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Kollektive Rituale der Ureinwohner Taiwans

Von Michael Rudolph

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Revitalisiertes kollektives Blutopfer bei den Taroko/Taiwan. Foto: Michael Rudolph

Im Frühjahr 2002 wurden der Norden und der Westen des sonst so regenreichen Taiwans von einer ungewohnt langen Dürreperiode heimgesucht: In dieser Zeit der allgemeinen Not sahen sich Taiwans Ureinwohner, die nicht einmal 2Prozent der zum größten Teil aus Han-Chinesen bestehenden Inselbevölkerung ausmachen, zum gemeinsamen Handeln verpflichtet: Am 17. Mai 2002 rief der der Zentralregierung unterstehende Council of Aboriginal Affairs die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Taiwans zum Abhalten traditioneller ‚Regenrituale’ auf. Selbst in jenen Teilen der Insel, die nicht von der Dürre betroffen waren, brachten Ureinwohner die seit vielen Jahrzehnten vergessenen und verschütteten Rituale wieder zur Aufführung.

Angesichts des Umstandes, dass heute über 80 Prozent der Ureinwohner Taiwans christianisiert sind, wirkten diese Rituale im für Hightech und modernste Hochhaus-Architektur bekannten Taiwan einigermaßen grotesk. Einige Monate zuvor war es in Hualian an der Ostküste anlässlich einer nicht abreißenden Serie von Unglücksfällen auf einem städtischen Sportplatz zu einer ähnlichen Initiative der Ureinwohner gekommen: Auf Bitten der Lokalregierung kehrten Ritualspezialisten mit Büscheln aus Ingwerblättern das gesamte Sportplatzgelände von unzufriedenen Geistern frei. Es wurde gesagt, sie hätten sich dort angesiedelt, als die chinesischen Han vor 100 Jahren die Region okkupierten. Trotz der leicht subversiven Untertöne beider Rituale – im Falle der Regenrituale etwa flehten die Ureinwohner übernatürliche Kräfte an, ihnen ihr erzwungenes Zusammenleben mit den Han noch einmal zu verzeihen und sie dennoch mit dem lang ersehnten Nass zu versorgen – wurde der Einsatz der Ureinwohner von den zuständigen Regierungsstellen reich belohnt.

Taiwan, als abtrünnige chinesische Provinz, war seit Beginn der 90er-Jahre zunehmend bemüht, sich von chinesischen Einflüssen fern zu halten, und sich als kulturell eigenständige Region zu behaupten. Dabei wurde das immer noch vorhandene Kulturgut der Ureinwohner prüfend gesichtet. Nach vier Jahrhunderten der Beherrschung des Landes durch äußere Mächte (Spanien, Holland, China, Japan sowie durch die nach 1945 mit Chiang Kai-shek auf die Insel geflüchteten 'Festländer') war dies keine leichte Aufgabe. Als die älteste Bevölkerungsgruppe Taiwans verkörperten allerdings gerade die Ureinwohner ein gewisses Maß an ‚Authentizität’ – eine Erkenntnis, die ihnen und ihren Kulturen in den nachfolgenden Jahren eine nie da gewesene Popularität und Unterstützung einbrachte. Hatten sie noch bis Ende der 80er-Jahre zu einer der am meisten verachteten Bevölkerungsgruppen gehört, wurden ihre kulturellen Traditionen nun einschließlich ihrer Sprachen und Rituale von Regierungsseite gefördert. Auch solche Traditionen, die aufgrund der Veränderung des Lebenszusammenhangs bereits lange aufgegeben oder vernachlässigt worden waren, gelangten in diesem Zuge zu neuer Bedeutung. Ein Beispiel hierfür ist die Wiederbelebung kollektiver Ahnengötter-Rituale bei den im Osten der Insel lebenden Taroko.

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Theatrales Kopfjagdritual bei den Taroko/Taiwan. Foto: Michael Rudolph

Aufgrund der engen Beziehung zur einst von den Ahnengöttern geforderten Kopfjagd waren kollektive Ahnengötter-Rituale bereits während der japanischen Kolonialherrschaft verboten worden. Nach der Kapitulation der Japaner 1945 machte die Ausbreitung des Christentums in den Berggebieten eine Revitalisierung dieser Rituale unmöglich, sodass die Taroko – genauso wie übrigens die Atayal, die als zweitgrößte Ureinwohner-Ethnie staatliche Anerkennung genießen – bis Ende der 90er-Jahre keine kollektiven Rituale mehr besaßen.

