LEO FROBENIUS' STEREOFOTOGRAFIEN

Präsenz und ethnographische Repräsentation

Von Andreas Ackermann

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Leo Frobenius. Foto: nicht dokumentiert, vor 1938. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung aus dem Katalog zur Ausstellung Im Schatten des Kongo. Leo Frobenius, Stereofotografien 1904 bis 1906 , die vom 1.12.2005 bis 30.4.2006 im Museum der Weltkulturen und im Museum für Kommunikation in Zusammenarbeit mit dem Frobenius-Institut in Frankfurt am Main gezeigt wird.

Ethnographische Repräsentation
Angesichts der vor allem durch die Kolonisierung verstärkt auftretenden Globalisierungsprozesse, zu denen die häufig gewaltsame Verbreitung westlicher Kulturgüter auf Kosten lokaler Kulturgüter zählte, sah sich die Ethnologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der Verantwortung, die kulturellen Äußerungen der Menschen weltweit zu dokumentieren, um sie einer späteren Analyse zugänglich zu machen. Lange vor den aktuellen Globalisierungsdebatten fürchtete man um den Verlust genuiner Kultur und Frobenius zeigte sich beispielsweise davon überzeugt, „ ... d ass ein großer Teil dieses alten afrikanischen Kulturbesitzes unter dem Andrange der Kulturwelle Europas zerstört werden muss und auch leider meist zerstört wird“. Die zentrale Aufgabe der ethnographischen Feldforschung bestand somit in einer möglichst umfassenden Sammeltätigkeit, sowohl des materiellen Bestands einer Kultur als auch ihrer historischen und religiösen Traditionen. Dabei galten Fotografie, Film- und Tonaufnahmen schon früh als wichtige und moderne Hilfsmittel im Feld, wie geschaffen dazu, flüchtige bzw. verschwindende Eindrücke einzufangen und zu verewigen.

Diese Ansicht allerdings, die davon ausgeht, dass Ethnographie vor allem das Sammeln von (Arte-)Fakten bedeute, wobei eine „fortschrittlichere“ Technik auch „bessere“ Ergebnisse liefere, geht von einer laborähnlichen Feldsituation aus. Die Reflexion über Ethnographie vor allem der 1980er-Jahre aber hat dazu geführt, den naiven Glauben an „das Feld“ (als „Labor“) aufzugeben und das Augenmerk auf die Bedeutung der Repräsentation des/der Anderen zu richten.

Ethnographische Repräsentation bedeutet immer die Schaffung von Distanz durch den Hinweis auf kulturelle Differenz, ein Vorgang der von Johannes Fabian als Othering (other= der/die andere) bezeichnet worden ist. Ihm zufolge stellt Repräsentation weniger eine Fähigkeit des menschlichen Geistes dar als vielmehr eine kulturelle Praxis. Denn die Art und Weise, in der die Anderen konstruiert werden, ist gleichzeitig die Art und Weise, in der man sich selbst konstruiert. In dem Bedürfnis der Ethnologen, exotische Orte aufzusuchen (und dort zu filmen bzw. zu fotografieren, ließe sich hinzufügen), vermutet Fabian das Verlangen, seinen Platz in der Welt zu finden bzw. zu verteidigen und, indem man Othering betreibt, Präsenz zu gewinnen.

Die Ethnologen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vollzogen dieses Othering, indem sie die Einzigartigkeit des konkreten Menschen in ein abstraktes Objekt auflösten, „den Kuiluneger“ beispielsweise, wie er aus der Sicht von Frobenius existiert. Der Ethnograph war überzeugt, der anderen Kultur gegenüber nicht nur besonders sensibel, sondern ihren Angehörigen gegenüber auch überlegen zu sein. Er ging davon aus, dass er der Einzige war, der sie vollständig verstand. Kannte er doch nicht nur die Innensicht der Kultur, sondern auch die Außensicht, denn er schaute gleichermaßen von oben auf die Gesellschaft herab. Diese Haltung spiegelte sich nicht nur in Bemerkungen rassistischen Charakters, sondern auch in dem Gefühl des Wissenschaftlers, über die anderen verfügen zu können: „Photographiert, Besitzgefühl: Ich bin es, der sie beschreiben oder erschaffen wird“, schreibt Malinowski 1917 in sein Tagebuch.

