AFRIKA UND PICASSO

Kunst und "globale" Ästhetik

Von Sebastian Stein

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Maske der Luba, Kongo. Foto: Institut Mathildenhöhe Darmstadt, 1986. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Vor ungefähr 100 Jahren, im Herbst 1906, soll Picasso das erste Mal mit einer so genannten traditionellen Skulptur aus Afrika in Kontakt gekommen sein. Matisse hatte zu einem ihrer gemeinsamen Treffen bei Gertrude Stein in Paris den Kopf eines im 19. Jahrhundert gefertigten Vili der Bakongo aus dem Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo mitgebracht. Die fremde Form und andersartige Ästhetik hat ihn - wie auch viele seiner Zeitgenossen - so fasziniert, dass er daraufhin häufiger ins Musée d’Ethnographie du Trocadéro , das heutige Musée de l´Homme , ging und selbst anfing, Skulpturen und Masken aus Afrika zu sammeln. In den Jahren 1907 - 1909 führte diese Auseinandersetzung mit afrikanischen Formen und Ästhetiken Picasso zu seiner so genannten „afrikanischen Phase“ und zur Entstehung des Kubismus - zum Beginn der klassischen Moderne und der Revolutionierung der europäischen Kunst überhaupt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Picasso und seine Künstlerkollegen auf der Suche nach einer neuen Formsprache, die die europäische Tradition des Realismus weiterentwickeln und letztlich überwinden sollte. Da zu dieser Zeit - der Hochzeit des Kolonialismus - zahlreiche Objekte, Fotografien, Geschichten und sogar Menschen aus den Kolonien in Europa kursierten, war es kein Wunder, dass auch die Künstler mit diesen Gegenständen und Ästhetiken in Berührung kamen und von deren Andersheit inspiriert wurden. Picasso ist neben Braque, Kirchner, Matisse oder Nolde der prominenteste dieser „Inspirierten“. Vor allem die Abstraktion und Ausdruckskraft afrikanischer Skulpturen und Masken faszinierten ihn und spielten eine große Rolle bei seiner künstlerischen Entwicklung.

Während für die Ethnologen der kulturelle Kontext und die sozialen, politischen oder religiösen Funktionen dieser so genannten Artefakte im Vordergrund standen, waren es für die Künstler vor allem die formalen ästhetischen Lösungen der Masken und Ritualgegenstände, die ihr Interesse weckten und ihre Begeisterung entfesselten. Sie verstanden die Objekte als Kunst im europäischen Sinne und interessierten sich nur oberflächlich für ihre komplexen soziokulturellen Kontexte und Funktionen. Trotz dieses fast ausschließlich künstlerischen Interesses übernahmen aber viele von ihnen den von der damaligen Ethnologie wissenschaftlich legitimierten Diskurs über die Andersartigkeit dieser „primitiven Stämme“. Hiervon ausgehend, projizierten die Künstler die in ihrer eigenen Gesellschaft vermissten Eigenschaften auf die „Anderen“ und konstruierten vor allem die Gesellschaften Afrikas und die der Südsee zu ursprünglichen, wilden, zeitlosen und magienahen Naturvölkern.

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Maske der Kuba, Kongo. Foto: G. Simrock. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Einer der letzten Höhepunkte und eine gute Veranschaulichung dieser Sichtweise war die New Yorker Mammutausstellung „Primitivism in 20th Century Art: Affinities of the Tribal and the Modern“ von 1984. In der von William Rubin kuratierten Ausstellung wurden die „Ähnlichkeiten“ zwischen moderner europäischer Kunst, zum Bespiel von Picasso, Giacometti oder Brancusi, und so genannter traditioneller Kunst aus Afrika, Ozeanien, Nordamerika und der Arktis in einer direkten Gegenüberstellung präsentiert. „Ähnlichkeiten“ oder „Affinitäten“ bestünden laut Katalog zwischen modernen und traditionellen „Werken“, ohne dass eine direkte Beeinflussung zwischen den Erschaffern stattgefunden haben musste, was als ein Beleg für universelle Gemeinsamkeiten im menschlichen Kunstschaffen interpretiert wurde. Diese etwas abgehobene Behauptung wurde allerdings schon in der Ausstellung durch die förmlich ins Auge springenden An- und Entlehnungen der „Modernen“ bei den „Primitiven“ infrage gestellt. James Clifford bemerkte hierzu, dass im Zusammenhang mit der völligen Ästhetisierung und der damit einhergehenden Ausblendung des kulturellen Kontexts der Objekte auch keinerlei Verweise auf die Erschaffer der Werke gegeben wurden. Dadurch wurden die Objekte zu Erzeugnissen ganzer Kulturen und nicht bestimmter Individuen. Außerdem fehlte in der Ausstellung auch jeder Hinweis auf zeitgenössisches Kunstschaffen in diesen Gesellschaften. So entstand der Eindruck, dass diese Gesellschaften auch heute noch in einer Art zeitlosen, unveränderbaren Traditionalität existieren würden.

