ÜBER KOREANISCHE SCHAMANENRITUALE UND DIE KONSTRUKTION KOLLEKTIVER IDENTITÄT IN KRISENZEITEN

Von Dirk Schlottmann

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Schamanin der Hwanghaedo-Tradition (Nordkorea) tanzt auf einem öffentlichen Ritual in Suwon vor den typischen Götterbildern aus Nordkorea. Foto: D. Schlottmann

Harmonisierung und Versöhnung sind die beiden wesentlichen Zielsetzungen, die in allen koreanischen Schamanenritualen ( gut ) zu finden sind und als essentielle Grundgedanken den koreanischen Schamanismus ( musok ) prägen. Überträgt man diese Prinzipien schamanischer Ritualpraxis auf die als Krise empfundene sozioökonomische Transformation der koreanischen Gesellschaft, die mit der Wirtschaftskrise (1997/98) ihren bisherigen Höhepunkt erlebte, dann wird verständlich, dass die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Funktion schamanischer Ritualpraxis eng an die Auswirkung dieser gesellschaftlichen Umbrüche und an die neuen transnationalen Realitäten gebunden sind.

Der durchaus als radikal zu bezeichnende sozioökonomische Transformationsprozess der letzten Dekaden in Südkorea zerstörte traditionelle Wertesysteme. Das hat auf individueller und kollektiver Ebene zu Desorientierung, Destabilisierung oder Zerfall alter Institutionen und zu Identitätsverlust und Identitätswandel geführt. Menschen, die nicht vom wirtschaftlichen Fortschritt profitieren, sich der neuen Medienwelt oder den neuen globalen Marktbedingungen nicht gewachsen fühlen, wie Arbeitslose oder auch Hinterbliebene von Selbstmördern, erleben neue Existenzängste. Der Glaube, dass durch die Orientierung an westlichen Lebenszielen und Werten wirtschaftliche Prosperität und Sicherheit garantiert sein würden, hat durch die Wirtschaftskrise Schaden genommen. Die unerwünschten und scheinbar unkontrollierbaren Nebeneffekte der Globalisierung wecken in vielen Koreanern Zweifel, ob die Konfrontation mit der westlichen Kultur und die Übernahme moderner Lebensphilosophien (die oft eine säkulare Weltanschauung propagierten) nicht auf Kosten der nationalen Eigenständigkeit stattgefunden haben. Diese Suche nach einer eigenen kulturellen Identität in Abgrenzung zu einer anderen, im weitesten Sinne westlichen Kultur, deren Werte und Einfluss ursächlich für die Krisensituation (Disharmonie) im eigenen Land verantwortlich gemacht werden, ist eine Reaktion, die als Gegenentwurf und Abgrenzung zu der fremden Kultur verstanden werden muss.

Kollektive Identitäten, die nicht nur objektive Gemeinsamkeitsmerkmale (Sprache, Geographie, Nation, Geschlecht etc.), sondern auch emotionale Komponenten beinhalten, gewinnen im Kontext der fundamentalen Veränderungsprozesse an Bedeutung. In den letzten Dekaden ist durch die Politisierung des Schamanismus eine religiöse Praxis entstanden, die zum Ausdruck einer „urkoreanischer Kultur“ und damit zum Synonym für „Eigenidentität“ geworden ist. Sie schafft - zumindest unter einem Teil der Klienten - ein solidarisches Gefühl und zugleich die Akzeptanz für bestimmte Denkstrukturen, Lebenssituationen und Handlungen.

Diese kulturelle Differenzierung in Form von Selbst- und Fremdzuschreibung spezifischer Traditionen innerhalb des Nationalstaats (aber auch in staatsübergreifender Form) ist ein Prozess der intentionalen Konstruktion kollektiver Identität. Darüber werden letztendlich auch das Selbstbild und die individuelle Identität definiert. Die Konstruktion und Erfahrung einer kollektiven Identität benötigt diesen sozialen Differenzierungsprozess um sich entwickeln zu können, denn erst im sozialen Verhältnis beschreibt Identität die Grenze des Ichs oder des Kollektivs. Der koreanische Schamanismus als eine religiöse Tradition, die das Individuum in ein Kollektiv integriert, betont prinzipiell eine gemeinsame koreanische Abstammung (Beispielsweise: Dangun -Schöpfermythos). Die Tradition des Bezugs auf die Ahnen bedient das Bedürfnis nach diachroner Kontinuität und synchroner Konsistenz. Die Projektion der Gegenwart auf eine (reale oder gedachte) gemeinsame Vergangenheit, in der Götter, Heroen und Ahnen die koreanische Gemeinschaft gegründet, geformt und vor „Fremden“ verteidigt haben, betont eine glorreiche Vergangenheit, die bis in die Gegenwart strahlen soll. Diese Vergangenheit wird insbesondere bei traditionellen Dorfritualen ( maulgut ), mit Personen, Ereignissen oder Orten in Zusammenhang gebracht, die an bestimmte Lokalitäten gebunden sind. Diese Lokalitäten bestätigen und vergegenwärtigen in anschaulicher Form die Kontinuität einer Gruppe.

