VÄTER DER RITUALTHEORIE

Arnold van Gennep und die Übergangsriten und Victor Turners Begriff der „Liminalität“

Von Ulrike Stohrer

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Aufgebahrter Leichnam, Togo, um 1906. SVD-Archiv Steyl. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Arnold van Genneps Schema der Übergangsriten
Der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873-1957) hat in seinem Hauptwerk Übergangsriten ( Les rites de passage , Paris 1909) weltweit Riten untersucht, die Übergänge begleiten. Van Genneps Interesse galt dabei vor allem der sozialen Bedeutung der Riten. Jede Gesellschaft besteht aus verschiedenen Gruppen, wie Altersklassen, Verwandtschafts-, Berufs-, Religions-, und Statusgruppen, politischen und territorialen Einheiten. Im Laufe seines Lebens wechselt ein Individuum immer wieder seine Gruppenzugehörigkeit. Die Dynamik der Übergänge von einer zur anderen Gruppe kann die Gesellschaft insgesamt in ihrer Stabilität gefährden. Daher werden diese Statuswechsel von Riten begleitet, die gewährleisten, dass das Individuum und die Gruppe sicher von dem einen genau definierten Zustand (zum Beispiel „Kind“) in den neuen, ebenso genau definierten Zustand („Erwachsener“) gelangen, ohne die Sozialordnung als Ganzes zu stören. Bei der Geburt haben Neugeborene die Welt der Ungeborenen verlassen und werden in die Welt der Lebenden eingeführt, Jugendliche werden in der Initiation von der Gruppe der Kinder getrennt und in die der Erwachsenen integriert. Verstorbene müssen bei der Bestattung aus der Welt der Lebenden gelöst und in die Gemeinschaft der Toten überführt werden.

Da Übergangsriten überall die gleiche Funktion der Kontrolle der sozialen Dynamik haben, sind sie in allen Gesellschaften ähnlich ausgeprägt und folgen stets der gleichen Struktur, egal ob in so genannten „primitiven“ oder hochentwickelten Gesellschaften. Van Gennep stellte fest, dass alle Übergangsriten in Analogie zu räumlichen Übergängen oder Grenzüberschreitungen gestaltet werden. Eine Gesellschaft ist somit vorstellbar als ein Haus mit vielen Räumen, der Übergang von einem zum anderen Raum als das Überschreiten einer Türschwelle. Wie van Gennep herausfand, gliedern sich Übergangsriten stets in drei aufeinander folgende Phasen: In die Trennungsphase , die vom alten Ort oder Zustand löst, in die ambivalente Schwellen- oder Umwandlungsphase , in der man quasi zwischen zwei Welten schwebt und weder hier noch dort ist, und schließlich in die Angliederungsphase , die in den neuen Ort oder Zustand integriert.

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Hochzeits(?)-Paar. Indien, um 1930. Bildarchiv der Jesuiten. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Diese drei Phasen werden häufig als Tod, Umwandlung und Wiedergeburt rituell dargestellt. Man stirbt in der alten Welt, befindet sich dann eine Weile in einer Zwischen- oder Totenwelt und wird schließlich in der neuen Welt wiedergeboren. In der Trennungsphase finden vor allem Riten statt, die den alten Zustand beenden (indem Haare geschnitten werden, Kleidung abgelegt oder gewechselt, etwas zerrissen oder zerbrochen wird - zum Beispiel Geschirr beim Polterabend - indem Abschied genommen oder geweint wird). In der Schwellen- oder Umwandlungsphase sind die umzuwandelnden Personen rituell tot. Sie verhalten sich meist passiv (sitzen oder liegen stumm und regungslos), tragen entweder keine oder eine spezielle Kleidung für diesen Anlass, die keinen Sozialstatus erkennen lässt und von der Gesellschaft separiert (Schleier, Masken oder ähnliches). Die Grenzüberschreitung wird häufig auch konkret als Überschreiten einer Schwelle (Braut über die Schwelle tragen), eines Bandes oder ähnlicher Markierung dargestellt. In der Angliederungsphase schließlich werden Riten vollzogen, die das Gruppenmitglied in seinem neuen Status festigen, indem zum Beispiel etwas zusammengebunden wird, gegenseitig Gaben ausgetauscht werden (Eheringe wechseln beispielsweise), etwas gemeinsam getan wird (ein gemeinsames Mahl oder ein gemeinsamer Tanz), neue Kleidung und Statussymbole angelegt werden (etwa eine Ordenstracht).

