Konferenzbericht "Closed Society and Open Society: Conflict and Dialogue" in Moskau vom 23.- 28.11.2003

Von Florian Mühlfried

Durch Mailinglists im Internet oder persönliche Quellen verbreitete sich im Herbst 2003 unter mit Postsozialismusstudien befassten EthnologInnen die Kunde, dass im November in Moskau eine Konferenz zur Ethnologie des Kaukasus abgehalten würde. In Erstaunen versetzte vor allem die in der Ankündigung befindliche Aussage: All travel and lodging expenses will be paid by the Organizing Committee of the Conference, (im Original fett gedruckt). Diese für wissenschaftliche Konferenzen leider alles andere als gängige Praxis warf sogleich die Frage nach den Organisatoren und Geldgebern der Konferenz auf.

Bei den Organisatoren handelt es sich laut Ankündigung um ”The International Research Institute of the Peoples of the Caucasus (IRIPC)”, über das im Internet keine Informationen zu finden sind. Ebenfalls beteiligt war die Abteilung für Kaukasus-Studien am Institut für Ethnologie und Anthropologie an der staatlichen Universität Moskau. Vorsitzender des Organisationskomitees war der bekannte russische Kaukasiologe Arutiunow. Finanziert wurde die Veranstaltung durch die ”Open and Closed Society”, über die ebenfalls im Vorfeld keine Informationen ausfindig zu machen waren.

”Offene” und ”geschlossene” oder ”moderne” und ”traditionelle” Gesellschaftsformen waren das Thema der Konferenz. Im Vordergrund sollten dabei die Fragen nach der Zukunft ”traditioneller” Gesellschaften im Kaukasus und nach der Bewahrung von kultureller Identität in einer globalisierten Welt stehen.

Ort der Konferenz war das Golfhotel ”Le Meridien”, in einem Waldgebiet an der Moskauer Peripherie gelegen. In dem von hohen Mauern umgebenen Hotelareal waren die knapp 200 TagungsteilnehmerInnen untergebracht, und hier fand auch die Konferenz statt. Die TeilnehmerInnen stammten überwiegend aus Russland, Dagestan, Tschetschenien, Georgien und Armenien. Dazu kamen circa 20 Wissenschaftler aus den USA, Kanada, Japan, Frankreich, Holland, England, Polen und Deutschland.

Wegen der Vielzahl der Vorträge, die meist auf Russisch gehalten und synchron, aber schlecht ins Englische übersetzt wurden, kann im Folgenden nur exemplarisch auf einige Redebeiträge eingegangen werden. Am ersten Konferenztag (24.11.2003) wurden in einführenden Ansprachen einige inhaltliche Ausrichtungen deutlich: Die Vorsitzende des IRIPC Melikischwili betonte, dass es für alle Angehörige kaukasischer Ethnien angesichts der Bedrohung durch den Globalismus darauf ankäme ”to maintain and sustain who we are”. Der folgende Beitrag von Alexandr Dugin, einem der wichtigsten Vertreter der russischen Neuen Rechten, griff diese mögliche Gefahr eines Verlustes von Identität in einer globalisierten Welt auf. Dazu unterschied er idealtypisch ”offene” von ”geschlossenen” Gesellschaften: In ”offenen” Gesellschaften gehe kulturelle Identität verloren, während in ”geschlossenen” Gesellschaften die wesentlichen Eigenschaften von Identität bewahrt blieben. Auf dieser Grundlage kam Dugin zu dem Schluss, dass das Konzept der ”offenen”, also an zivilen und demokratischen Strukturen ausgerichteten Gesellschaft, für die Kaukasusländer inadäquat sei. Der Kaukasus gehöre zu Eurasien, und eurasiatische Gesellschaften seien ”anders” als westliche. Russland als herausragende Macht in Eurasien komme dabei eine besondere zivilisatorische Aufgabe zu: ”Russians should be present in the Caucasus. We have a mission. This is what the idea of Eurasia is about.”