Das Dorfritual Eunsan byeolsingut aus Süd-Chungcheong

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Schamanenritual auf der Insel Jeju. Am Altar ist neben den typischen bunten Fahnen auch die koreanische Nationalflagge befestigt. Foto: D. Schlottmann

Ein exemplarisches Beispiel ist das Eunsan byeolsingut aus Süd-Chungcheong. Bei diesem Ritual wird der Hüter des Dorfaltars im Dorf Eunsan verehrt. Der Mythos erzählt, dass in der Vergangenheit das Dorf von einer Epidemie heimgesucht wurde, an der besonders die jungen Menschen starben. Einem alten Mann erschien eines Nachts im Traum ein General, der bei der Verteidigung des Baekje-Reiches gefallen war. Dieser ihn bat, seine sterblichen Überreste und die Gebeine seiner gefallenen Soldaten an einem sonnigen Platz zu begraben. Als Dank für die Geste würde er das Dorf von der Krankheit befreien. Die Bewohner des Ortes sammelten die Gebeine ein und zelebrierten ein kleines Ritual um die Verstorbenen zu trösten. Mit der Erfüllung der Bitte endete die Epidemie. Seit dieser Zeit wird das Eunsan byeolsingut zum Wohl und Schutz der Dorfgemeinschaft abgehalten.

Das Ritual findet auf einem kleinen Berg statt. Dort wurde ein Schrein errichtet, in dem der lokale Berggeist und der historische General ( Puksanjanggun ) als Götterbilder ( musindo ) über einem Altar angebracht sind. Das mehrtägige Ritual beinhaltet unter anderem das Abholzen von einigen jungen Bäumen, die nur auf diesem Berg ausgesucht werden dürfen und die dann in Form von „Geisterpfosten“ ( jangseung ) an den Ortsausgängen des Dorfes platziert werden. Auch rituelle Waschungen (bei spiritueller Unreinheit), werden ausschließlich in dem Bach unterhalb des Schreins vorgenommen. Solche speziellen lokalen Bezüge (Schreine; Lokalitäten, die im rituellen Ablauf eine Rolle spielen; spezielle Insignien) finden sich bei allen maulgut . Sie verweisen auf eine Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart und erinnern damit an die kollektive Identität der (Dorf-)Gemeinschaft. So sind traditionelle Dorfrituale (wenn sie nicht als Performance auf einer Bühne vorgeführt werden) an lokale Gruppen und deren Zielsetzungen gebunden und können im Prinzip nur an vordefinierten Lokalitäten stattfinden.

Auch bei Schamanenritualen, die von Einzelpersonen in Auftrag gegeben werden ( chipgut ), stellt sich durch die Verehrung der Ahnen ein lokaler Bezug her. Beim Ritualabschnitt für die Berggeister ( sansingeori ) inkorporieren sich nicht nur die Geister des Ortes, sondern auch die Berggeister aus den Geburts- oder Wohnorten von Vorfahren der Schamanenanhänger. Im Unterschied zu Dorfritualen ermöglicht die Inszenierung von chipgut , eine wahrnehmbare, im Dialog real erfahrbare „Kontinuität der eigenen Person“ in der Abstammungslinie, die eine Existenz in der Gegenwart rechtfertigt und erklärt. Darüber hinaus weisen die einzelnen Schamanentraditionen der verschiedenen Provinzen und die damit verbundenen Eigenheiten in Tanz, Musik, Pantheon und Gestaltung bereits lokale Bezüge auf. Für den Schamanenanhänger sind zugleich die Ahnen und die Entitäten mit lokalem Bezug im Ritual inkorporiert. Die Aufarbeitung des disharmonischen Zustands der Krise kann schließlich zu einer Versöhnung mit der momentanen Lebenslage führen und das Individuum in einen traditionellen, familiären, gesellschaftlichen und/oder nationalen Kontext integrieren.

