DAS GEHEIMNIS AM ROOPKUND-SEE

Interview mit dem Ethnologen Prof. Dr. William Sax zum Film „Skeleton Lake“ (Indien, 2004)

Von Anne Schmid-Stampfer

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Prof. Dr. William Sax. Foto: W. Sax

In den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts machten Waldarbeiter in der Garwhal-Region des indischen Bundesstaates Uttaranchal am Roopkund-See auf 5000 m Höhe einen sensationellen Fund. Am Ufer des Sees lagerten die Gebeine und Überreste von ca. 600 Menschen. Dieser Fund führte in der Fachwelt zu vielen Spekulationen: Warum sind die Menschen am Roopkund-See umgekommen? Woher kamen sie, und wer waren sie? Erst eine Expedition im Jahr 2004, die die US-amerikanische National Geographic Society in Auftrag gegeben hatte, kam dem Geheimnis am Roopkund auf die Spur. Die Expedition bestand aus einer Reihe von internationalen Wissenschaftlern wie Archäologen, Paläoanthropologen und Ethnologen. Mit dabei war auch der Heidelberger Ethnologe Prof. Dr. William Sax, Leiter der Abteilung des Südasieninstituts Heidelberg. Als Spezialist für den westlichen und zentralen Himalaja hatte er die wissenschaftliche Leitung der Expedition übernommen.
Ein Filmteam der indischen Filmgesellschaft Miditech begleitete die Wissenschaftler. Das Ergebnis der Expedition ist der Film „Skeleton Lake“, den der amerikanische Sender National Geographic Channel im November 2004 zum ersten Mal in Amerika ausstrahlte. Inzwischen wurde „Skeleton Lake“ schon mit großem Erfolg in Ländern wie Indien und Italien gesendet.

Frage : Der Film „Skeleton Lake“ führt uns auf das Dach der Welt in etwa 5000 m Höhe in die karge Bergwelt des Garwhal-Himalaja Nordindiens an die Ufer des Roopkund-Sees. Dort ruhte seit Jahrhunderten ein Geheimnis. Um welches Geheimnis handelt es sich?

Sax : Am und im Roopkund-See lagern seit Jahrhunderten eine große Anzahl von menschlichen Gebeinen, deren Herkunft im Dunkeln liegt. „Warum sind die Menschen dort gestorben?“, „Wer waren sie?“, „Woher kamen sie, und wohin wollten sie?“ - dies sind die entscheidenden Fragen, mit denen sich der Film befasst. Eine Untersuchung aus den 60er-Jahren der Universität Michigan datierte das Alter der Knochen auf ca. 800 Jahre, und die einheimischen Mythen und Legenden nahmen auf das Geschehen am Rookpund-See Bezug – so viel war bislang bekannt.

Frage : Der amerikanische Sender „National Geographic Channel“ strahlte „Skeleton Lake“ als Teil einer Serie „Riddles of the death“ (Geheimnisse der Toten) im November 2004 aus. Sie haben als wissenschaftlicher Leiter in Zusammenarbeit mit indischen und anderen internationalen Wissenschaftlern die Filmarbeiten begleitet. Wie kam es zu diesem Filmprojekt?

Sax : Da ich schon seit 25 Jahren in dieser Region forsche und mich mit dem Kult der Göttin Nanda Devi befasse, wurde das Filmteam auf mich aufmerksam. Schon in meiner Dissertation habe ich mich mit der Pilgerfahrt zu Ehren der Göttin Nanda Devi befasst, eine Pilgerschaft, die alle 12 Jahre stattfindet - zum letzten Mal im Jahre 2000. Mein Interesse bei dem Filmprojekt galt in erster Linie den lokalen Legenden und Geschichten, die einen Bezug zwischen dem Göttinnenkult und dem Roopkund-Rätsel herstellten, von denen ich mir Hinweise über das Schicksal der Toten am See versprach. Eine Expedition zum Roopkund-See mit internationalen Wissenschaftlern sollte neue Erkenntnisse über die Hintergründe des tragischen Geschehens liefern. Die Geschichte selbst, ihre Einbettung in die Kultur und das große Engagement des jungen indischen Filmteams führten dazu, dass ich die wissenschaftliche Leitung des Films übernahm.

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Roopkund-See. Foto: W. Sax

Frage : Über das Schicksal der Toten am Roopkund-See existierten eine Reihe von verschiedenen Erklärungstheorien, welche Theorien kursierten?

