BEI DEN MINANGKABAU

Geschlechterbeziehungen in Westsumatra, Indonesien

Von Ute Metje

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Händlerinnen auf dem Markt im Hochland. Foto: U. Metje

Die Minangkabau faszinieren durch eine Besonderheit ihrer Kultur: der starken Position der Frauen einerseits und den patriarchalischen Erscheinungsformen des Islam andererseits. Beide Aspekte sind in der Gesellschaft fest verankert und bilden die Grundlage der Kultur der Minangkabau. Seit der Unabhängigkeit Indonesiens 1945 verändern kultureller Wandel, Staatspolitik sowie die Zunahme muslimischer Werte das tradierte Geschlechterverhältnis, und die geschlechtssymmetrischen Strukturen geraten aus der Balance.

Die Provinz Westsumatra, das Siedlungsgebiet der Minangkabau, weist ein uneinheitliches Bild auf: Auf der einen Seite existieren Regionen, in denen noch streng nach den Regeln des adat , des tradierten Rechts- und Normensystems, gelebt wird. Auf der anderen Seite wandern aufgrund ökonomischer Zwänge immer mehr Menschen aus der angestammten Heimat ab und setzen damit einen Prozess kultureller und sozialer Veränderungen in Gang. Diese Emigranten siedeln nicht nur in weiter entfernten Regionen oder auf anderen indonesischen Inseln, sie bevölkern auch direkt benachbarte Gebiete ihres Stammlandes. Aufgrund dieser Migration haben sich städtische Zentren und an das Heimatgebiet angrenzende Bezirke gebildet, in denen tradierte Werte und moderne Rechtsprechung nebeneinander existieren.

Die Minangkabau sind weltweit die größte existierende matrilineare Gesellschaft und gleichzeitig gläubige Muslime (matrilinear heißt, dass die Erbfolge in mütterlicher Linie vorgenommen wird). Sie zeichnen sich durch eine beispielhafte Koexistenz zweier gesellschaftlicher Faktoren aus, die jeweils ein Geschlecht stärken. Im vorislamischen adat ist die starke Position der Frauen verankert.

Frauen verfügen über das Familienland und geben diese Verfügungsrechte an ihre Töchter weiter. Demgegenüber werden politische Titel, wie der des Würdenträgers und Oberhauptes ( penghulu ) einer Großfamilie, an Männer vererbt. Der weiblichen Autorität innerhalb des Hauses steht die männliche Autorität gegenüber, die die internen Angelegenheit der Matrilineage in der Öffentlichkeit repräsentieren müssen.

Während meiner Feldforschung in Westsumatra von Dezember 1991 bis Februar 1993 wohnte ich mit Mann und Tochter in der Provinzhauptstadt Padang, wo wir ein kleines Haus gemietet hatten. Diese Familienkonstellation spielte während der gesamten Forschungsdauer eine bedeutende Rolle, denn die Akzeptanz vonseiten der Nachbarn und unsere Integration in den Stadtteil waren dadurch schnell hergestellt. Allein die Anwesenheit meiner Tochter ermöglichte Kontakte zu Eltern in der Nachbarschaft, die ohne Kind nicht entstanden wären. Fast spielerisch eröffneten sich dadurch viele interessante informelle Gespräche und Konversationsmöglichkeiten.

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Schulmädchen mit Kopftuch. Foto: U. Metje

Wie viele andere Forscherinnen und Forscher so faszinierte auch mich die Frage nach der Vereinbarkeit von adat und Islam und insbesondere die daraus folgende Bedeutung für Frauen. Wie leben Frauen in einer Gesellschaft, die ihnen einerseits besondere Rechte zugesteht und die ihnen andererseits eine untergeordnete Position zuweist?