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Mehrere Generationen von Geisterpfosten am Dorfeingang des Ortes Eusan. Foto: D. Schlottmann

Während ein chipgut individuell beauftragt wird und sich so mit dem direkten sozialen Umfeld der Person beschäftigt, können die in der letzten Dekade neu entstandenen, öffentlich zelebrierten „nationalen Rituale“, die so genannten new naragut , als Rituale für Gruppen verstanden werden. Innerhalb Koreas haben sich durch Krisensituationen viele solcher Gruppen als Subkulturen gebildet, wozu auch koreanische Subkulturen in anderen Ländern gehören. Für diese werden Rituale durchgeführt wie zum Beispiel für die Gruppe der Arbeitslosen. Charakteristisch für diese Gruppierungen ist das Bedürfnis, die eigene Identität, die als destabilisiert empfunden wird, über eine neue/alte kollektive Identität zu definieren, die zumeist gleichgesetzt wird mit unterschiedlichsten Vorstellungen von koreanischer Nationalität, Tradition, Religion oder Kultur. Koreanische Schamaninnen bieten diesen Gruppierungen in den New naragut -Ritualen ein religiös-spirituelles Identifikationspotential, das auf der einen Seite reintegrative Funktion für spezifische Klientengruppen besitzt und auf der anderen Seite Lösungsansätze für die Bewältigung der Krise birgt. Probleme und Krisen der Gegenwart (im schamanischen Sinne „disharmonische Zustände“) werden durch die Hinwendung zur schamanischen Götterwelt spirituellen Mächten übergeben und damit aus der eigenen Verantwortung entlassen. Die Schamanin bietet Hinweise, Handlungsanweisungen oder Orientierungshilfen zur Überwindung der Krise. Die Öffentlichkeit unterstützt solche kollektiven Krisenbewältigungen, weil sich die Betroffenen als Teil einer Gruppe mit einer kollektiven Identität wahrnehmen, die ein ähnliches Schicksal teilt oder aber weil die Solidarität der Anwesenden zur Ermutigung, Versöhnung oder Motivation beiträgt (zum Beispiel die comfort women ).

Im neuen Millennium haben koreanische Schamaninnen alternative Wege gefunden, ihre herkömmlichen Aufgaben in eine veränderte Gesellschaft zu integrieren und auf diese Weise konsequent für den Erhalt und die Kontinuität schamanischer Ritualpraxis gesorgt. Diese Entwicklung ist zum Teil das Ergebnis eines ethnisch-nationalen Selbstfindungsprozesses, der bereits während der japanischen Besatzungszeit begonnen hat, als der koreanische Schamanismus von den Japanern verfolgt wurde. Bei der Suche nach kulturellen und nationalen Wurzeln entwickelten sich Vorstellungen von Nation und Nationalkultur des Landes in einem oft politisch motivierten Differenzierungsprozess. Die Gemeinschaft wurde konstruiert durch die Wahrnehmung der Anderen und die gleichzeitige Abgrenzung vor dem „ Fremden“. Andererseits förderte dieser Prozess das Interesse am koreanischen Schamanismus, der abwechselnd als Protestkultur, urkoreanisches Kulturgut oder Symbol gegen kulturelle Globalisierung oder auch als Quelle der indigenen Kunstformen verstanden wurde. Die Renaissance der schamanischen Ritualpraxis ist demzufolge eng verbunden mit Vorstellungen von kollektiver nationaler Identität, die sich in der turbulenten Geschichte Koreas des letzten Jahrhunderts entwickelten und die dem Wertepluralismus und der fragmentierten Sozialwelt der modernen Gesellschaft traditionelle Konzepte der Problemlösung und Orientierung entgegenstellt. Diese Konzepte fallen offensichtlich auf fruchtbaren Boden, weil gerade der Verlust tradierter Lebensformen als Destabilisierung von individuellen und sozialen Identitäten wahrgenommen wird.

Weiterführende Literatur

Knödel, Susanne (1998): Heilrituale und Handys – Schamaninnen in Korea. Hg. v. Hamburgischen Museum für Völkerkunde. Hamburg: Dölling und Galitz
Stoffel, Berno (2001): Schamanismus in Südkorea und die Wirtschaftskrise 1997/1998. Frankfurt/M: Peter Lang Verlag
Kim, Chongho (2003): Korean Shamanism. The cultural paradox. Burlington: Ashgate Publishing Company
Schlottmann, Dirk (2007): Koreanischer Schamanismus im neuen Millennium. Frankfurt/M: Peter Lang Verlag

Zum Autor

Dr. Dirk Schlottmann ist Ethnologe und Bildjournalist. Feldforschung 2002-2004 in Südkorea zum Thema „Koreanischer Schamanismus und Moderne“, promovierte in Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008