MIKROKOSMOS HABITUS

Von Antje van Elsbergen

Was er besitzt, erhebt oder verringert den Menschen.
Geht man mit seinem eigens verdienten Geld so durchs Kaufhaus, mag man schnell vergessen haben, wie es einmal war, als man als Dreikäsehoch mit ein, zwei Mark Taschengeld durch den Supermarkt getrottet ist und sich ausgerechnet hat, wie viele Drops man für 50 Pfennig am Kaufmannsladen an der Ecke bekommt. Davon abgesehen, dass selbiger Tante-Emma-Laden erst einer Filiale einer Fastfoodkette weichen, diese dann wiederum dem Onkel-Izmir-Laden Platz machen musste, haben wir solch kindliche Bedürfnisse vergessen. Ab und an, da schwelgen wir in nostalgischen Erinnerungen an die längst verstrichenen Jahre, in denen man wöchentlich sein Taschengeld für Playmobilfguren, Barbiekleider oder im heißen Sommer einen frischen Flutschefinger ausgab. Doch kommt uns bei solch rosigen Bildern der Vergangenheit unsere materielle Entwicklung in den Sinn? Wohl den wenigsten, darf ich vermuten.

Die erste These dieses kleinen Gedankenspiels, an dessen Ende ich einen Einblick in eine verblichene Theorie, fremde und eigene Kulturen zu beurteilen, vorgestellt haben werde, lautet: materielle Güter geben Auskunft über Entwicklung. Das scheint erst einmal nichts Neues zu sein, kollektive Entwicklung anhand materieller Kultur können wir in jedem Museum ablesen, das menschliche Erzeugnisse ausstellt und sie in einen gesellschaftlichen und zeitlichen Zusammenhang stellt. Neu ist an dieser These vielleicht das Bild der Kaufkraft, das ich ihr gerade verordnet habe.

Während ein Kind mit einer Mark - nennen wir diese Deutsche Mark zugunsten der Modernisierung und Europäisierung nun Euro - diesem Euro einen kleinen Einkauf tätigt, fügt es seinem Habitus etwas hinzu. Meist handelt es sich dabei zwar um einen recht ephemeren Güterzuwachs, denn die meisten Kinder bis zu einem gewissen Alter legen mehr Wert auf die Verspeisbarkeit des Erworbenen denn auf die Verwertbarkeit. Doch mag selbst ein Spielzeug aus dem uns wohl bekannten Ei des Spiels, der Spannung und der fettigen Kakaomasse drumherum auch dazu dienen, diesem Vergleich Beine zu machen. Ein Kind kauft eine Kleinigkeit, die seinen Bedürfnissen Ausdruck verleiht. Mit zunehmendem Alter entwickeln sich diese Bedürfnisse zu komplexen Gebilden von Habitus, Ruf und Identitätsstiftung.

Materiellen Gütern diese Rolle beizumessen, ist an den Kunden in einem Kaufhaus zu beobachten. Individuelle Identität wird in der westlich orientierten Gesellschaft maßgeblich über das äußere Erscheinungsbild hergestellt. Dabei ist von primärem Interesse, welche Identität dem Individuum die erstrebenswerteste zu sein scheint. Transportiert wird diese dann über den persönlichen Habitus, das das Individuum mit Bedeutungen für es versieht.

Warum aber genau kann dem individuellen Habitus eine derart Identität stiftende Wirkung zugeschrieben werden? Das Wort „Habitus“ kommt aus dem Lateinischen und kann wörtlich mit „Gehaben“ übersetzt werden, es ist abgeleitet von dem Verbum „habere". So bezeichnet der Begriff Habitus in erster Linie das, was ein Individuum besitzt, jedoch nicht auf der materiellen Ebene. Die materielle Kultur erst ermöglicht dem Individuum, einen Habitus zu entwickeln, mittels derer er seine soziale oder kulturelle Zugehörigkeit manifestiert. Der soziale Habitus eines Individuums, der die gesamten Formen von Lebensstil, Sprache, Kleidung und Geschmack beinhaltet, ist Konsequenz aus dem Verhältnis zu materieller Kultur, das dieses aufbaut.

Das unterscheidet sich nun nicht so sehr von der gesamten Kultur und ihrem kollektivem Habitus. Auf diesen lässt sich schließen, wenn man, wie Ethnologen dies von rund 120 Jahren taten, die materiellen Zeugnisse der Fremden gemäß ihrer Komplexität zu verschiedenen Stufen zuordnete. An der Spitze stand - im besten Sinne von Charles Darwin, der das 19. Jahrhundert diesbezüglich beherrschte - der westliche Mensch mit einer Kultur, die ein steter Drang zu Fortschritt und Technik gekennzeichnet, was an ihren Zeugnissen abzulesen und in ihrem Habitus offenkundig war. Die fremde Kultur mit wenigen, materiell gering differenzierten Werkzeugen ausgestattet, befriedigt mit diesen eben nur die primären Bedürfnisse. Je komplexer aber die materiellen Erzeugnisse von Kulturen sind, desto differenzierter ist in der Konsequenz auch der Habitus dieser Kulturen.

Der Mensch neige zur Entwicklung in die eine Richtung, nämlich geradewegs auf die scheinbar so erstrebenswerte westliche Gesellschaft zu, deren zivilisatorische Errungenschaften das Recht zu höchstem sozialem Habitus geben. Dies machten die Forscher der Jahrhundertwende glauben, und auf eine kuriose Weise haben sie Recht. Denn heute haben wir uns weiterentwickelt und sehen, dass Vergleiche zwischen fremden Kulturen einer Prüfung nicht standhalten können, wenn wir von uns entwickelte Maßstäbe anlegen. So ist auch der Habitus jedes Einzelnen oder jeder Gruppe von seinen individuellen und kollektiven Maßstäben beherrscht, die sich allerdings in materieller Kultur und aufgrund dessen auch in der Kaufkraft ablesen lassen.

Zur Autorin
Dr. des. Antje van Elsbergen, M. A., Ethnologin, war lange Mitarbeiterin der Völkerkundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Sie promovierte zum Thema "Eine alternative Ausstellung zur Antike. Mythen und Vasen als Quellen ethnographischer Beobachtungen"


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008