Ein Zusammenschluss lokaler Politiker und Bildungseliten sorgte schließlich dafür, dass 1999 wieder ein kollektives und sogar stammesübergreifendes Ahnengötter-Ritual mit der Unterstützung lokaler Regierungsstellen abgehalten werden konnte – eine Praxis, die von nun an jährlich wiederholt werden sollte. Das Argument dabei lautete, dass die meisten anderen Ethnien solche kollektiven Jahresrituale besäßen. Das revitalisierte Ritual selber bestand aus traditionellen wie aus neuen Elementen. Sein wichtigstes Merkmal war, dass einzelne mit dem traditionellen Ritual im Zusammenhang stehende Sequenzen, die einst mehrere Tage lang gedauert hatten, wie in einem Zeitraffer zu einer Stunde zusammengefasst worden waren. Zentrales Element war dabei das Blutopfer vor der Jagd: Ein Huhn ließ man nach einem Kehlschnitt lebend ausbluten, danach wurde das Blut, das der traditionellen Vorstellung gemäß überirdische Kraft enthält und zukünftigen Sieg und Erfolg symbolisiert, auf Waffen und andere Gegenstände gestrichen. Dieses Ahnengötter-Ritual wurde bis 2001 dreimal bei stammesübergreifenden Festen aufgeführt, danach wurde es von anderen Formen kollektiver Rituale – zum Beispiel eher theatralischen Aufführungen von Kopfjagdritualen oder auch Hochzeitsritualen, die von kirchlichen Eliten inszeniert wurden - verdrängt.

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Taroko-Kinder mit aufgeklebter Tätowierung. Foto: Michael Rudolph

Wichtig für das Verständnis der Aufgabe kollektiver Ahnengötter-Opfer ist hier, dass solche Opfer im privaten Familienzusammenhang heute immer noch durchgeführt werden. Anlass für diese privaten Rituale ist im Allgemeinen der Wunsch nach einer Mehrung physischer Kraft oder nach einer Versöhnung mit den Ahnengöttern, die - unabhängig vom Christentum - für die meisten Taroko nach wie vor eine Rolle spielen. Das kollektive Abhalten solcher Rituale war bei den Taroko allerdings schon lange nicht mehr üblich, unter anderem auch deshalb nicht, weil die heute nach den Umsiedlungskampagnen der Japaner in zusammengewürfelten Stämmen lebenden Taroko gar nicht mehr auf gemeinsame Ahnengötter zurückgreifen konnten.

Besonders vonseiten der überzeugteren Anhänger der christlichen Religion wurde die Revitalisierung der Ahnenopfer-Rituale heftig kritisiert. Ihre Hauptsorge war, dass weniger gefestigte Mitglieder der christlichen Gemeinschaft auf religiöse Abwege geraten könnten. Bei zwei Aufführungen ergriff ein christlicher Geistlicher sogar die Initiative und fungierte als Ritualleiter, der während des Blutopfers wenig missverständlich auf christliche Weise zu Gott betete und dem Ritual so eine von den Veranstaltern nicht intendierte Rahmung verschaffte.

Sowohl bei den Blutopfern als auch bei den theatralischen Ritualen waren immer Elemente vorhanden, die eine deutliche Abgrenzung der Ureinwohner gegenüber der Han-Kultur zum Ausdruck brachten. Während der Blutopfer etwa wurde in einem Falle rohe Schweineleber, deren ritueller Verzehr bei den Taroko eine lebendige Tradition darstellt, auch an eingeladene Han-Zuschauer verteilt, die in dieser Situation mit denkbar großer Verlegenheit reagierten, weil sie Schweineleber nicht essen. Im Falle der Kopfjagd- und Hochzeitsrituale dagegen wurde explizit auf die mutige und glorreiche Vergangenheit der Taroko sowie auf ihren großen Solidaritäts- und Kollektivsinn oder auch auf die Schönheit der aufgemalten (von den Han einst diskriminierten) Gesichtstätowierungen hingewiesen.

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Jährliches Erntefest bei den Ami/Taiwan. Foto: Michael Rudolph

Ähnlich ist es auch bei den zeitgenössischen kollektiven Ritualen der Ami, einer zweiten Ureinwohnergruppe. Anders als offiziell propagiert, stellen die so genannten ‚Jahreserntefeste’ der Ami keine ‚ungebrochene’ Tradition dar, auch wenn traditionelle Elemente wie etwa die Verehrung überirdischer Mächte oder auch der gemeinsame Tanz und Gesang nach wie vor in den Ritualen enthalten sind. Wie das Erntefest in Taibalang – einem der größten Ami-Stämme an Taiwans Ostküste – zeigt, hat sich der Inhalt heute stark an die Erfordernisse der christlichen und modernen Lebenswelt der Ami angepasst. So werden bei der formal ‚traditionell’ gestalteten Ahnenehrung tatsächlich nicht wie einst Ahnengötter, sondern der Gott der Christen verehrt, und beim rituellen Tanz und Gesang sind heute - anders als früher - Frauen nicht nur zugelassen, sondern sogar in der Mehrzahl.

