GEORGIEN

Eine Annäherung

Von Stéphane Voell

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Blick von der Basilika Sweti Zchoweli in Mzcheta auf die Dshwari-Kirche. Foto: S. Voell

Seltsames Gefühl. Seit Jahren bereiteten wir ein Forschungsprojekt zu Georgien vor. Nach vier Jahren reichten wir endlich den Projektantrag ein und zu unserer großen Freude wurde das Projekt bewilligt. Kurze Zeit später geht das Land, in dem wir forschen wollten, in Flammen auf. Es war der 8. August: Georgien überfiel Zchinwali in Südossetien und Russland überfiel Georgien.

2004 waren wir in Georgien. Wir trafen auf ausgesprochen selbstbewusste Menschen. Es war der Stolz auf die eigene Nation, die erst kurz vorher in der „Rosen-“ oder „Samtenen Revolution“ gewaltlos den Präsidenten Schewardnadse aus dem Amt gejagt hatte. Und es war der Stolz auf die „georgische Kultur“, die nach dem Ende des Sozialismus wieder auflebte. Selbst so genannte „Intellektuelle“, denen man eine gemäßigte und überlegte Interpretation der georgischen Geschichte unterstellen könnte, überraschten mit einer uns sehr irritierenden nationalistischen Rhetorik.

Historiker und Politologen erklären den feurigen georgischen Nationalismus aus der Geschichte. Dem Reiz dieser Region, mit seinen natürlichen Ressourcen, günstigen vielfältigen klimatischen Rahmenbedingungen und seiner strategisch wichtigen Position erlagen Griechen, Römer, Perser, Byzantiner, Araber, Türken, Mongolen, Seldschuken, Russen oder auch Deutsche. Immer wieder marschierten Völker nach Georgien ein und teilten die Region unter sich auf. Durch die Jahrhunderte konnte - nach Meinung vieler Georgier - die nationale Identität aber erhalten bleiben.

Georgien – wie zahlreiche andere Länder auch – verweist gerne auf ein mythisches Zeitalter, in dem irgendwie alles besser gewesen sein soll. Das „Goldene Zeitalter“ in Georgien begann unter Dawit IV (Regierungszeit 1089-1125). Dawit befreite Georgien von nomadisierenden Turkvölkern, den Seldschuken, und vereinigte viele Regionen zu einem Königreich „Georgien“. Mit Dawit begann der Aufstieg des Landes zu einem der mächtigsten christlichen Imperien.

Unter Königin Tamara (1184-1213) erreichte Georgien den Gipfel der Macht und großen Reichtum. In ihrer Regentschaft erblühten Wirtschaft, Kunst und Kultur. Tamaras Regierungszeit wird auch als die „georgische Renaissance“ bezeichnet. Mit ihrem Tod endete jedoch das Goldene Zeitalter. Mongolen, Osmanen und Perser sollten in den nächsten Jahrhunderten sehr nachdrücklich ihr Interesse an Georgien zeigen.

Ab dem 18. Jahrhundert versicherte sich Georgien der Unterstützung der orthodox-christlichen Glaubensbrüder des benachbarten Russlands. Doch es war eine unzuverlässige Partnerschaft. Russland stand Georgien in seinen Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten nur selten bei. 1801 annektierte Zar Alexander I Georgien. Trotz oder wegen der russischen Herrschaft über Georgien fand das Land wieder zu jener territorialen Einheit, die es seit dem Goldenen Zeitalter unter Dawit IV und Tamara nicht mehr gehabt hatte. In dieser Zeit entwickelten sich ein kultureller Aufschwung und ein nationales Selbstbewusstsein. Durch die Annektierung Georgiens wurde auch (Süd-)Ossetien Teil des Landes und blieb es in unterschiedlichen administrativen Formen (Verwaltungseinheit, autonomer Bezirk und so weiter) bis heute. 1910 wurde auch Abchasien Teil des russisch kontrollierten Georgiens.

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Hochzeit in der Hauptkirche der Akademie von Gelati. Foto: S. Voell

Die Nationalbestrebungen erreichten einen ersten Höhepunkt mit der Unabhängigkeitserklärung Georgiens am 26. Mai 1918 nach der Abdankung des letzen russischen Zaren Nikolai II. Doch die Unabhängigkeit währte nur kurze Zeit: Am 25. Februar 1921 marschierte die Rote Armee in Georgien ein. Von nun an war Georgien Teil Sowjetrusslands.