Sax : Eine Region, in der seit mehr als 200 Jahren wichtige Pilger- und Handelsrouten verlaufen, bot verschiedene Antworten auf das Roopkund-Rätsel an. Manche Wissenschaftler vermuteten, dass die Menschen am Roopkund Händler gewesen seien, die auf einer Handelstour ums Leben kamen. Für diese Erklärung sprach die Tatsache, dass im Garwhal in früheren Jahrhunderten Handel zwischen Indien und Tibet stattfand. Laut dem Bericht der ersten wissenschaftlichen Expedition fand man Leichname mit langem Haar, was auf eine mögliche tibetische Herkunft der Menschen hindeutete. Andere Wissenschaftler vertraten die Theorie der „verschwundenen Armee“: Es ist überliefert, dass die Armee eines mittelalterlichen Moghul-Kaisers auf dem Weg nach Tibet verloren gegangen war. Waren die Menschen am Roopkund diese Krieger, die in der Bergwelt des Himalaja aus uns unbekannten Gründen verschollen waren? Wieder andere vermuteten, dass die Menschen an der Pest gestorben seien und dann an den See gebracht wurden.
Die starke Verbindung der Landschaft zur hinduistischen Mythologie schien noch auf eine andere Spur hinzudeuten. Seit Jahrhunderten gilt die Garwhal-Region als Land der heiligen Berge, Flüsse und Seen. Das Ursprungsland des heiligen Flusses Ganges mit dem heiligen Berg Nanda Devi, der als göttliche Nanda verehrt wird, war und ist bevorzugtes Rückzugsgebiet der Eremiten, Sadhus und Swamis. Diese heiligen Männer widmeten sich den Schriften und der Meditation, um dem Göttlichen näher zu kommen. Inschriften belegen, dass Hindu-Mönche in dieser Region religiöse Suizide verübten, allerdings wurde dies nie als kollektives Ereignis nachgewiesen. Man fragte sich, ob es hier einen Zusammenhang zwischen den Toten am Roopkund und der hinduistischen Tradition gab?

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Pilgerreise zu Ehren Nanda Devi. Foto: W. Sax

Ich selbst ging davon aus, dass die Menschen Pilger gewesen sind, die auf einer Pilgerreise waren, auf einer Route, die noch heute von Pilgern genutzt wird.

Aber die Indizien am Roopkund-See sprachen von etwas anderem. Eine Theorie nach der anderen ließ sich ausschließen: Da am See keine Waffen gefunden wurden, konnten die Menschen keine Teile einer Armee gewesen sein. Da man auch Gebeine von Kindern und Frauen fand, war es ausgeschlossen, dass sich Händler auf den Weg gemacht hatten. Die Paläopathologen entschieden, dass Krankheit nicht die Todesursache gewesen sein konnte. Niemand der übrigen Wissenschaftler ging zum Schluss davon aus, dass die toten Menschen Mönche gewesen seien.

Frage : Welche Erklärung blieb übrig? Was ist tatsächlich am Roopkund-See passiert?

Sax : Eine Legende, die die Garwhalis tradierten, gibt uns die Antwort: Eine Gruppe von Pilgern aus Rajasthan machte sich auf eine Pilgerreise. Männer, Frauen und Kinder waren auf dem Weg zum Kult zu Ehren der Göttin Nanda Devi. Am Roopkund-See kamen sie in einem Hagelsturm ums Leben.

Diese Legende lässt sich durch viele Details bestätigen, zum Beispiel durch den Fund von Hunderten von Bambusschirmen, die wir in der Region gefunden haben. Diese Schirme tragen die Menschen nur während einer Pilgerfahrt. Sie deuten auf den religiösen Bezug der Reise hin. Moderne Untersuchungsmethoden haben das Alter der Gebeine neu datiert. Die Universität Oxford hat herausgefunden, dass die Gebeine älter als 1000 Jahre sein müssen - im Gegensatz zu vorhergehenden Annahmen. Der Fund eines gut erhaltenen Körpers hat relativ exakte DNA-Analysen möglich gemacht, die zum Zeitpunkt, als die Filmarbeiten beendet wurden, allerdings noch nicht ganz abgeschlossen waren.

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Schrein zu Ehren Nanda Devi. Foto: W. Sax

Frage : Der Dokumentarfilm „Skeleton Lake“ arbeitet mit unterschiedlichen Effekten. Viele Schnitte, Rückblenden, Zeitsprünge, Ortswechsel und Szenenwechsel machen den Film lebendig und spannend. Diese Mischung aus Dokumentation, Spielfilm und Krimi kommt dem Betrachter ohne Zweifel entgegen. Doch entspricht diese Art des Dokumentarfilms auch den Ansprüchen eines Wissenschaftlers? Können Sie sich in dem Genre dieses „neuen Dokumentarfilms“ wiederfinden?

