EDITORIAL

Orale Kulturen

Das Thema dieses Schwerpunkts sind " Orale Kulturen ". Sie werden "oral/mündlich" genannt, weil sie im Gegensatz zu den so genannten "Schrift-Kulturen" keine eigene Schrift besitzen. Orale Kulturen geben ihre Geschichte, Traditionen und Religion mündlich von einer Generation zur anderen weiter. Das Wissen wird nicht - sozusagen losgelöst von den Menschen - mithilfe der Schrift fixiert und in Büchern und geschriebenen Dokumenten für nachfolgende Generationen aufbewahrt. Kollektives Wissen wird vielmehr durch Spezialisten gehütet und durch verschiedene Kommunikationsmittel tradiert. Orale Kommunikation ist plurimedial: Rituale, Tänze, Spiele, Musik, Theater, Kleidung, Körperbemalung und Bilder transportieren Botschaften.

Auch wenn viele orale Kulturen mittlerweile eine Schrift kennen und nutzen, bleibt die Bedeutung der oralen Kommunikation weiterhin erhalten und kann durch eine Schrift nicht ersetzt werden (siehe die Beiträge von Martin Gaenszle über mündlich überlieferte Religion in Ost-Nepal und Stéphane Voell über Versöhnungszeremonien nach Blutrache in Albanien).

Viele der Mythen und Märchen der Kulturen der Welt sind mittlerweile aufgeschrieben worden. Aber diese schriftliche Fixierung kann sich nur auf einen Teil dessen beziehen, was eine Mythe ausmacht. Zum Sinn des Wortes kommt immer hier auch die Erzählkunst des Mythenerzählers und die Dramatik der Erzählsituation zwischen Zuhörern (die einen aktiven Part spielen können) und Erzähler. Auch schriftliche Kulturen sind keineswegs nur auf das schriftliche Wort angewiesen, auch wenn es hier eine dominante Rolle unter allen Formen von Botschaften spielt.

"Geschichten erzählen" ist in oralen Kulturen ein wesentlicher Teil der Erziehung von Kindern und dient auch Erwachsenen als moralische Richtschnur (die Beiträge von Sabine Dinslage und Godula Kosack beziehen sich auf diesen Aspekt). Wie Plakate, Schilder und Alltagsobjekte mit Symbolen verziert, die auf Sprichwortweisheiten hinweisen, Orientierung im (städtischen) Alltag geben, darauf weist der Beitrag von Wendelin Schmidt hin. Dass selbst in der Migration die individuelle und kollektive Zwiesprache mit Göttern eine große Lebenshilfe ist, zeigt Heike Drotbohm in ihrem Beitrag am Beispiel haitianischer Migranten in Kanada.

Das nächste Schwerpunktthema Anfang Januar 2005 wird sich "Masken" widmen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008