Hans Fischer hat in seiner Studie über die Hamburger Südsee-Expedition (1908-1910) darauf hingewiesen, mit welcher „Chuzpe ... man von der Tatsache kaum Notiz nahm, dass man es mit Menschen zu tun hatte“. Das Bedürfnis nach Distanzierung bzw. Othering war häufig so stark, dass man die gemeinsamen menschlichen Qualitäten übersah und die Anderen gleichsam als naturwissenschaftlich zu beobachtende Vögel und Reptilien behandelte. Dies umso stärker, je mehr Europäer gemeinsam auftraten, je isolierter sie sich hielten, je größer ihre Macht war und je stärker sie eigene Interessen vertraten. So steht die Art und Weise des Sammelns von Objekten aus der materiellen Kultur fremder Völker exemplarisch für die koloniale Situation im Allgemeinen: Begehrte Gegenstände wurden auch schon mal ohne Einverständnis des Eigentümers mitgenommen oder diese zum Verkauf gezwungen, die Einheimischen wurden überredet und überrumpelt, Preise ihnen diktiert.

Feldforschung und visuelles Othering

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Leo Frobenius und Kaiser Wilhelm II. (Ausschnitt). Foto: Museum für Kommunikation, Frankfurtam Main

Der Hauptzweck von Frobenius' Forschungsreise in den Kongo bestand im Sammeln möglichst vieler Ethnographica sowie in der Dokumentation ihres Kontextes, entweder durch Fotografie oder Zeichnung. Er bewegte sich dabei in einem Gebiet, das zwei Jahre später in dem Bericht über die so genannten „Kongogreuel“ Schlagzeilen machen sollte. Die Situation war aufgrund der kolonialen Übergriffe und der rigorosen Ausbeutung derart angespannt, dass Frobenius nur unter dem Schutz (s)einer Polizeitruppe reisen konnte. Es verwundert daher nicht, wenn er immer wieder davon berichtet, dass die Bewohner bei Erscheinen der Expedition flüchten.

Aber auch aufgrund des Umstandes, dass Frobenius immer nur kurz an einem Ort verweilte, konnte eine vertrauensvolle Beziehung zu den jeweiligen Bewohnern gar nicht erst entstehen. Sowohl die Materialsammlung als auch die fotografische Dokumentation dürfte unter diesen Umständen eher einem Raubzug geglichen haben. Insofern ist die Bildunterschrift „Meine Sammler kehren mit guter Beute heim“ keineswegs in übertragenem Sinne gemeint. Der Umstand, dass die Eigentümer häufig gar nicht verkaufen wollten, unterscheidet die Frage des Sammelns nicht von anderen wissenschaftlichen Tätigkeiten. Die Einheimischen wollten sich vielfach auch weder vermessen noch fotographieren oder befragen lassen. Zu guter Letzt muss der Umstand berücksichtigt werden, dass Frobenius die Fotografie – zu einer Zeit, da viele (auch Europäer) das Fotografieren als einen ‚Seelenraub’ empfanden – gelegentlich auch als Waffe bzw. Medium der Bestrafung einsetzte.

Mehrdeutigkeit und Präsenz

Das Problem der ethnographischen Repräsentation ist keines, für das es eine endgültige darstellungstechnische Lösung gäbe, es bleibt ein Dilemma, mit dem sich die Ethnologie grundsätzlich und immer wieder aufs Neue konfrontiert sieht. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, den Aspekt der unkontrollierbaren Mehrdeutigkeit jeden Bildes aufzugreifen.