Die einzelnen Phasen können je nach Anlass unterschiedlich gewichtet und ausgestaltet sein. Bei der Heirat überwiegen Angliederungsriten, bei der Bestattung Trennungsriten. Vor allem die mittlere Phase ist häufig sehr elaboriert und kann sich selbst wieder in mehrere Phasen untergliedern. Auch können neben den eigentlichen Übergangsriten andere Ritenarten wie Reinigungs-, Schutz- oder Fruchtbarkeitsriten in den Gesamtkomplex des Rituals eingebunden sein.

Wichtig ist van Genneps Feststellung, dass Riten naturhafte Prozesse - wie zum Beispiel die Pubertät - nicht einfach abbilden oder nachvollziehen, sondern dass sie soziale Übergänge markieren, die nicht unbedingt mit physischen Veränderungen übereinstimmen müssen. Initiationsriten markieren somit nicht so sehr das Erreichen der physischen Pubertät, sondern definieren vor allem die soziale Reife (Volljährigkeit) der Jugendlichen.

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Hochzeit im griechischen Dorf. Foto: U. Krasberg

Van Gennep belegt das Strukturschema der Übergangsriten durch eine Fülle an Beispielen aus aller Welt (auch Europa), die er nach den verschiedenen Anlässen ordnet. So widmet sich ein Kapitel räumlichen Übergängen wie Grenzüberschreitungen und Gästeempfang, ein anderes der rituellen Eingliederung Fremder in die Gesellschaft. Mehrere Kapitel behandeln Übergangsrituale im individuellen Lebenslauf wie Geburt, Initiation, Heirat und Bestattung; und schließlich werden auch saisonale Übergänge wie Jahreszeitenwechsel und Neujahr oder kalendarische Riten wie Pilgerfahrten behandelt.

Van Genneps Strukturmodell der Übergangsriten erlaubt es, Rituale einer jeden Gesellschaft und jeder Zeit zu analysieren. Es hilft, die Fülle und Komplexität der rituellen Praktiken nach ihrer inneren Logik zu ordnen und zu systematisieren. Daher hat es breite Anwendung in der Ethnologie, aber auch Soziologie, Kulturgeschichte und anderen Gesellschaftswissenschaften gefunden und ist heute bereits zum Allgemeingut geworden.

Victor Turners Begriff der „Liminalität“ Der britische Ethnologe Victor W. Turner (1920-1983) hat in den 1960er-Jahren das von Arnold van Gennep entwickelte Schema der Übergangsriten aufgegriffen und in seinem Buch The Ritual Process. Structure and Anti-Structure (New York, 1969) weiterentwickelt. Turner interessierte sich besonders für die mittlere, die Schwellen- oder liminale (von lateinisch limen - Schwelle) Phase. Diese ist – wie schon van Gennep bemerkte - die entscheidende und in der Regel auch die am stärksten ausgestaltete Phase innerhalb der Übergangsrituale. Hier erfolgt die Umwandlung der Initianden. Sie gehören nicht mehr der alten Statusgruppe an und noch nicht der neuen. Die Initianden gelten zunächst als strukturell tot und verhalten sich ganz passiv. Dann erwachen sie zu einem Leben in einer Zwischenwelt, in einer Gemeinschaft Gleicher, ihrer sozialen Statusmerkmale entkleideter Individuen. Diese Gemeinschaft nennt Turner „Communitas“.

In dieser Phase sind vorübergehend die sozialen Normen außer Kraft gesetzt. Es gelten eigene Regeln. Während die Initianden untereinander in einem Verhältnis der Gleichheit, Vertrautheit und Ungezwungenheit stehen, ist das zu ihren Lehrern, die sie in dieser Phase in die traditionellen Werte der Gesellschaft einführen, durch absoluten Gehorsam und Unterwerfung geprägt. So bestehen in dieser Phase einerseits Aspekte der Freizügigkeit, andererseits aber auch Tabus. Die „Communitas“ setzt der durch Differenzierung und Hierarchie geprägten bestehenden Gesellschaftsstruktur („Societas“) eine Phase der Strukturlosigkeit oder Anti-Struktur entgegen, die von Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Umkehrung der Normen, Paradoxie, Reflexivität und Kreativität geprägt ist. In ihrer Ambivalenz birgt diese Phase einerseits die Gefahr, die bestehende Gesellschaftsstruktur zu stören, bietet aber auch die Möglichkeit, ihr kreatives Potenzial für eine positive Veränderung der Gesellschaft zu nutzen. Im Ritual ist die Communitas nur ein zeitweiliges Gegenbild, das die wahre Ordnung umso plausibler macht und stützt. Es ist keine Utopie, sondern strukturiertes Chaos. Das normwidrige Verhalten der Beteiligten ist in dieser Phase nicht freiwillig, sondern Pflicht.

