulmedizinischer Globalisierung kaum zu bestreiten: Die Schulmedizin verhindert viele Krankheiten oder lindert zumindest ihre Folgen, und sie reduziert vorzeitige Sterblichkeit. Bei aller Kritik an der Schulmedizin auch im Lager der Globalisierungsgegner ist es kein Zufall, dass dabei meistens Fragen der gerechten Verteilung im Vordergrund stehen. Bei den jüngsten Ministerverhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancun im September 2003 ging es typischerweise nicht darum, ob schulmedizinische Medikamente (zum Beispiel zur Behandlung von Aids) aus Ländern der Dritten Welt verbannt werden sollten, sondern ob diese Medikamente lokal billiger produziert werden dürfen oder nicht.

Wenn die Begriffe der Homogenisierung, Polarisierung und Heterogenisierung auf die Ausweitung der Schulmedizin übertragen werden, welches Bild ergäbe sich? Beim Blick in die Geschichte der Schulmedizin wird zunächst deutlich, dass sich alle drei Typen der Globalisierung zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten finden lassen: Die Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnte als zentrale Episode der Homogenisierung gelten. Zahllose Protestbewegungen gegen medizinische Interventionen können als Beispiele für Polarisierungsprozesse angeführt werden. Ein Beispiel ist der lokale Widerstand gegen die Kampagne zur Ausrottung der Pocken während der 1970er-Jahre, die an vielen Orten nur mit Zwang vollendet werden konnte (Greenough 1995).

Während sich Homogenisierung und Polarisierung noch relativ deutlich zeigen, bleibt die Heterogenisierung der Schulmedizin durch Globalisierung ein schwierig zu fassender Prozess. Zum einen würden wahrscheinlich nur sehr wenig Schulmediziner ihre eigene Berufspraxis als in irgendeiner Form "heterogenisiert" auffassen. Zum anderen werden gerade die Berufsverbände der Ärzte oft als Prototyp einer sowohl national als auch international erfolgreichen Homogenisierung zitiert. Kaum eine andere Profession hat es verstanden, auf globaler Ebene in solchem Ausmaß die Anerkennung und Unterstützung durch staatliche Behörden zu erreichen. Die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Schulmedizin macht sie zu einer culture of no culture , das heißt zu einer Subkultur, die ihre eigene kulturelle Gebundenheit kategorisch bestreitet. Kaum eine andere hoch qualifizierte Profession erlaubt es denjenigen, die sie praktizieren, nationale Grenzen zu überwinden – so erscheint es zumindest auf den ersten Blick.

Homogenität – oder doch Heterogenität?

Wer aus einem afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Land zum Medizinstudium nach Deutschland kommt, dem wird implizit vermittelt, dass die Schulmedizin die einzige anerkannte und respektierte Medizin in Deutschland sei. Alle anderen Heilmethoden seien von marginaler Bedeutung, einerseits wegen ihrer „unwissenschaftlichen“ Grundlagen, andererseits wegen der uneingeschränkten Vorherrschaft schulmedizinischer Verfahren in der täglichen Heilpraxis. Die Schulmedizin sei das einzige Medizinsystem, das lokale und nationale Grenzen überschreite; die Schulmedizin sei die einzig existierende global gültige und global praktizierte Medizin. Nicht zuletzt die Tatsache, dass ausländische Studierende nach Deutschland kommen und hinterher ihr hier erworbenes Wissen unmittelbar in ihren Heimatländern umsetzen sollen, wird implizit als Beweis für die Existenz einer globalen schulmedizinischen Einheitskultur verstanden. Trifft dies zu? Hat die Globalisierung bereits zu einer weltweiten schulmedizinischen Monokultur geführt?

Wir meinen: nein. Globalisierung bedeutet nicht notwendigerweise auch die globale Monopolisierung des Heilens durch die Schulmedizin und damit die Verdrängung "traditioneller" Heilverfahren. Als Beleg möchten wir hier den lebhaften gegenseitigen Austausch zwischen den medizinischen Systemen Deutschlands und Indiens anführen. Eines der traditionellen Medizinsysteme Indiens, der Ayurveda, gewann in den 1990er-Jahren zunehmende Bedeutung in Deutschland. Schon in dieser frühen Phase der Globalisierung durchlief Ayurveda viele Veränderungen, aber die Grundideen blieben zweifellos bestehen (Frank 2002). Die wachsende Bedeutung von Ayurveda ist exemplarisch für einen lebendigen Medizinpluralismus in Deutschland – neben Ayurveda könnten dabei noch viele andere Heilverfahren erwähnt werden, wie Akupunktur, chinesische Medizin oder Reiki. Aus Sicht der Ayurveda-Heiler ist ihr diagnostisches und therapeutisches Repertoire von der gleichen globalen Gültigkeit wie das der Schulmediziner.