Der nächste Beitrag, gehalten von Porochowa, sprach sich ebenfalls gegen die Verbreitung globalistischer Strukturen in der Russischen Föderation aus (”We are very specific!”), und ein Nachredner versuchte den Begriff des Kollektivismus durch eine Abgrenzung zur Sowjetpraxis zu re-etablieren und positiv zu konnotieren. So viel wurde am ersten Tag deutlich: Eine fiktive ”traditionelle”, ”geschlossene” Gesellschaft soll einer auf Individualität beruhenden Gesellschaft unbedingt überlegen sein und müsse angesichts von Globalisierung verteidigt werden.

Der Vortrag von Weinreich (Deutschland) zu Beginn des zweiten Konferenztages (25.11.03), in dem er die Folgen der Globalisierung in Russland dahingehend thematisierte, dass Russland nolens volens in globale Prozesse eingebunden ist, wurde von den Zuhörern kommentarlos zur Kenntnis genommen. Die folgenden Beiträge, die diskutiert wurden, versuchten sich an einer Bestimmung von ”kaukasischer Identität”: Tschesnow stellte die Gastfreundschaft in den Vordergrund, die als Grundlage für eine universale Ethik dienen könne. Gaidar beschrieb den Kaukasus als ein ”centre of a new technology of thinking”. In seinem Beitrag über das georgische Bankett (supra) versuchte Mühlfried (Deutschland) zu verdeutlichen, dass Tradition keine feste Bezugsgröße darstellt, sondern fundamentalen Wandlungsprozessen unterliegt, die durch Kulturkontakte geprägt sind. Auch diese durchaus kritisch gemeinte Anmerkung verhallte im Leeren.

Im Zentrum des dritten Konferenztages (26.11.03) stand Religion, besonders der Islam. Die Leitung oblag Yarlikapow und Bobrownikow, zwei Wissenschaftlern der jüngeren Generation. Die Vorträge waren insgesamt informativer und sachbezogener als die der vorhergehenden Sektionen; Fakten und nicht Ideen standen im Vordergrund. Die Themen der Vorträge reichten von Sufismus, der Renaissance des Islam im Kaukasus, internationalen muslimischen Netzwerken bis zu ”Wahabismus” in Dagestan, Tschetschenien, Karatschai-Tscherkessien und Georgien (Pankisi). Nachmittags sprachen Dragadse (England) und Goziridse (Georgien) über rituelle Mahlzeiten in Georgien.

Der Vormittag des vierten Tages (27.11.03) war den ausländischen Referenten vorbehalten: Przeslakievicz (Polen) sprach über die polnische Diaspora in Georgien, und Companjen (Holland) verdeutlichte am Beispiel von Georgien, dass NGOs sich zwar die Förderung von Toleranz auf ihre Fahnen schreiben, aber in manchen Fällen das Gegenteil erzeugen. Kosack, Krasberg und Kunze (Deutschland) zeigten anhand von Fallbeispielen aus Afrika die Einbindung von ”traditionellen” Gemeinschaften in nationale und transnationale Zusammenhänge auf. Graburn (USA) sprach über das Verhältnis von Tourismus und Tradition. Auch diese Vorträge wurden nicht diskutiert.

Am Nachmittag stand neben einigen Vorträgen ein holländischer Film auf dem Programm. Im Zentrum dieses Filmes stand der Krieg in Tschetschenien und der ehemalige Vizepremier von Tschetschentien Chosh-Ahmed Nuchajew. Eingebettet in antiglobalistische Statements westlicher Vordenker wie Manuel Castells, übt Nuchajew massive Kritik an der ”offenen”, ”globalen” Gesellschaft, die Vereinzelung, Identitätsverlust, Verbrechen und Drogensucht zur Folge hat. Laut Nuchajew führt die globalisierte Welt einen Krieg gegen ”geschlossene”, also noch intakte ”traditionelle” Gesellschaften, um die ganze Welt den Gesetzen des Marktes untertan zu machen. Nuchajew und die von ihm gegründete ”closed society” haben sich der Verteidigung der ”geschlossenen” Gesellschaft besonders in Tschetschenien verschrieben.