Die Weltanschauung der Minangkabau basiert auf dem Zusammenspiel von Frauen und Männern, denn – so wird gesagt - erst in der Gemeinsamkeit und im Miteinander entfalten beide Geschlechter ihre Energien. Beide Aspekte - weiblich und männlich - sind für die gesellschaftliche Ausgewogenheit und Harmonie unabdingbar. Weibliche Energie kann sich erst dort entfalten, wo auch männliche Energie vorhanden ist, sich am Gegensätzlichen reibt, und umgekehrt. Zur kosmischen Einheit gehören dementsprechend komplementäre Kategorien wie Sonne und Mond, Himmel und Erde, heiß und kalt sowie weiblich und männlich, Gegensätze, die als voneinander abhängig und im Sinne des Sichergänzens verstanden werden. Die den Geschlechtern zugeordneten Bereiche oder Aufgaben unterliegen aber im Unterschied zu westlichen Ländern keiner Bewertung. Vielmehr sind sie gleich bedeutend und tragen gleich viel zum harmonischen Miteinander und zur Balance der kosmischen Einheit bei. Dieses Prinzip der Komplementarität wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen, wie beispielsweise in den Zuständigkeitsbereichen der Geschlechter. Aufgrund ihrer randständigen Position im Haus der Ehefrau halten sich Männer häufig in der Fremde auf; sie sind zuständig für den überregionalen Handel. Während Männer Aufgaben im "Außenbereich" übernehmen, sind Frauen für den "Innenbereich" zuständig. Ihnen unterliegt die Verantwortung für das Familienland, den Haushalt sowie die Kindererziehung. Für die Alltagsrealität von Frauen sind der individuelle lebensgeschichtliche Status, d. h. ledig, verheiratet oder geschieden, die Anzahl der Kinder und ihre ökonomische Situation ausschlaggebend. Frauen handeln mit Überschüssen aus dem eigenen Anbau auf den lokalen Märkten. Die im adat verankerte Emigration der Männer verstärkt diese klar voneinander getrennten Zuständigkeitsbereiche der Geschlechter: Traditionell mussten junge Männer sich außerhalb der Heimat qualifizieren. Kehrten sie nach mehreren Jahren erfolgreich zurück, erhöhte sich ihre Chance auf eine Einheirat in eine gut situierte Familie.

Bis heute kommt der Emigration eine bedeutende Rolle zu, wenn sich auch ihre Ursachen und Ziele gewandelt haben. So zwingen ökonomische Gründe junge Ehepaare mehr und mehr dazu abzuwandern, da im Heimatland nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Die Emigranten behalten engen Kontakt zu ihren Familien, der nicht nur aus gegenseitigen Besuchen besteht, sondern vor allem auch in regelmäßigen Geldsendungen, die von großer Bedeutung für die Wirtschaft Westsumatras sind. Der ernorme Geldtransfer macht es möglich, dass viele der heute verfallenen und leer stehenden Großfamilienhäuser renoviert und wiederbelebt werden können. Diese wechselseitigen Beziehungen zwischen Heimatland und dem so genannten Grenzland außerhalb der Heimat ( rantau ) tragen zum Erhalt und zur Lebendigkeit des adat bei und verhindern dessen Untergang.

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Essensstand auf dem Markt. Foto: U. Metje

Die Minangkabau favorisieren eine basisdemokratische Entscheidungsfindung, eine gemeinschaftliche Beratung ( musyarawah ), die besagt, dass alle wichtigen Entscheidungen mit einem Konsens ( mufakat ) enden müssen.

Das matrilineare Abstammungssystem der Minangkabau erfolgt in mehreren Abstufungen: Die suku stellt die oberste genealogische Instanz eines matrilinearen Klans dar, deren Interessen von dem gewählten Oberhaupt ( penghulu ) vertreten werden. Die Mitglieder einer suku leiten sich von einer gemeinsamen Vorfahrin ab. Die untergeordnete genealogische Instanz ist die Matrilineage, deren Angehörige in mehreren Häusern dicht beieinander leben. Sie bilden bei anstehenden größeren Arbeiten eine ökonomische Einheit. Verantwortliche Autorität ist hier ebenfalls der zeremoniell eingeführte penghulu . Er ist seiner Matrilineage verpflichtet und darf ohne ihre Zustimmung keine Entscheidungen treffen. Neben den Oberhäuptern der Matrilineages nehmen auch die ältesten Frauen an den Diskussionen teil. Sie sitzen abseits der Männer im Hintergrund, können aber von ihrem Kontroll- und Vetorecht Gebrauch machen.

Die nächste kleinere Instanz, paruik , besteht aus mehreren Frauen, meistens Schwestern, und ihren Kindern, die gemeinsam in einem Haus leben und wirtschaften. Der Haushalt der paruik bildet das ökonomische Zentrum und soziale Netz, in dem die älteste Frau des Hauses die Autorität innehat und verantwortlich ist für die Ernährung und Bekleidung der Familienmitglieder. Ihre weibliche Autorität wird ergänzt durch die männliche Autorität des ältesten Mutterbruders. Zwar gehören die Brüder der Frauen ebenfalls zur paruik , sie leben aber im Männerhaus, ebenso die Söhne der Frauen, die ab dem siebten Lebensjahr im Männerhaus übernachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt in den vergangenen dreißig Jahren hat sich diese Tradition immer mehr aufgelöst: Die jüngeren Söhne leben heutzutage im Haus ihrer Mütter; die älteren noch unverheirateten Söhne übernachten zeitweise im Haus ihrer Mütter oder aber bei Verwandten und Freunden, wobei ihr Status dem eines Besuchers entspricht. Die letzte und kleinste genealogische Instanz ist die samandai . Sie besteht aus einer Mutter und ihren Kindern.