Anfang des 20. Jahrhunderts war dieses Bild von den „Anderen“ - statisch, primitiv, kollektivistisch und durch die eigene Kultur determiniert - sowohl in kunsttheoretischen und ethnologischen Diskursen als auch in den breiteren Diskursen der europäischen Öffentlichkeit weit verbreitet. Afrika wurde zum „primitiven“ Gegenpol Europas konstruiert, sodass Letzteres seine „Überlegenheit“ sichtbar machen konnte und auf diese Weise eine Legitimation für die „Befriedung“ und „Zivilisierung“ wie auch für die ökonomische Ausbeutung und die politische Unterdrückung der afrikanischen Kolonien herstellen konnte. In der Ethnologie begann sich dieses Bild zunächst nur zögerlich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kolonialismus zu ändern und wurde erst mit dem Aufkommen postkolonialer Theorien Ende der Siebzigerjahre einer radikalen Kritik unterzogen. Was kunsttheoretische Diskurse betrifft, so musste man hier bis in die 90er Jahre warten, in denen ausgelöst durch die Kontroverse um die große Pariser Ausstellung „Les Magiciens de la Terre“ von 1989, eine breitere Kritik, vor allem von TheoretikerInnen und KünstlerInnen aus nicht-europäischen Kontexten, an dieser Sichtweise der „Anderen“ einsetzte.

Aus welcher Perspektive auch immer - ob aus einer ethnologischen oder kunsttheoretischen - die Funktion oder Qualität dieser Objekte gedeutet wurde, in beiden Fällen werden die Kräfteverhältnisse in einer Welt deutlich, in der ein kleiner Teil der Menschheit selektieren, definieren und repräsentieren kann, wie die Welt zu denken ist. Um eben diese Macht zur diskursiven Repräsentation der Welt ging es unter anderem auch in einer vor allem in südafrikanischen und britischen Medien geführten Debatte, die durch die Anfang des Jahres in Südafrika gezeigte Ausstellung „Picasso and Africa“ losgetreten wurde.

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Maske der Punu, Gabun. Foto: G. Simrock. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Die Ausstellung, die im Februar und März in Johannisburg und im April und Mai in Kapstadt zu sehen war, war aufgrund mehrerer Faktoren außergewöhnlich. Zum einen wurde noch nie eine größere Anzahl von Picassos Werken in Afrika gezeigt, und zum anderen ist „Picasso and Africa“ die erste Ausstellung weltweit, in der Werke von Picasso zusammen mit Masken und Skulpturen, von denen er sich stark inspirieren ließ, zu sehen waren. Ihr maßgeblicher Einfluss auf die Entwicklung von Picassos Werk wurde hier so deutlich und so umfassend wie noch nie zuvor dargestellt. Kuratiert von Laurence Madeline vom Musée Picasso in Paris und Marilyn Martin vom Iziko Museum in Kapstadt, präsentierte die Ausstellung 84 Arbeiten von Picasso zusammen mit 29 Skulpturen, die hauptsächlich von Gesellschaften aus Gebieten der heutigen Länder Elfenbeinküste, Gabon, Demokratische Republik Kongo, Liberia, Mali und Nigeria stammten.

Obwohl die beiden Kuratorinnen Afrikas wichtige Rolle bei der Revolutionierung der europäischen Kunst hervorhoben, thematisierten auch sie nicht die in Picassos kultureller Aneignung impliziten kolonialen Machtverhältnisse und eurozentrischen Denkmuster. Überspitzt formuliert lautete die Aussage der Ausstellung: Zwar hat sich Picasso, dem Geiste seiner Zeit entsprechend, selbstsicher und rücksichtslos des Schaffensgutes von nicht bekannten Kulturschaffenden aus Afrika bedient und ist unter anderem dadurch zum wohl berühmtesten Künstler der Welt geworden, jedoch ist dies aufgrund seines Genies und der Größe seiner Kunst verzeihbar.

Was die Ausstellung in dieser Hinsicht nicht leisten konnte - oder wollte -, fand sich in einem kritischen Artikel des Sprechers des Johannisburger Kulturamts, Sandile Memela, in einer größeren südafrikanischen Zeitung. Memela warf Picasso polemisch „Diebstahl“ vor und attackierte die Arroganz Europas, dessen großartige, vermeintlich genuin europäische kulturelle Leistungen in Wirklichkeit auf afrikanischer Kultur aufbauen würden. Ausgehend von diesem Artikel, ist eine größere internationale Debatte entstanden, in der sowohl die Verantwortung Picassos als auch die Europas bei solchen Aneignungen diskutiert wurde.

