INDIEN - MIT TRADITION UND MODERNE

Von Frank Heidemann

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Die Lokalelite der südindischen Nilgiri Berge, Badaga, ist wochentags in modernen Berufen tätig. Hier trägt sie die Kleidung ihrer Kaste auf einem Fest für die Dorfgottheit. Foto: F. Heidemann

Die indische Gesellschaft wird von der euro-amerikanischen Autorenschaft sowohl in populären Magazinen als auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht selten „zwischen Tradition und Moderne“ lokalisiert. Diese Verortung suggeriert eine verlorene Tradition und zugleich das Fehlen einer Moderne. Ich halte dies für ein falsches Bild und würde es vorziehen - wenn man schon mit dieser Opposition spielt -, das „zwischen“ durch ein einschließendes „mit“ zu ersetzen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens ist eine Tradition nichts Starres, sondern wird stets neu bestimmt; sie ist eine Konstruktion der Gegenwart und ändert sich mit der Perspektive des Betrachters, also auch mit der Zeit. Die Moderne ist so vielfältig wie ihre Interpreten, und es gibt keinen privilegierten Standpunkt, um sie zu definieren. Das, was meist unter „Tradition und Moderne“ verstanden wird, ist eine Opposition, die sich selbst hervorbringt. Somit erscheint mir das „zwischen“, unabhängig vom Bezugsland Indien, von vorneherein als eine recht unglücklich gewählte Präposition. In Bayern präsentiert man sich gerne mit dem Slogan „Mit Laptop und Lederhosen“ eine Identität, die beide Pole vereint. Das Problem scheint eher die Exklusivität dieser Metapher zu sein, mit der ein logischer Zusammenhang als eigene kulturelle Leistung gefeiert wird. Dies leitet über zum zweiten Problem: Mit dem „zwischen“ wird eine historische und gesellschaftliche Position suggeriert, die - salopp gesagt - nicht Fisch und nicht Fleisch ist. Sie verweist auf nichts Halbes und nichts Ganzes und kann somit nur eingeschränkt handlungsfähig sein. Eine Gesellschaft zwischen zwei Orientierungen sitzt zwischen den Stühlen. Wer dies am Ort der selbst deklarierten Moderne (die Postmoderne eingeschlossen) zu Papier bringt und dabei auf andere Kontinente verweist, verweigert dem Adressaten seine Zeitgenossenschaft, wie es Johannes Fabian (1983) treffend formulierte. Und drittens trifft das „zwischen“ für Indien weder inhaltlich oder sachlich, weder ethnographisch noch historisch zu. Darum soll es im Folgenden gehen.

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Junge Mütter vertrauen im ländlichen Orissa gleichermaßen auf die überlieferten Heilbehandlungen und auf die westliche Medizin. Foto: F. Heidemann

Es gibt viele Gründe, die Gesellschaft in Indien als alte Zivilisation zu bezeichnen. Die mehr als zweitausendfünfundert Jahre alten Epen leben in Form von Fernsehserien fort, Rituale werden nach alten Vorlagen durchgeführt, und die Einteilung der Gesellschaft in varna und jati („Stände“ und „Kasten“) ist ebenso alt. Ich kann zwar nicht beurteilen, ob Benares (Varanasi) wirklich die älteste dauerhaft bewohnte Stadt der Welt ist, doch kenne ich keine Gesellschaft, die sich in der Gegenwart stärker als die indische auf ältere Texte beruft, und sich selbst in einer solchen kontinuierlichen Tradition sieht. Gleichzeitig gehört Indien zweifellos zu den technologisch am höchsten entwickelten Ländern der Welt, produziert seit Jahrzehnten Atomstrom und exportiert weltweit nicht nur Kinofilme. Wenn man Demokratie - also Macht auf Zeit und Machtwechsel ohne Blutvergießen, demokratische Wahlen und Pressefreiheit - als einen weiteren Eckpfeiler der Moderne sehen möchte, so kann Indien gleichermaßen auf eine äußerst stabile Bilanz zurückschauen. Ohne die Verletzungen von Menschenrechten und die Vernachlässigung des Umweltschutzes – bei dem sich Indien in der besten Gesellschaft befindet – leugnen zu wollen, so bleibt für mich als Bilanz auf der Makroebene, dass Indien überdeutlich traditionell und modern ist. Daran ändert auch die oft skurrile Repräsentation Indiens in europäischen Massenmedien nichts. Fern ab von Europa wird unser Kontinent auch mit „Ehrenmorden“ in Deutschland, mit verunglimpfenden Cartoons in Dänemark, Unruhen in den Vorstädten von Paris oder Parlamentsschlägereien in Italien assoziiert. Zumindest sind meine Gesprächspartner in Indien über diese Themen gut informiert.

