ISLAM UND REFORMATION

Martin Luther im muslimischen Diskurs

Von Christiane Paulus

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Martin Luther 1483 - 1546

Luther und sein Bezug zum Islam ist in der deutschen Islamwissenschaft und der Theologie seit einigen Jahren ein wichtiges Thema. Aber auch im muslimischen Kontext wird über Luther diskutiert. MuÎamad ÝAbduh, der Europa Ende des 19. Jahrhunderts kennen lernte, gab den ersten formalen Hinweis zur Nähe zwischen Islam und reformatorischem Christentum: Zwischen beiden gebe es viele Gemeinsamkeiten, bis auf die Anerkennung des Propheten MuÎamad. Diese Gemeinsamkeiten wurden vor allem im Kontrast zu katholischen Glaubensauffassungen deutlich: Beide haben ein positiveres Verhältnis zur Welt aufgrund von Ehe und Familie, Naturfreude und Arbeit, ebenso einen direkten Bezug der Gläubigen zu Gott, ohne die Mittlerfunktion einer heiligen Institution. Reformatorisches Christentum und Islam haben die zentrale Stellung des Wortes Gottes bzw. der Schrift, und auch hier gibt es keine Mittlerfunktion, sondern das Recht des Einzelnen zur Auslegung; es gibt keine Bilder und Figuren, beide kritisieren Mythen wie die der Eucharistie. Alles in allem scheint es eine mehr rationale Wirklichkeitsauffassung zu sein, die Protestantismus und Islam näher aneinander rücken lässt.

Auf muslimischer Seite versuchte man zunächst einen islamischen Einfluss auf Luther zu finden. Man wusste, dass er zusammen mit seinem Freund Bibliander den Qur’an auf Deutsch herausgegeben hatte. Und As-Sayyid MuÎamad aš-Šáhid behauptet, dass die Person Martin Luther mit Sicherheit vom Islam beeinflusst gewesen sei. Luther sei ein Beweis dafür, dass das islamische Denken (in einer Phase der wissenschaftlichen Stagnation in der katholischen Kirche, in der sie sich ihrer Kritiker durch Exkommunikation entledigte) eine Wirkung in Europa hatte. Auf die Polemik Luthers gegen den Islam und vor allem gegen den Propheten MuÎamad weist der Autor zwar auch hin und bezeichnet sie als hart und grausam, er geht jedoch trotzdem davon aus, dass die reformatorischen Glaubensgrundsätze mit dem Islam verwandt seien (As-Sayyid MuÎamad aš-Šáhid, AlÌiÔÁb Alfalsafi AkmuÝÁÒir. Min AlÝÁm ilÁ AlaÝam Kairo, 2000: 203 f.).

Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend näher kommende „Türkengefahr“ hatte ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt. Denn 1453 hatten die Osmanen Konstantinopel, die letzte Festung der oströmischen Kirche, eingenommen und waren mit Suleiman bis nach Ungarn und Österreich vorgedrungen. In der Bevölkerung war die Angst groß, von den muslimischen Türken besiegt zu werden. Obschon Luther einen christlich-motivierten Angriffskrieg gegen die Türken ablehnte, sprach er sich doch dafür aus, dass ein Christ, sofern ihn die „Obrigkeit“ rufe, zum Krieg gegen den Feind ziehen müsse. Um die Soldaten zu motivieren sowie Volk und Herren aufzuklären, schrieb Luther Texte gegen die Türken und ihre Religion, den Islam. Er war davon überzeugt, dass man sie nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Argumenten und im Gebet bekämpfen müsse.

So ließ Luther die einfachen Leute wissen, dass der Islam als eine christliche Häresie (Irrlehre) zu verstehen sei. Er besitze keine Originalität, sondern sei eine Mischung aus Juden-, Christen-, und Heidenglauben. (Der Prophet) MuÎamad sei ein Schüler der altkirchlichen theologischen Ketzer gewesen, die die Trinität und Gottheit Jesu bestritten hatten. Auf der anderen Seite erkannte Luther aber den hohen Grad an Vernunft und Rationalität an, die den Islam für die Christen in die Nähe des Denkens der alten Griechen und Römer rücken ließ. Er schrieb: (Des Propheten) MuÎamads „Gesetz lehret nichts anderes, denn was menschliche Weise und Vernunft wohl leiden kann.“ (Luther: Werke, Weimarer Ausgabe 30/2 168, 17 f.). Der Islam war für Luther eine Religion, die für die Kirche eine ungeheure Gefahr und Konkurrenz bedeutete.