Ein Sprichwort behauptet zwar, ein Bild sage mehr als tausend Worte, das Gegenteil aber ist der Fall – es bedarf vieler Worte, um ein Bild verstehen zu können. Nehmen wir Frobenius’ Aufnahme von Tauwamba, einem Führer der Ekongo-Badinga 2081_neu03 . Die Bildlegende in Frobenius’ Reisebericht informiert den Leser, dass dieser „... nach seiner Rückkehr, in Kriegsfrisur“ fotografiert wurde. Doch erst die Erzählung Frobenius’ im Text enthält die nötigen Informationen, um das Bild verstehen zu können. Tauwamba war von Frobenius als Dolmetscher und Organisator angeheuert worden, war nicht „... wie die andern ein roh von der Natur weggepflückter ‚Wilder’. Er hatte schon früher eineinhalb Jahre lang als Arbeiter auf dem Kuilu-Steamer und dann noch ein Jahr lang auf der Station Mitschakila in europäischem Solde gearbeitet.“ Die Geschichte begann damit, dass eines Tages ein Huhn mit einigen Küken im Lager verschwindet und nach ein paar Tagen auch die angeheuerten Badinga, darunter auch Tauwamba. Frobenius begibt sich zum Dorf Ekongo der Badinga, um dort nach dem Verbleib seiner Helfer zu suchen. Die Situation eskaliert, und Frobenius erschießt zwei oder drei Badinga. Nach zwei Tagen kommen Tauwamba und die Badinga zurück – sie sind von ihrem „arg geängstigten Häuptling“, der jede weitere Auseinandersetzung mit Frobenius vermeiden will, unter Druck gesetzt worden. Zwar nimmt der Expeditionsleiter die Rückkehrer großmütig wieder auf, aber Tauwamba, der sich in Ekongo die auf dem Bild zu sehende Kriegsfrisur ins Haar hatte schneiden lassen, „... muss es sich gefallen lassen, dass ich ihm seine neue Schönheit raube, indem ich ihm mit der Schere auch den übrig gebliebenen Teil der Frisur abschneide“. Die Umstände lassen darauf schließen, dass jene Aufnahme kurz vor dieser Demütigung zustande kam, was die überaus melancholische Anmutung der abgebildeten Person plausibel macht.

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Tauwamba. Stereofotografie. Frobenius-Institut, Frankfurt am Main

Ein Bild ohne Kontextualisierung ist voll richtungslosen Potenzials. Im Unterschied zu beschreibenden Texten, die immer auch einen Kontext bieten, kann es vom Betrachter in höchst unterschiedlichen Richtungen interpretiert werden. Dies gilt sicherlich auch für einige Bilder der Ausstellung, allen voran die Abbildung 2492 , die im ersten Moment wohl die Assoziation „Sklaverei“ hervorrufen dürfte, wobei der Umstand, dass ausnahmslos barbusige Frauen aneinander gekettet sind, für einen zusätzlichen voyeuristischen Beigeschmack sorgt. Die Bildunterschrift „Frauengefängnis“ verstärkt diesen Eindruck noch. Auch hier bedarf es des Kontextes, um die Bedeutung des Bildes zu erschließen. Als Frobenius nämlich in einer Unterhaltung mit Fullu Matumba „Disziplinprobleme“ mit den Frauen seiner „Boys“ erwähnt, rät ihm der Fürst, die Übeltäterinnen an die Kette legen zu lassen, wie er es auch gelegentlich tue. Frobenius erfährt, dass der Fürst in seinem mit 50 Häusern besetzten Gehöft eine Reihe von 30 Frauen an der Kette hatte (die er offensichtlich fotografiert), und beschließt, diesem Beispiel zu folgen: „Ich strafte die Frau Schambas, indem ich sie für zwei Tage mit in diese Kette aufnehmen ließ, denn eine Untersuchung ergab, dass sie im vorliegenden Falle nicht nur den Grund zu Ehestreite gegeben, sondern die anderen Weiber auch aufgehetzt hatte.“