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Frauen kehren im ländlichen Orissa von einem Wochenmarkt zurück in ihre Dörfer. Foto: F. Heidemann

Die Vielzahl der Blickwinkel auf die indische Gesellschaft möchte ich im Folgenden der Einfachheit halber anhand von drei Autoren vorstellen. Sie verorten die Entstehung ihrer wesentlichen Merkmale in verschiedenen Zeiträumen, die man stark vereinfacht als „vorkolonial“, „kolonial“ und „postkolonial“ bezeichnen kann. Louis Dumont steht für den ersten Ansatz, da er grundlegende Strukturprinzipien bereits in alten sanskritischen Texten findet. Dagegen vertritt Nicholas Dirks die These, dass erst in der Kolonialzeit Kasten zu einem Politikum und zum stärksten Identifikationsfaktor geworden sind. Und schließlich betont André Béteille die Handlungsmacht der Individuen, lehnt die Dichotomie Ost-West ab, und schreibt dem Kastensystem im urbanen Indien wenig Bedeutung zu. Auch hier möchte ich dafür plädieren, diese Ansätze eher komplementär und weniger exklusiv zu behandeln.

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Bondo rasten am Dorfrand, bevor sie vom Wochenmarkt in ihre Weiler zurückkehren (Orissa). Foto: F. Heidemann

Louis Dumont hat mit seinem Werk „Homo Hierarchicus“ (1980) den wohl wichtigsten Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft in Indien geleistet. (Die deutsche Übersetzung des franz. Originals von 1966 trägt den Titel: Gesellschaft in Indien, Wien 1976.) In der Einleitung legt er die methodischen Probleme einer vergleichenden Soziologie dar, die ihren Ursprung, ihre Terminologie und ihren Bezugspunkt im modernen Europa hat. Aus dieser Perspektive fällt es schwer, sich Gerechtigkeit außerhalb einer Ideologie des Individualismus vorzustellen, und Vorstellungen von Gerechtigkeit auch mit dem Prinzip der Hierarchie zu verbinden. Daher plädiert er für eine „Soziologie Indiens“, die von einer südasiatischen Geschichte ausgeht. Zentral ist die Vorstellung von Reinheit, genauer: vom Gegensatz von Rein und Unrein, der drei zentrale Strukturmerkmale (Hierarchie, Separation, Interdependenz) in sich vereint. Mit dieser Ideologie von Reinheit werden in der Tat bis heute grundlegende Aspekte von Gesellschaft beurteilt. Die Trennung der Kasten, die Beurteilung von beruflichen Tätigkeiten, Raum und Zeit, all dies kann nicht ohne Hinzuziehung der zweifellos vorkolonialen Ideologie von Reinheit verstanden werden. Hierarchie gilt nicht als Hindernis, sondern als Ordnungsprinzip der Welt. Nach Dumont beinhaltet jede bewusste Entscheidung ein Urteil, das ohne eine Hierarchie der Werte nicht möglich wäre.

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In den handgefertigen Taschen der Marktbesucher finden sich nicht selten Produkte der Moderne (Orissa). Foto: F. Heidemann

Nicholas Dirks hat mit seinem Werk „Castes of Mind“ (2001) die langfristigen Folgen der kolonialen Durchdringung Indiens, vor allem die Kolonisation des Geistes, aufgezeigt. Nach Dirks waren Kasten vor der Ankunft der Briten keine festen Einheiten und bildeten nur eine unter vielen Möglichkeiten der Identifikation. Durch die Praxis der Volkszählungen (bei denen sich jede Person zu einer Kategorie bekennen musste), durch die Festlegung einer Kastenhierarchie in Listen und Handbüchern, und durch die Zuschreibung kollektiver Identitäten wurden die Kasten zur wichtigsten sozialen Kategorie und jeweils mit spezifischen Qualitäten assoziiert. Somit erhielten einige Gruppen den Zusatz „kriminell“, weil sie als „traditionelle Viehdiebe“ betitelt wurden, andere galten als wehrhaft und somit für den Dienst in der Armee geeignet, und weitere wurden als Schriftgelehrte zugeordnet. Da zudem die Verteilung von staatlichen Mitteln an bedürftige und unterdrückte Kasten (oder „Kastenlosen“) erfolgte, bekam die Verwaltungskategorie „scheduled castes and tribes“ eine weitere Relevanz: durch sie wurden materielle Zuwendungen gesteuert. Somit war, nach Dirks, die Grundlage für eine Politisierung von Kaste gelegt, die bis heute wirkmächtig ist. Dirks argumentiert gegen Dumont, da er sich einerseits gegen die als zu absolut empfundene Dichotomie „Ost-West“ wehrt und sieht nicht (wie Dumont) die Brahmanen, sondern die Könige an der Spitze der indischen Gesellschaft.