Im Zeichen des ganz-taiwanesischen Nativismus erstarken heute allerdings auch wieder alternative Kultur- und Religionsvorstellungen, die wie bei den Taroko auch bei den Ami parallel zum Christentum noch latent vorhanden sind. Lokalpolitiker unterschiedlicher Couleur versuchen diese Ambivalenz durch besondere Akzentuierung der rituellen Symbole für ihre Zwecke zu nutzen. So ging einem Fest zur Ahnenverehrung, das 2003 von offiziellen christlichen Eliten in Zusammenarbeit mit einem Lokalpolitiker organisiert wurde, eine von einem oppositionellen Lokalpolitiker initiierte schamanische Ahnengötterverehrung voraus. Dadurch wurde die Veranstaltung nicht nur in ein neues Licht gesetzt, sondern es wurden auch Diskussionen in Gang gebracht über das richtige Verhältnis von Tradition und Religion.

So fragt man sich heute, ob der Erhalt und die Revitalisierung authentischer Ami-Kultur nicht eventuell auch die Erschließung von Tourismus-Ressourcen erleichtern könnten. Denn bei wachsender Konkurrenz von Gastarbeitern aus Südostasien werden immer mehr Ureinwohner in die Stämme zurückgedrängt. Zudem hat sich die Bedeutung des Christentums, das jahrzehntelang als wichtige moralische und psychische Stütze gegenüber der Han-Gesellschaft diente, deutlich verringert, da sich heute auch die indigenen Traditionen immer mehr wieder zur Unterstützung eines positiven kulturellen Selbstverständnisses anbieten. Wie im Falle der Taroko-Rituale wird auch bei den Erntefesten der Ami auf eine Reihe von positiven Tugenden hingewiesen, die die Ami von den Han unterscheiden. Hierzu zählen neben Solidarität und Gemeinsinn besonders Disziplin und Ordnung – herausstehende Charakteristika des stark hierarchisch strukturierten Gesellschaftssystems der Ami, die heute besonders noch während der Erntefeste zum Tragen kommen.

Die hier in Taiwan gewonnenen Erkenntnisse deuten auf die wichtige Rolle hin, die Rituale nicht nur bei der Artikulation, sondern auch bei der Bildung soziokultureller Identität spielen können. Wie wir gesehen haben, wird Identität in den geschilderten Beispielen auf mehreren Ebenen verhandelt. Individuen mit zum Teil sehr unterschiedlichen kulturellen, religiösen, parteipolitischen oder auch geschlechterspezifischen Zuordnungen versuchen sich im Rahmen dieser ‚Events’ auf einen größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu einigen. Hierbei spielen auf der einen Seite handfeste materielle und ökonomische Interessen sowie psychologische Bedürfnisse eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite wird die Wahrnehmung in diesem Prozess allerdings durch eine Reihe übergeordneter gesellschaftlicher Dispositionen entscheidend vorstrukturiert. Hierzu gehört zunächst der eingeschränkte Zugang zu den ‚eigenen’ - den indigenen - kulturellen Traditionen, die stark von christlichen und chinesischen Einflüssen überlagert und meist überhaupt nur noch in den anthropologischen Materialen aus der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) recherchierbar sind. Ein anderer Parameter, der dafür verantwortlich ist, dass das Selbst nur noch über den anderen gespiegelt wahrgenommen werden kann, ist Taiwans Nativismus und die hiermit einhergehende Politik der Anerkennung. So hat man sich heute den ursprünglich von han-chinesischen Intellektuellen initiierten Aufruf zur Emanzipation gegenüber kolonialen Kräften allgemein zu Eigen gemacht, eine Maßgabe, die letztendlich nicht nur eine Abgrenzung gegenüber den Han, sondern auch gegenüber dem Christentum impliziert. Auffällig ist dabei allerdings, dass die Behauptung von Differenz sehr selektiv und meist genau im Einklang mit den von der Majoritätsgesellschaft vorgegebenen und favorisierten Kategorien erfolgt. Dies schließt selbst jene ‚Untertöne’ von Subversivität mit ein, auf die ich in meinen anfänglichen Beispielen hindeutete und die heute bei fast allen kollektiven Ritualen der Ureinwohner beobachtbar sind. Denn gerade diese Elemente werden in intellektuellen Kreisen der Han als ‚Zeichen’ der wiederkehrenden ‚Ureinwohner-Subjektivität und letztendlich - Authentizität’ beschworen und lobend hervorgehoben.

Weiterführende Literatur

Rudolph, Michael: Taiwans multi-ethnische Gesellschaft und die Bewegung der Ureinwohner - Assimilation oder kulturelle Revitalisierung? Hamburg/Münster: LIT 2003
Rudolph, Michael: “Ritual Revitalisation and the Construction of Taroko Identity in Taiwan”, in: Henn, Alexander & Klaus-Peter Koepping, Qualifying Ritual in an Unstable World: Contingency – Embodiment – Hybridity. Hamburg/Münster: LIT. (im Druck)

Zum Autor:

Dr. Michael Rudolph, Mitglied des Sonderforschungsbereichs "Ritualdynamik" an der Universität Heidelberg. 2001 bis 2003 mehrere Feldstudien zu zeitgenössischen Ritualen der Ureinwohner Taiwans.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008