Am nächsten Tag wurde von dem Präsidenten des Organisationskomitees Arutiunow ein Brief Nuchajews verlesen, in dem er seine Ideologie bekräftigt und einen Vorschlag zur Lösung des Tschetschenienkonfliktes präsentiert: Tschetschenien soll aufgeteilt werden in das Flachland, das dem russischen Gesetz unterliegt, und Berg-Tschetschenien (”Nochtschi”), das von den Gesetzen der Scharia und der ”traditionellen Stammesgesellschaft” bestimmt wird.

Im Anschluss an die Verlesung des Briefes kündigte Arutiunow die gemeinsame Verabschiedung einer Erklärung aller Konferenzteilnehmer an. Grundlage sei die – so Arutiunow - von allen geteilte Bevorzugung von ”traditional decision making”. Wer gegen dieser Erklärung sei, wurde aufgefordert, seinen Widerspruch öffentlich zum Ausdruck bringen – was keiner tat.

In der anschließenden Diskussion wurde Nuchajews Plan für Tschetschenien unterstützt und angeregt, Nuchajews Konzept als Modell für weitere Länder des Kaukasus und der Russischen Föderation zu betrachten (Gabelaschwili, Mamukaschwili). Lediglich ein Redner aus Dagestan stellte konkrete Fragen zu dem Lösungsvorschlag: Wer soll die Grenzen Berg-Tschetscheniens schützen? Wie sieht es aus mit der medizinischen Versorgung, mit Strom und Kommunikation? Werden die jungen Kämpfer sich der Autorität der Stammesältesten beugen?

Schließlich legte in einem längeren Redebeitrag erneut Alexander Dugin sein Konzept des ”Eurasismus” dar. Der ”Eurasismus” sei als postmoderne Idee zu begreifen, die die Vielgestaltigkeit von Gesellschaftsformen anerkennt. Positiv Bezug nehmend auf den von Nuchajew vorgeschlagenen Tschetschenienplan, sprach sich Dugin jedoch für eine Unabhängigkeit Tschetscheniens innerhalb des russischen Machtbereiches aus. Wesentlich am Plan Nuchajews sei die Maxime ”no international control, but Russian influence”.

Offensichtlich findet zurzeit eine Annäherung rechtsnationalistischer Zirkel aus Tschetschenien und Russland statt. Die Konferenz, von Nuchajew durch die ”closed society” finanziert, diente dem Zweck, Unterstützung und wissenschaftliche Legitimation für die Ideologie der ”geschlossenen”, also antidemokratischen Gesellschaft zu erzeugen. Nuchajew, der von Russland mit internationalem Haftbefehl wegen möglicher Verstrickungen in die Moskauer Geiselnahme gesucht wird, schreibt dazu auf seiner Internetseite in aller Deutlichkeit: ”This was precisely the function of the scholarly research and educational initiatives (conferences, symposia, 'round tables', publications, documentary films, etc.) realised over the past year in Amsterdam, Warsaw, Poznan, Tbilisi, St Petersburg, Moscow and Tokyo by the Closed Society Fund, which I head."

Alexander Dugin, auf der anderen Seite, versammelt in seiner Gesellschaft Evrazija (Eurasien) zunehmend muslimische Gegner einer ”offenen” Gesellschaft. Das einende Band besteht in der antiwestlichen Ausrichtung. Unter dem Schlagwort ”Eurasien” wird an einer breiten antiliberalen Front gearbeitet, die sich zunehmend erfolgreich um die Einflussnahme auf die russische und internationale Politik bemüht. Dabei dienen rhetorische Rückgriffe auf die Konzepte Postmoderne und Antiglobalisierung als legitimierende Faktoren.

An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass in postsozialistischen Gesellschaften der antiglobalistische Diskurs vorwiegend von rechtsextremen Kreisen vertreten wird. Hier besteht die Gefahr, dass westliche Wissenschaftler oder Intellektuelle, die unreflektiert in den Chor der Kritiker des freien Weltmarktes einstimmen, für den Zweck der Instrumentalisierung von Wissenschaft für ideologische und politische Zwecke vereinnahmt werden – wie auf der Konferenz geschehen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008