Die Anti-Struktur tendiert jedoch zunehmend wieder zur Strukturierung und Hierarchisierung und wird so zur Keimzelle der gesellschaftlichen Ordnung. Communitas und Gesellschaft stehen somit in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Die Gesellschaft braucht beides zur Sicherung der Stabilität. Daher hat jede Gesellschaft Ausdrucksformen, die die „Macht der Schwachen“ repräsentieren: marginale Gestalten und Randgruppen wie Heilige, Hofnarren, Clowns, Shamanen, Propheten und Künstler. Turner bezieht seine Theorie nicht nur auf „traditionelle“, sondern ganz explizit auch auf moderne Industriegesellschaften. In modernen Gesellschaften sind liminale Phänomene häufig institutionalisiert im Theater und permanent präsent als Künstler. Sie dienen der Kontrolle und Selbstreflexion der Gesellschaft, da sie diese aus einer anderen Perspektive - vom Rand her – kritisch betrachten. Turner verband in seinen Arbeiten die Ansätze verschiedener Wissenschaftszweige wie Ethnologie, Religionswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Psychologie sowie Theater- und Literaturwissenschaft. In vielen Essays hat er sich mit „liminalen“ Phänomenen wie religiösen Orden und Sekten, Grenzgängern und Schwellenwesen wie den Hippies und Künstlern auseinandergesetzt. Besonders interessierte er sich für das Theater und den Karneval.

Vielfach an seinen Arbeiten kritisiert wurde, dass er zur Idealisierung des kreativen Individuums und der Macht der Schwachen neige. Auch die Essayhaftigkeit seiner Ausführungen, die nur einen geringen Abstraktionsgrad aufweisen und eher Analogien und Assoziationen aneinanderreihen, wird oft bemängelt. Dennoch ist gerade diese Offenheit anregend. Turners vergleichende Symboltheorie und sein Ritualkonzept, die die Dynamik und Prozessshaftigkeit von Ritualen sowie ihr kreatives Potenzial betonen, wurde daher von vielen Sozial- und Kulturwissenschaften aufgegriffen. Gerade in der heutigen, von dramatischen Umbrüchen gekennzeichneten Welt ist Turners Theorie ein geeignetes Instrument zur Ordnung und Interpretation der häufig verwirrenden Vielgestaltigkeit der Phänomene, die in keine der gängigen Kategorien mehr zu passen scheinen.

Weiterführende Literatur

Van Gennep, Arnold (1986): Übergangsriten (Les rites de passage), aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Sylvia Schomburg-Scherff. Frankfurt, New York: Campus Verlag
Kalinock, Sabine (2001): Arnold van Gennep. Les Rites de Passage, in: Christian F. Feest, Karl-Heinz Kohl (Hg.): „Hauptwerke der Ethnologie“, Stuttgart: Kröner Verlag. S. 128-132
Schomburg-Scherff, Sylvia M. (2001): Victor Witter Turner. The Ritual Process, in: Christian F. Feest, Karl-Heinz Kohl (Hg.): „Hauptwerke der Ethnologie“, Stuttgart: Kröner Verlag. S. 485 - 492
Stohrer, Ulrike: Gästeempfang im nördlichen Jemen. Ein Übergangsritual, in: journal-ethnologie 4/2007, www.journal-ethnologie.de
Turner, Victor W. (1989): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt, New York: Campus Verlag
Turner, Victor W. (1989): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt, New York: Campus Verlag

Zur Autorin

Dr. Ulrike Stohrer, Ethnologin, Institut für Historische Ethnologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, Feldforschung im Jemen und in Syrien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008