ALS ETHNOLOGE AM STRAND

Mikroskopie eines touristischen Felds

Von Christoph Antweiler

Als Ethnologe am Strand
Strand. Foto: Heiko Arendt

Am Strand geht es um mehr als Sonne, Sand und Wasser. Strände sind soziale Mikrokosmen. Der Strand ist zwar nur ein schmaler Sandstreifen, nimmt aber einen weiten Raum im Denken der Menschen ein. Strandfantasien sind heutzutage global verbreitet: Auch der mongolische Nomade hat die Bilder vom Strand im Kopf. Was macht man am Strand? Was tue ich am Strand - zum Beispiel in Bali? Das Erste, was ich am Strand tue, ist ein Badetuch auszurollen, die Ecken mit Steinchen zu befestigen, das Sonnenöl stabil aufzustellen und das unentbehrliche Buch hinzulegen. Als Nächstes lege ich mich flach hin, schließe die Augen und träume in den Tag hinein. Oder ich ziehe mich in mein Buch zurück. Für die nächsten Stunden wird das meine Welt sein. Ich baue eine völlige Privatsphäre auf, bin aber dennoch mitten unter vielen anderen Menschen, die ich nicht kenne. Was geschieht eigentlich am Strand, wenn man mal genauer hinschaut?

Menschen, die man über ihr Verhalten am Strand befragt, sagen häufig: "Ich vergeude keine Zeit damit, mich umzusehen; ich bin ganz in meiner eigenen Welt." Die ungeschriebene Regel ist, den Nachbarn nicht zu beachten. Besonders Kinder werden ermahnt: "Starr nicht so da rüber!" Das Problem besteht aber für alle: Extra nicht gucken, das geht kaum. Deshalb wende ich verschiedene Sehtechniken an: Schauen, Gucken, kurzes Starren, den Blick schweifen lassen, aus dem Augenwinkel gucken, so tun als ob ich nicht hinschaue, Abschwenken nach kurzem Augenkontakt. Ich schaue auch auf die anderen, wie diese gucken. Und ob jemand die Regeln bricht. Ich sehe Frauen, die topless daliegen, wie sie schauen, ob andere Frauen sie angucken, und wie sie kontrollieren, ob Männer sie anstarren. Es geht um die Disziplinierung des Blickens, sodass man uninteressiert scheinend schauen kann. Hilfreich sind Sonnenbrillen, die für den Strand erfunden wurden und die es nicht nur wegen der Sonne gibt. Man kann sich dahinter zurückziehen und seine Blicke frei schweifen lassen.

Am Strand kommt man Fremden sehr nahe. Man sieht dieselben Fremden über Tage hinweg immer wieder, will aber für sich sein und seine Privatsphäre auch räumlich schützen. Hierin ähnelt das Strandleben erstaunlicherweise genau dem, vor dem man vielleicht geflohen ist: Städten. Typisch für urbanes Leben ist es, immer wieder auf dieselben Menschen zu treffen, die einem dauerhaft fremd bleiben, etwa in der Straßenbahn. Im späten 19. Jahrhundert enstand die Tradition der Strandfähnchen. Besonders Deutsche nahmen Fähnchen mit an die Strände im Ausland, was ihnen ein schlechtes Image als aggressive Touristen eintrug. Am Strand trifft man erstens Fremde, und zweitens ist es oft windig. Deutsche haben im 19. Jahrhundert die perfekte Lösung für beide Probleme gefunden: Sandburgen. Sie sind oft sehr groß, haben hohe Mauern, und sie sind alles andere als improvisiert. Sie sind mit viel Arbeit entworfen und mit Skulpturen dekoriert. Sprüche auf ihnen zeigen auch Werte und lassen auf Persönliches schließen. In den 1930ern stand vielleicht "Unser Führer" drauf; heute finden sich Aufschriften wie "Bernd und Paula", "Junge Frauen willkommen", "Das Unvollendete" oder einfach "Düsseldorf".