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Das Marburger Kolloquium 1529

Um der Aufklärung willen unterstützte Luther seinen Freund Bibliander, der 1543 den Qur’an auf Deutsch in Basel herausgab. Dem war eine lange Diskussion der Stadtväter vorausgegangen, in der die Verführungskraft der Schrift für Christen als sehr hoch eingeschätzt wurde. Erst nachdem Luther eine Widerlegung des Qur’an als Vorwort dazu geschrieben hatte, wurde der Druck genehmigt. Luther hatte in seinen jungen Jahren noch die Hoffnung gehabt, einige Türken zum christlichen, evangelischen Glauben zu bringen, später musste er sie als „Missionsobjekte“ aufgeben. Und über die Erfolglosigkeit seiner Mission war er sichtlich verärgert: „ Wo wir nicht können die Sarazener und nun mehr die Türken bekehren ....,“ denn sie sind „so hart verstockt, dass sie fast alle unsere Glaubensartikel spotten und höhnisch verlachen, als wären es närrische, von unmöglichen Dingen Geschwätz.“ Den Türken (sowie auch den Juden) musste – und das ist bis heute so – die Botschaft vom Fleisch gewordenen Gott völlig absurd und lächerlich erscheinen, und ein Insistieren, ein weiteres Drängen der Christen, sie dazu zu bekehren, scheint ihnen auf die Nerven gegangen zu sein, was sich bei Luther heraushören lässt: Denn beiden, den Türken und den Juden, ist das Evangelium „ein Ekel, dass sie es nicht leiden noch hören können“. (WA 53, 274, 7 f.; WA 53, 276,14 f. und WA 41, 291, 6). Mit dieser Reaktion waren die Türken von „Missionsobjekten“ zu Feinden geworden, die bekämpft werden mussten, und nur die genaue Kenntnis ihrer Schriften ermöglichte ihre Bekämpfung.

Luthers Qur’an-Bild ist von der Widerlegung des Qur‘an durch den mittelalterlichen katholischen Theologen Ricoldus geprägt. So werden die fehlende Trinität, die Ablehnung der Gottessohnschaft, das Fehlen von Beglaubigungswundern der Sendung (des Propheten) MuÎamad und der fleischliche Charakter der Seligkeit der Muslime im Paradies als Indizien für die Falschheit der islamischen Offenbarung gewertet. Der Qur’an habe keine Bestätigung durch das Alte und Neue Testament, in ihm seien wahre und falsche Aussagen vermischt. Die Ästhetik des Qur’ans war für Luther „Singen und Reimen“, was für ihn nicht in eine Offenbarungsschrift gehörte.

In einer Abhandlung über das Christentum weist Scheich MuÎamad ÞAbÙ Zahra auf einen islamischen Geist in der Reformation hin. Der Scheich geht aber nicht von einem direkten islamischen Einfluss auf die Reformatoren aus, sondern ist der Meinung, islamische Auffassungen seien allgemein in die europäische Geschichte des Mittelalters eingegangen: Schon in der Zeit der ‚Alten Kirche’ sei die Kirche auf einen falschen Weg gekommen und zwar aufgrund der „Zwei-Naturenlehre Christi“, die er als Lehre von der „Gottheit Christi“ bezeichnet. Außerdem geht er von der Dekadenz der katholischen Kirche im Mittelalter aus, die letztendlich zur Reformation geführt habe.

ÞAbÙ Zahra ist der Meinung, dass, wenn die Reformation schon die kirchliche Macht zurückgewiesen und die einzige Autorität in der Bibel, im Evangelium, gesehen habee, hätte sie auch die Beschlüsse sämtlicher Konzilien zurückweisen müssen oder sie an der Heiligen Schrift überprüfen müssen. Weil dies nicht geschehen sei, somit die Gottessohnschaft auch in der evangelischen Kirche immer noch ein Dogma sei, bleibe die Reformation unvollständig. Eine vollständige Reformation aber, die sich auch dieser Mythen entledige, würde in den Islam einmünden. (MuÎamad ÞAbÙ Zahra: MuÎÁÃrÁt fÐ AlnaÒrÁneya, Kairo, ohne Jahr, 160 f.)

ÞAmÐn Al-Ëùlis vertritt die These, dass die Reformation ein Kind des islamischen Einflusses im Mittelalter sei. Der damalige islamische Wissenstransfer, der die europäische Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte begründet und angestoßen habe, habe sich bis in die Glaubensgrundsätze der Reformation erstreckt.