In diesem Zusammenhang wird aber auch deutlich, dass ein Aspekt der Mehrdeutigkeit von Bildern auch darin begründet liegt, dass sich der Prozess der Repräsentation auf zwei Ebenen vollzieht: einer bewussten, offen zutage liegenden, und einer unbewussten und unterdrückten, wobei Erstere häufig als ‚Bemäntelung’ der Letzteren dient. Das durch die Praktiken der Repräsentation produzierte Visuelle stellt nur die eine Hälfte der Geschichte dar, die andere Hälfte, jene tiefere Bedeutung, liegt eben darin, was nicht gesagt, aber fantasiert wird, was impliziert ist, aber nicht offen gezeigt werden kann bzw. höchstens im Rahmen der „wissenschaftlichen Dokumentation“ etwa von Körperhaltungen und -proportionen. Insofern sagen manche Bilder unter Umständen mehr über die Person des Fotografen als über die Fotografierten aus, vor allem aber können sie auch gegen seine Intention gelesen werden: Anstelle der fortschreitenden Zivilisation erblickt man aus heutigem Abstand vor allem die Kolonialisierung von Natur und Menschen. Wo Unberührtheit oder Rückständigkeit dokumentiert werden sollten, sieht der heutige Blick erzwungene Posen, die jene Behauptung Lügen strafen. Anstelle von Erotik bzw. Sinnlichkeit empfindet der gegenwärtige Betrachter einen schalen und ausbeuterischen Voyeurismus.

Vor allem aber schafft das Bild Präsenz . Noch bei einem typisierten Abbild sieht man den Menschen. Dies gilt für die Stereofotografien von Frobenius in zweierlei Hinsicht: Zum einen führten die notwendig langen Belichtungszeiten jener Zeit zu einer „salzsäulenhaften Steifheit“ (Theye) der Modelle, deren lebloser Körper nur mehr dem Halten der Kleidung, zur Befestigung des Schmuckes oder der Waffen diente. Gleichzeitig aber „... liegt eine große und auch heute noch fühlbare Ruhe und Würde in den Fotografien, eine Art von Selbstbesinnung“, die einem die Abgebildeten wieder näher bringt. Der räumliche Effekt der Stereofotografien aber verstärkt diesen Aspekt noch zusätzlich (während ihre Bühnenbildhaftigkeit wiederum den Repräsentationscharakter unterstreicht). Dies führt letztlich dazu, dass die Anderen als Abgebildete zwischen der Präsenz und der Repräsentation gleichsam oszillieren. Die Fotografie besitzt in besonderem Maße die Möglichkeit, die Anderen präsent werden zu lassen, und eine stärkere Berücksichtung des Visuellen in der Ethnologie könnte zu einer Anerkennung der Anderen im Sinne Fabians beitragen – einer Anerkennung, die sich nicht auf Repräsentationen der Anderen beschränkt (die letztlich immer auf deren Abwesenheit gründen), sondern diese präsent werden lässt.

Weiterführende Literatur

Fabian, Johannes (1993): Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben. In: Eberhard Berg / Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 335-364
Fischer, Hans (1981): Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus. Frankfurt am Main: Syndikat
Frobenius, Leo (1907a): Im Schatten des Kongo-Staates. Bericht über den Verlauf der ersten Reisen der D. I. A. F. E. von 1904-1906, über deren Forschungen und Beobachtungen auf geographischem und kolonialwirtschaftlichem Gebiet. Berlin: Georg Reimer
Frobenius, Leo (1907b): Kolonialwirtschaftliches aus dem Kongo-Kassai-Gebiet. Eigene Beobachtungen. Hamburg: L. Friedrichsen & Co. Sonderabzug aus den Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, Band XXII
Frobenius, Leo (1921): Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre. München: Beck
Malinowski, Bronislaw (1986): Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Neuguinea 1914-1918. Frankfurt am Main: Syndikat
Theye, Thomas (Hrsg.) (1989): Der geraubte Schatten. Photographie als ethnographisches Dokument. München und Luzern: C. J. Bucher


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008