Umgekehrt ist die Schulmedizin keineswegs die einzige „westliche“ Medizin, die globale Verbreitung gefunden hat - das trifft zum Beispiel auch für die Homöopathie zu. Sie gilt den meisten deutschen Schulmedizinern als eine Pseudowissenschaft, die seit ihrer Gründung im späten 18. Jahrhundert einer marginalen Position nie entkommen konnte. Die Dimensionen der globalen Ausbreitung der Homöopathie sind in Deutschland fast unbekannt. Speziell in Indien wird die Homöopathie schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert und hat dort eine weitaus größere Verbreitung gefunden als in ihrem Ursprungsland (Ecks 2003; Frank 2002). In vielen Regionen Indiens hat sich die Homöopathie als die zweitwichtigste medizinische Disziplin nach der Schulmedizin etablieren können. Nach letzten Zählungen des indischen Gesundheitsministeriums (1999) gibt es in Indien knapp 190.000 registrierte Homöopathen. Im Bundesstaat West-Bengalen praktizieren mehr als 36.000 davon – im Vergleich dazu gibt es in diesem Bundesstaat nur knapp 2.500 registrierte Ayurveda-Heiler. Die bengalische Metropole Kalkutta gilt als "Welthauptstadt" der Homöopathie. In Anerkennung ihrer großen Bedeutung wird die Homöopathie seit den 1970er-Jahren als eines der "Indian Systems of Medicine" offiziell vom Staat gefördert.

Anhand dieser und ähnlicher Beispiele zeigt sich, dass medizinische Globalisierung nicht mit einer schulmedizinischen Globalisierung oder Monopolisierung gleichzusetzen ist. Nicht nur bestehen weiterhin große nationale Unterschiede in der medizinischen Praxis. Man kann vielmehr sogar von einer Heterogenisierung der Schulmedizin durch Globalisierung sprechen. Möglicherweise kann schon die Anerkennung der Bedeutung "traditioneller" Medizin in der medizinischen Grundversorgung in Entwicklungsländern durch die WHO seit den 1970er-Jahren als eine erste Phase einer solchen schulmedizinischen Heterogenisierung interpretiert werden. Noch signifikanter sind aber wachsende Hinweise darauf, dass es vor allem ausgebildete Schulmediziner sind, die den Aufschwung alternativer Verfahren in Deutschland und anderen Ländern Europas tragen (Schepers & Hermans 1999). Die staatliche Regulation alternativer Medizin, insbesondere durch Auflagen, die den Praktizierenden zunächst ein schulmedizinisches Studium vorschreiben, könnte sich als stärkste Triebkraft einer Heterogenisierung der Schulmedizin erweisen. Wahrscheinlich treffen ausländische Studierende der Medizin in Deutschland auf mehr Vertreter "exotischer" Heilverfahren als in ihren Herkunftsländern! So bleibt als Schlussfolgerung, dass sich im Rahmen der Globalisierung die Schulmedizin zwar in der ganzen Welt ausgebreitet hat. Gleichzeitig aber haben auch Medizinsysteme anderer Länder ihren Weg in die Industrienationen gefunden und sind in das hiesige schulmedizinische System integriert worden. Die Unterscheidung zwischen "moderner" und "traditioneller" Medizin erscheint deshalb als ein überholtes Konzept, das wenig zum Verständnis globaler Wandlungen beiträgt und vielleicht am besten ganz aufgegeben werden sollte.

Weiterführende Literatur

Ecks, S. 2003. Digesting Modernity: Body, Illness and Medicine in Kolkata (Calcutta). Ph.D. Thesis, Dept. of Anthropology, London School of Economics and Political Sciences, University of London
Epping, R.C. 2001. A beginner's guide to the world economy. New York: Vintage Books
Greenough, Paul R. 1995. "Intimidation, Coercion, and Resistance in the Final Stages of the South Asian Smallpox Eradication Campaign, 1973-1975." Social Science and Medicine 41(5): 633-645
Frank, R. 2002. Globalisierung und Kontextualisierung heterodoxer Medizin. Homöoopathie und Ayurveda in Deutschland und Indien. Diss. rer. soc., Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld
Schepers, R.M.J., Hermans, H.E.G.M. (1999) "The medical profession and alternative medicine in the Netherlands: its history and recent developments." Social Science & Medicine 48: 343-351

Zu den Autoren

Dr. Stefan Ecks ist Ethnologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südasien-Institut, Universität Heidelberg. Feldforschung von Juni 1999 bis Dezember 2000 in Kalkutta (Indien) über medizinischen Pluralismus und die Folgen von Modernisierungsprozessen.
PD Dr. Oliver Razum ist Arzt und arbeitet als Epidemiologe an der Abteilung für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen, Universität Heidelberg. Er war von 1989 bis 1993 in Simbabwe tätig.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008