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Die Boutique "Ethnic" vermarktet Mode nach traditionellen Vorbildern (Madras). Foto: F. Heidemann

André Béteille (1998) legt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf gesellschaftliche Entwicklungen nach der politischen Unabhängigkeit Indiens 1947. Er argumentiert gegen Dumont, indem er die Bedeutung der Reinheitsvorstellungen zurückweist und (implizit) auch gegen Dirks, wenn er die Handlungsmacht der indischen Bauern und die Gestaltungsmacht der indischen Stadtbevölkerung betont. Für Béteille sind Kasten heute – abgesehen von der Wahl des Ehepartners – von geringer Bedeutung. Er beschreibt das städtische Indien als eine kreative Aneignung der Moderne, als eine Gesellschaft mit einer großen Mittelschicht (über 200 Millionen Individuen), die in modernen Berufen arbeitet und sich keinesfalls von den „traditionellen“ Vorstellungen von Reinheit beeinflussen lassen. Hier gelten die gleichen Grundorientierungen wie in allen Metropolen; Menschen agieren rational und zielorientiert, und können sich offensichtlich in einer globalisierten Welt bestens behaupten. Ohne Zweifel finden wir sowohl augenscheinlich sowie auch in Wirtschaftsstatistiken die Belege für diese Sichtweise.

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Die ehemalige Ministerpräsidentin des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu, Jayalalitha, (im Bild mit Vorgänger M.G. Ramachandran) verbindet in ihrer politischen Rhetorik Aspekte von Tradition und Moderne. Foto: F. Heidemann

Die Gesellschaft in Indien hat ihre eigene Moderne entwickelt, sich als wandlungswillig und global anschlussfähig erwiesen. Sie hat dabei jedoch keineswegs ihre spezifische Wertorientierung verloren. Die Kritiker von Dumont übersehen, dass eine Ideologie im Diskurs auch dann weiterlebt, wenn sie an materieller Relevanz verloren hat. Die Zurückweisung von Dirks These, dass in der Kolonialzeit Kaste zu dem wurde, was sie heute ist, übersieht zu leicht die Politisierung dieser fundamentalen Kategorie. Und dem Vorwurf an Béteille, er würde die Bedeutungsfelder der indischen Moderne hinter der recht westlichen Fassade übersehen, muss mit einer überwältigenden Empirie entgegnet werden. Die Sinnstiftung findet in der Gegenwart und immer vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte statt. Somit sind auch in Indien Tradition und Moderne als zwei Aspekte der Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung eng miteinander verwoben.

Weiterführende Literatur

Béteille, André (1998): Caste in Contemporary India, in: C.J. Fuller (ed.): Caste Today. New Delhi. S. 150-179
Dirks, Nicholas (2001): Castes of Mind. Colonialism and the Making of Modern India. Princeton
Dumont, Louis (1980): Homo Hierarchicus. The Caste System and Its Implications. Chicago
Fabian, Johannes (1983): Time and the Other. How the Anthropologist Makes his Object. New York
Heidemann, Frank (2004): Buchbesprechung von N. Dirks, Castes of Mind, in: Zeitschrift für Ethnologie, 129 (2). S. 315-17
Heidemann, Frank (2006): Akka Bakka. Religion, Politik und duale Souveränität der Badaga in den Nilgiri Süd-Indiens. Münster

Zum Autor

Frank Heidemann ist Professor für Ethnologie und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit den Schwerpunkten "Visuelle Anthropologie" und "Politische Anthropologie". Langjährige Feldforschungen in Indien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008