Sax : Als Ethnologe ging ich mit diesem Film ein gewisses Risiko ein, nämlich das Risiko, dass die indische Kultur und die indigene Bevölkerung exotisiert wird. Von vorneherein war klar, dass dies kein ethnologischer, sondern ein kommerzieller Film wird, produziert von indischen Filmleuten, bestimmt für ein amerikanisches Publikum. Mir gelang es jedoch, so weit Einfluss zu nehmen, dass exotisierende Szenen ausgeschlossen wurden.
Beeindruckt hat mich allerdings, wie professionell das indische Filmteam vorging. Jeder Fakt, der im Film gezeigt wurde, musste wissenschaftlich bestätigt werden. Dies spricht für die gute Arbeit von „National Geographic“. So entstand eine Mischung, die beide Elemente vereint, den wissenschaftlichen und den unterhaltenden Aspekt. Ich selbst fungiere im Film als Vermittler zwischen der einheimischen Kultur und der Öffentlichkeit. Insofern kann ich mich als Wissenschaftler in dem Film durchaus wiederfinden.

Frage : War es nicht brisant, gerade dort, wo die Wiege der indischen Kultur ist, als europäischer Wissenschaftler nach der Erklärung für ein Massengrab zu suchen? Die Antwort auf das Roopkund-Rätsel hätte ein dunkles Kapitel in der Geschichte der indischen Kultur aufschlagen können. Wie war Ihre Zusammenarbeit mit den indischen Wissenschaftlern?

Sax : Die Inder waren selbst an der Auflösung des Roopkund-Rätsels interessiert. Die Zusammenarbeit mit den einheimischen Wissenschaftlern, die am Projekt teilnahmen, verlief in guter Atmosphäre. Da ich schon lange in der Region forsche, bin ich mit vielen regionalen Wissenschaftlern bekannt. Auch in der Bevölkerung genieße ich volles Vertrauen, und ich schätze mich glücklich, dass ich gerade dort forschen kann, wo ich viel Unterstützung für meine wissenschaftliche Arbeit erhalte. In Indien war die Resonanz auf den Film sehr positiv. Ein Zeichen dafür ist die Fanpost, die mich regelmäßig aus Indien erreicht.

Frage : Würden Sie junge Wissenschaftler zur Mitarbeit an ähnlichen Projekten wie „Skeleton Lake“ ermutigen? Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit Ethnologen an einem solchen Projekt teilnehmen?

Sax : Unter bestimmten Voraussetzungen würde ich Wissenschaftler auf jeden Fall zu solchen Projekten ermutigen. Die größte Gefahr bei populären Themen besteht darin, das Fremde zu exotisieren. Sofern es Ethnologen gelingt, dies zu vermeiden, können sie durch solche Filmprojekte einen Beitrag zur Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen leisten.

Frage : Wie sieht Ihre persönliche Planung aus? Gibt es neue Filmprojekte?

Sax : Die indische Filmgesellschaft, die „Skeleton Lake“ gedreht hat, ist sehr an einer weiteren Zusammenarbeit interessiert. Meinen Einsatz mache ich ganz vom jeweiligen Thema abhängig. Nicht jedes Thema eignet sich für einen solchen Film. Grundsätzlich bin ich jedoch für eine Zusammenarbeit bereit. Dies hängt u. a. auch damit zusammen, dass ich das Honorar für den Film in indische Projekte gesteckt habe - ein Projekt zur Frauengesundheit und eine Schule für Kinder von Unberührbaren. Schon allein, um diese Projekte weiter zu unterstützen, würde ich gerne an einem neuen Film mitarbeiten.

Herr Prof. Sax, ich danke Ihnen für dieses Gespräch und wünsche Ihnen für Ihre zukünftige Arbeit viel Erfolg!

Anne Schmid-Stampfer arbeitet in der Informationszentrale für Ethnologie (ethnOnet), Institut für Ethnologie, Universität Heidelberg.
Prof. Dr. William Sax ist Leiter der Abteilung Ethnologie am Südasieninstitut Heidelberg. Seine regionalen Forschungsschwerpunkte sind der westliche und zentrale Himalaja, inhaltlich beschäftigt er sich mit Ritual, Drama und traditionellen Heilmethoden.

Im Auftrag der „National Geographic Society“ hat die indische Filmgesellschaft Miditech den Film „Skeleton Lake“ im Jahr 2004 produziert. Der Film zeigt die Expedition einer Gruppe von internationalen Wissenschaftlern unter Leitung von Prof. Dr. William Sax an den Roopkund-See in Nordwestindien. Der Sender „National Geographic Channel“ strahlte den Film im November 2004 im Rahmen einer Serie „Riddles of the death“ aus.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008