Am Strand geht es um Sonne und um Wasser. Jedoch erst spät im 19. Jahrhundert gingen die Reisenden tatsächlich ins Wasser. Die meisten tauchten nur die Füße ein. In Bali tun es die Einheimischen auch heute kaum. Wie an anderen bekannten Stränden sind in Bali tatsächlich die meiste Zeit kaum Leute im Wasser. Das Wasser enthält Quallen oder Seeigel. Man kommt kaum hinein wegen der Steine, und die Brandung ist zu stark. Aber auch der Strand selbst ist alles andere als ein Paradies. Er ist nicht feinsandig und golden, sondern steinig, moderig, matschig. Oder er ist ölig und voller Kippen. Plastikmüll liegt überall herum. Der Sand klebt an allen Körperöffnungen ... und am Eis der Kinder. Die Luftmatratze ist platt, und Insekten befallen einen in Scharen. Der Ghettoblaster der Nachbarsfamilie verbreitet ätzende deutsche Schnulzen. Das Buch ist ölig von der Sonnencreme oder erweist sich als stinklangweilig. Wie eigentlich überhaupt das ganze Strandleben.

Das eigentliche Ferienleben spielt sich auch woanders ab: am Hotelpool. Man ist gekommen wegen des Meers im Prospekt, hält sich vor allem aber am sauberen Pool auf. Pools kamen in den 1920er-Jahren in Kalifornien auf, wurden in Hawaii weiterentwickelt. Sie sind heute weltweit standardisiert, und man kann sich schnell zu Hause fühlen. Sie sind zumeist geschwungen geformt, in azurblau und weiß gehalten und haben eine Bar im Wasser. Es finden sich Sprungbretter und die überall gleichen Platikstühle. Palmen gehören dazu, und der Pool imitiert insgesamt die Tropen. Es gibt eine globale Ikonographie und Choreographie des Strands, wie sie in Baywatch zu sehen ist. Ich denke an Strandpostkarten, auf denen man gar nicht erkennt, wo in der Welt der abgebildete Strand eigentlich ist. Mir fällt das kleine Spielset aus der "Paradisa"-Serie von Lego ein, das diese Idee auf den Punkt bringt. Es besteht aus einer Mini-Insel, einer Palme, einem Schwimmreifen und zwei Badenden.

Auch am Pool gibt es viele Regeln, die zum Teil abgewandelte Strandregeln, teils aber auch neu sind. Männer sitzen mit Bier an der Poolbar. Frauen und Männer unterhalten sich für begrenzte Zeit in besonderen Körperstellungen und -abständen am Beckenrand. Paare cremen sich gegenseitig ein, aber die Massage sollte nicht zu intim ausfallen. Eigene Handtücher sind nicht erlaubt. Diese Regeln gab es nicht immer. Einige sind in Form überall ähnlicher "Pool Regulations" aufgehängt. Andere lernt man unbewusst. Und es gibt Konflikte. Jeder kennt es, dass manche Leute frühmorgens zum Pool gehen, um sich dort mit Handtüchern die besten Sonnenplätze zu sichern ... oder man tut es selbst!

Strand und Pool erlauben dem Einzelnen die unterschiedlichsten Urlaubserlebnisse. Ich kann tagträumen, den Horizont bewusst genießen oder im Wasser mit anderen albern, mich im Wasser baumeln oder auf der Luftmatratze treiben lassen. Ich kann am Strand mit einheimischen Jungs Fußball spielen oder der Musik aus dem Walkman lauschen. Ich kann meine Partnerin massieren oder lesen: Wohl kaum irgendwo wird so viel gelesen wie am Strand. Der Strand ist ein Feld der individuellen Freiheit. Ich bin weg von Stadt und von Arbeit. Trotz aller Sorgen zu Hause kann ich vielleicht sogar als Arbeiter oder Student genießen: Der Urlaub ist schon vorab bezahlt. Ich kann Verhaltensregeln meiner Heimat brechen. Aber: Ich muss andere Regeln beachten.