Die Rezeption der arabischen Sprache und des islamischen Wissens bzw. der Philosophie durch die Europäer im Mittelalter war von der Absicht christlicher Wissenschaftler getragen, Muslime (und Juden) zu missionieren und sie in die Kirche einzugliedern. ÞAmÐn Al-Ëùli zeigt, dass die durch das islamische Wissen angeregten philosophischen Diskurse manche christliche Dogmen verändert haben, was letztlich zur Reformation führte. Nach Al-ËÙli waren verschiedene Schichten - vom einfachen Soldaten bis hin zu professionellen Wissenschaftlern, vom politisch Herrschenden bis zum Händler - in diesen kulturellen und religiösen Austausch eingebunden. Aber auch die lang anhaltende Kriegssituation machte den religiösen Austausch zur Alltäglichkeit. Das Klima der Normalität im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kultur und Religion führte im Laufe der Zeit zur Integration unterschiedlicher religiöser Anschauungen und Praktiken.

< Etwas Ähnliches könnte auch im 8. Jahrhundert in den Tälern der Cottischen Alpen geschehen sein, als eine Gruppe aus Frankreich versprengter muslimischer Soldaten in den Alpentälern zurückgeblieben und einheimisch geworden war. Dies könnte ein fruchtbarer Boden für die Bewegung der Waldenser gewesen sein, die schon früh die katholische Papstkirche kritisierten und die Bibel in ihrer eigenen Sprache lasen (ÞAmÐn Al-Ëùli: Ñilet AlislÁm biiÒlÁÎ AlmassÐÎeiya, Kairo 1993, 20f). In diesem Zusammenhang scheint es durchaus plausibel, auch für die vorreformatorischen Bewegungen von Wiclif und Hus einen islamischen Einfluss anzunehmen.

Vergleichbar war die Situation in Spanien. Jahrhundertelang war hier der Umgang mit Andersgläubigen, sowohl in einfachen Schichten des Volkes als auch in akademischen Institutionen, etwas Alltägliches. Die arabische Sprache und die islamische Philosophie waren hier zu Hause. Im Gegensatz zu den östlichen Mittelmeerländern war in Spanien der Islam aber nicht allein vorherrschend. Die westlichen Christen konnten ihre Religion in der Öffentlichkeit ausüben und nicht nur im Privaten wie die östlichen Christen. Aus diesem Klima der alltäglichen Begegnung und auch Reibung und Konkurrenz unter den Religionen entstand eine Kreativität und Produktivität, die auch Einfluss auf das unterschiedliche religiöse Denken hatte. Letztlich bleibt die Frage, warum es kaum Rückfluss der Werke abendländischer Theologen und Wissenschaftler in die islamische Welt gegeben hat oder warum sich erst in der modernen Zeit eine Art Rückfluss in säkularer, technischer Form eingestellt hat.

Während aufseiten der evangelischen Theologie das Wissen um die Ähnlichkeiten zwischen Islam und reformatorischem Christentum noch nicht entdeckt zu sein scheint, ist den muslimischen Autoren zu diesem Thema gemeinsam, dass sie Luther und die Reformation idealisieren und von den verbleibenden, tiefgreifenden Differenzen absehen. Denn gerade die Kreuzestheologie bzw. Christologie machen den dogmatischen Unterschied zum Islam aus. Nicht die Vernunft und nicht die logische Erkenntnis, sondern die Selbstoffenbarung Gottes am Kreuz ist nach Luther der Weg zum gnädigen Gott. Vernunft und logische Erkenntnis sind in Glaubensdingen nur eine „Hure“, die menschliche Hybris. Für Muslime ist die Kritik an der päpstlichen Mittlerschaft ein aufgeklärtes und sympathisches Moment, die inhaltliche Begründung durch das Kreuz aber keineswegs.

Wir haben es so beim Verhältnis von Islam und reformatorischem Christentum mit einer Nähe und gleichzeitig mit tief greifenden Differenzen zu tun. Der geschilderte Prozess der Aneignung islamischen Wissens im Mittelalter spiegelt somit einen Prozess zunehmender Nähe und zunehmender Fremdheit beider Seiten wider. Die Europäer haben sich vom islamischen Wissen inspirieren lassen, haben einiges davon übernommen und damit eigene Anschauungen und Ansätze entwickelt. Das islamische Wissen wurde nicht nur aufgenommen, sondern auch verändert und hat vielfältige Früchte getragen. Damit begann schon im europäischen Mittelalter ein in verschiedene Bereiche hineingehender Bildungsprozess.

Weiterführende Literatur

Bobzin, Hartmut (1995): Der Koran im Zeitalter der Reformation. Beirut/Stuttgart
Hagemann, Ludwig (1998): Luther und der Islam. Altenberge

Zur Autorin

Dr. Christiane Paulus ist Religionswissenschaftlerin und lebt in Kairo/Ägypten.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008