Von einer postkolonialen Perspektive aus, wie sie zum Beispiel von Edward Said vertreten wurde, besteht kein wirklicher Unterschied zwischen einer kulturellen Aneignung (von Formen, Ästhetik oder Sprache) und einer physischen (von Land, Ressourcen oder Menschen). In beiden Fällen ist die zugrunde liegende Geisteshaltung dieselbe. Die Mächtigeren fühlen sich berechtigt, die Schwächeren auf allen Ebenen zu beherrschen. Insofern stellt Picassos „Inspiration“ an afrikanischen Formen und Ästhetiken ein klassisches Beispiel von kultureller Aneignung vor dem Hintergrund des Kolonialismus dar. Das ist ihm als Kind seiner Zeit nicht unbedingt vorzuwerfen, aber im Zuge einer Nachzeichnung der großen Linien der Kunstgeschichte sollte es durchaus kritisch reflektiert und festgehalten werden.

Dies erscheint angesichts heute noch gängiger Positionen von KunstkritikerInnen umso wichtiger, die zeitgenössischen von Picasso inspirierten afrikanischen KünstlerInnen vorwerfen, sie würden den alten Meister einfach kopieren und seien nur Derivate von etwas, was in Europa schon Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Zwar kann diese Behauptung im euro-amerikanischen Diskurs über zeitgenössische Kunst durchaus als sinnvoll gelten, jedoch spiegelt sie die hier teilweise vorherrschende Überheblichkeit wider, als die Etablierung eines tieferen Verständnisses globaler kunstgeschichtlicher Verflechtungen voranzutreiben.

Diese umgekehrte „Aneignung“ Picassos durch zahlreiche zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen - die sich aber ebenso stark zum Beispiel vom europäischen Expressionismus oder Surrealismus inspirieren lassen - stellt schließlich eine weitere Verflechtung zwischen Afrika und Picasso dar, die allerdings wiederum von anderen Faktoren bestimmt und in andere (Macht-)Beziehungen eingebettet ist.

Studenten aus Afrika, die in Paris oder anderen europäischen Metropolen mit Picassos Werk und dem Kubismus in Kontakt kamen, sind für Sidney Littlefield Kasfir ein Grund für die breite Rezeption Picassos und des Kubismus insbesondere während der Entstehungszeit der modernen afrikanischen Kunst. Hier nennt sie zum Beispiel Francis Nnaggenda, der in Deutschland und Frankreich studierte, später an der School of Fine Art der Makerere University in Kampala, Uganda, lehrte und sich viel mit dem Kubismus beschäftigte. Oder Leopold Sedar Senghor, den ersten Präsidenten Senegals - ein naher Freund Picassos -, der im Paris der Dreißigerjahre lebte und später maßgeblich am Entstehen der senegalesischen Kunstszene beteiligt war.

Ein möglicher weiterer Grund für die breite afrikanische Rezeption Picassos könnte seine Allgegenwärtigkeit in der europäischen Kunstgeschichte sein, die, verbunden mit seiner Verwendung von afrikanischen Formen, zeitgenössischen afrikanischen Künstlern einen leichteren Zugang zu seiner Kunst als zu der anderer europäischer KünstlerInnen bietet. Auch könnten sich zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen durch die Verwendung von kubistischen Techniken und eine klare Bekennung zu einer afrikanischen Identität eine Steigerung ihres „Marktwerts“ auf dem internationalen Kunstmarkt erhoffen. Das bedeutet nicht, dass afrikanische KünstlerInnen nur des Geldes wegen Kunst machen. Es ist vielmehr eine mögliche Strategie, wie sie ihrer Marginalisierung auf dem internationalen Markt begegnen können.

Anhand der Verflechtungen zwischen Afrika und Picasso lassen sich zahlreiche künstlerische und kulturelle Austauschprozesse und Beziehungen verdeutlichen. Die Moderne ist, wie Stuart Hall bemerkt, eben keineswegs eine rein europäische Schöpfung, sondern stark verflochten mit Diskursen und Prozessen aus dem „Rest der Welt.“ Auch sollte deutlich geworden sein, dass sich die Diskurse über diese Beziehungen und Austauschprozesse im Laufe der Zeit verändern. Schließlich lässt sich feststellen, dass im Laufe des Kolonialismus eine in Europa geprägte, global wirksame Hegemonie gebildet wurde, die zwar schon vielfach - vor allem durch Stimmen aus den ehemaligen Kolonien - gebrochen wurde, in vielen Bereichen aber auch heute noch vorherrscht oder nachwirkt.

Weiterführende Literatur

Clifford, James (1988): The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press
Kasfir, Sidney Littlefield (1999): Contemporary African Art. London; New York; Thames and Hudson
María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2005): Postkoloniale Theorie - Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript

Zum Autor

Sebastian Stein, M. A., hat Ethnologie, Soziologie und Französisch in Münster, Paris und Freiburg studiert und seine Magisterarbeit über drei zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen in Europa geschrieben.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008