Der Strand ist ein besonderes lokales Feld. Die Regeln des Strands sind nirgendwo niedergeschrieben. Aber deshalb sind sie keineswegs unklar oder locker. Die Mikrorituale der Einrichtung am Strand etwa sind sehr präzise. Übertretungen, im übertragenen wie im konkreten Sinne, werden gerügt. Über die Regeln wird aber fast gar nicht geredet, und sie werden Kindern mit wenigen Ausnahmen nicht bewusst gelehrt. Gesellschaften erfinden und lernen bestimmte Formen des Reisens. Die einzelne Person lernt unbewusst bestimmte Reiseformen, Rituale und Verhaltensroutinen, zum Beispiel sich am Strand oder Pool angemessen zu verhalten. Man bekommt unbewusst mit, dass am Strand bestimmtes Verhalten erlaubt ist, was auf dem Parkplatz direkt daneben oder dem Sportplatz auf der anderen Seite der Strandstraße undenkbar wäre. Ich kann zum Beispiel mir völlig fremden Leuten am Strand aus nächster Nähe beim Spielen zusehen oder sogar mitmachen. Auf dem Sportplatz würde ich erst fragen.

Die Strandregeln werden aber auch immer wieder gebrochen oder verschieden interpretiert. Weiße Mittelklasseamerikaner am Strand von Los Angeles beklagen sich über Chicanos, die ihnen zu nahe auf den Pelz rücken und in voller Kleidung schwimmen gehen. Amerikaner beschweren sich über die skandinavische Sitte, sich unter einem Handtuch umzuziehen statt in der Umkleidekabine. Kinder rennen über mein Handtuch, Hunde pinkeln direkt neben mein Ethnologiebuch. Dann sind da noch die nervenden Strandverkäufer und die flotten Beachboys hier in Bali. "Madam, 'want Massaaaaassch?" Sie brechen die Regeln der Privatheit, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Die Strandverkäuferin dringt in meine Privatsphäre ein, weil sie die Regeln nicht kennt ... oder, was wahrscheinlicher ist, bewusst missachtet.

Regeln gelten nicht für alle, und Interessensunterschiede führen zu Konflikten. Formell sind Strände fast immer öffentliche Orte; tatsächlich ist der Zugang aber oft beschränkt. Lokale Strandhändler werden von Polizisten oder vom Hotelpersonal weggescheucht. Neugierige Kinder werden durch Zäune weggehalten. Einheimische fühlen ihre Normen durch halbnackte Touristen verletzt, die nicht, wie es "normal" wäre, in voller Kleidung schwimmen gehen. Es kommt zuweilen zu Konflikten unter den Einheimischen, wem eigentlich der Strand gehört.

Gibt es Alternativen? Geht Strandleben ohne Regeln und Einschränkungen? Eine Variante gegenüber dem Urlaubsstrand ist der "Robinsonstrand". Hier bin ich allein. Ich sammle Muscheln und angedriftete Holzteile. Der Strand gehört mir, und andere sollen sich gefälligst ihre eigenen Strände suchen. Und hier meint man jenseits aller Regeln zu sein. Man liegt unter Palmen, fühlt sich frei wie nie. Man liegt vielleicht nackt da ... aber spätestens nach zehn Minuten raschelt es plötzlich im Unterholz, und ein brauner Junge hält einem eine Kokosnuss direkt unter die Nase. Oder ein junger Balinese kommt und sagt: "You my friend, I want to practice my English." Er wird nicht wieder weggehen, egal, wie ich mich verhalte. Ein natürlicher Strand, ein a-sozialer oder a-kultureller Strand existiert nicht. Den Naturstrand gibt es nur im Kopf.

Zum Autor

Christoph Antweiler ist derzeit Professor für Ethnologie an der Universität Trier. Forschungsgebiet Sulawesi/Indonesien, Südostasien. Forschungsthemen: Kognition, Stadtkultur, interethnischer Umgang, praxisorientierte Ethnologie und lokales Wissen. Zusammen mit Franz Wuketits Herausgeber von: Handbook of Evolution, Vol. 1: The Evolution of Cultures and Societies. Weinheim: Wiley-VCH, 2004.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008