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Verkäuferin auf dem Markt. Foto: U. Metje

Die vorkoloniale Gesellschaft der Minangkabau war geprägt durch ausgewogene Machtverhältnisse, demokratische Strukturen und Gemeinschaftssinn. Der Autorität der Frau im Haus stand die Repräsentation durch den Mann innerhalb der Matrilineage und in der Öffentlichkeit gegenüber. Bis in die Gegenwart existiert diese Doppelautorität noch in einigen Gebieten oder teilweise innerhalb der Matrilineage des Stammgebietes. Sie umfasst Entscheidungen hinsichtlich der Verpachtung der Felder, der Erbschaftsabwicklung, des Anbaus und der Aufteilung der Ernte sowie der Wahl der Schwiegersöhne und -töchter. Frauen und Männer waren und sind bei ihren Entscheidungen auf die Zustimmung des anderen Geschlechts angewiesen.

Frauen haben für das Familieneinkommen zu sorgen und den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Die Staatspolitik Indonesiens sowie die Einflüsse der "Moderne" betonen gegenwärtig stärker die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter. Hierein greift auch die Ideologie des Islam, wonach der Mann als Haushaltsvorstand und Ernährer der Familie definiert wird. Auch wenn sich die Balance zwischen den Geschlechtern immer mehr zugunsten der Männer verschiebt, hält die Kultur noch etwas Besonderes für Frauen bereit: Von Geburt an werden Mädchen willkommen geheißen, da sie den Fortbestand der weiblichen Großfamilie (Matrilineage) garantieren; sie werden verehrt und respektiert, und die Eltern sind stolz auf sie.

Des Weiteren sind Frauen bis heute finanziell autark. Unabhängig von den Ehemännern treffen sie Entscheidungen über ihre Einkommensquellen und können allein über die Gewinne verfügen. In Fragen der Kindererziehung und Haushaltsführung sind Frauen allein entscheidungsbefugt. Ihre Leistungen werden anerkannt, geachtet und respektiert. Dies trifft auch auf eine relativ neue Gruppe städtischer Mittelschichtsfrauen zu, deren ehrenamtlichen Tätigkeiten anerkannt und nicht negativ bewertet wird. In der Gesellschaft existiert noch keine Werteskala, wie in den westlichen Industrienationen, wonach Hausarbeit unbezahlte Arbeit ist, die dementsprechend negativ bewertet werden. Und schließlich spielt der kulturelle Umgang mit dem Alter eine Rolle. Danach nimmt der Wert der Menschen mit steigendem Alter zu. Frauen, die in mittleren Jahren am härtesten für eine gute Ausbildung ihrer Kinder arbeiten, gehen mit einer positiven Haltung auf die spätere Lebensphase zu, die bei entsprechender ökonomischer Absicherung zur lang ersehnten Erholungsphase wird. Erst im Alter erhalten Frauen und Männer so viel Achtung, Anerkennung und Respekt wie nie zuvor in ihrem Leben. Ein Aspekt, der zum Durchhalten der harten Arbeitsjahre entscheidend beiträgt. Diese Faktoren wirken in hohem Maße an der Identitätsbildung, am Selbstbewusstsein und an der Stärke von Frauen mit.

Weiterführende Literatur

Metje, U. M. (1995): Die starken Frauen. Gespräche über Geschlechterbeziehungen bei den Minangkabau in Indonesien. Campus: Frankfurt a. M.
Metje, U.M. (1996): „Sozialisation: Kinder- und Jugendwelten in einer matrilinearen Gesellschaft: Die Minangkabau in West Sumatra, Indonesien.“ In: Dracklé, Dorle (Hg.): jung und wild. Zur kulturellen Konstruktion von Kindheit und Jugend. Reimer Verlag: Berlin, S. 183-201
Metje, U.M. (1997): „Merantau – Migration und Matrilinearität bei den Minangkabau.“ In: kea (Zeitschrift für Kulturwissenschaft) 10, Bremen, S. 231-251

Zur Autorin

PD Dr. Ute Marie Metje, Ethnologin, forschte im Bereich Geschlechterbeziehungen in Indonesien. Gegenwärtig lehrt sie als Gastprofessorin am Dickinson College, Pennsylvania/USA. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterbeziehungen, Kinder- und Jugendforschung, Performanz- und Ritualtheorien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008