Die georgischen Dissidentenbewegungen in den 1970er- und 1980er-Jahren waren die ersten Vorboten der georgischen Unabhängigkeit. Junge Georgier veröffentlichten und verteilten Texte, in denen sie auf den Terror des zaristischen und sowjetischen Russlands in Georgien aufmerksam machten. Unter ihnen war der spätere Präsident Swiad Gamsachurdia. Mit der Reformpolitik Michail Gorbatschows wurden auch die Proteste in Georgien für die Loslösung des Staates von Russland lauter. 1988 gab es einen Hungerstreik von Oppositionellen für die Unabhängigkeit und 1990 eine blutig niedergeschlagene Großdemonstration. Begleitet wurden die Forderungen nach Unabhängigkeit von nationalistischer Rhetorik. Gamsachurdia forderte ein „Georgien den Georgien“ und hinterfragte damit bewusst die Autonomie der Osseten und Abchasen.

Im Sommer 1990 erklärte das georgische Parlament das Land für unabhängig und im Oktober 1990 gewann das Bündnis „Runder Tisch – Freies Georgien“ die ersten freien Wahlen seit 70 Jahren. Dem Bündnis stand Swiad Gamsachurdia vor. Der illustre ehemalige Dissident und Philologe wurde im Mai 1991 Präsident Georgiens.

Turbulente Zeiten standen Georgien bevor, die es in eine wirtschaftlich prekäre Situation und dramatische Sicherheitslage bringen sollte. Dabei schien Georgien im Vergleich zu seinen Nachbarländern Armenien und Aserbeidschan gute Ausgangsbedingungen für die Unabhängigkeit ab 1991 zu haben. Das Land hatte noch eine reichhaltige und produktive Landwirtschaft. Es gab eine funktionierende Industrie, die zwar nicht mehr auf dem neustem Stand war, aber eine gute Ausgangsbasis bot. Das Land konnte auf zahlreiche natürliche Ressourcen zurückgreifen. Der Tourismus während der Sowjetzeit - vor allem am Schwarzen Meer - und die überdurchschnittlich gute Ausbildung der Bevölkerung erweckten den Eindruck einer soliden Grundlage für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung.

Doch im Verlauf der jüngsten Geschichte der georgischen Unabhängigkeit zeigte sich schnell, dass das wirtschaftliche Potential des Landes in hohem Maß von den Beziehungen zu den Ländern der ehemaligen Sowjetunion abhing. Die Bestrebungen zur Unabhängigkeit Georgiens wurden von Russland nicht toleriert. Mit seinem Boykott georgischer Produkte löste es große wirtschaftliche Probleme aus und durch die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen der Abchasen und Osseten förderte Russland die politische Instabilität in der Region.

In der Regierungszeit Gamsachurdias verschlechterte sich das innenpolitische Klima. Im mit nahezu diktatorischen Befugnissen ausgestatteten Präsidentenamt regierte Gamsachurdia repressiv und ignorierte die Opposition, die versuchte, demokratische Auseinandersetzungen zu führen. Ein wichtiger Aspekt der Politik Gamsachurdias war die nationale Identität. „Reinheit und Einheit des Landes“ wurden zum Schlüsselkonzept seiner Politik. Dementsprechend wurden ethnische Minderheiten als kulturelle Fremdkörper gesehen, die entweder mit der georgischen Nation verschmelzen oder in ihre „Heimatregionen“ zurückkehren sollten. Damit waren die Konflikte in den autonomen Regionen Abchasien und Südossetien vorprogrammiert.

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Haus in Georgiens Hauptstadt Tbilisi. Foto: S. Voell

Im März 1992 kam Eduard Schewardnadse, ehemaliger sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow, zurück nach Georgien. Zwischen 1968 und 1985 war er bereits georgischer Innenminister und Erster Sekretär der georgischen KP gewesen. Schewardnadse konnte zwar die Wahlen im Oktober 1992 für sich entscheiden, musste sich jedoch während des Bürgerkriegs in Abchasien gegen die Opposition durchsetzen. Erst 1995 wurde Schewardnadse zum Präsidenten gewählt und 1999 bzw. 2001 in seinem Amt bestätigt.

In der Regierungszeit Schewardnadses loderten die alten Konfliktherde „Südossetien“ und „Abchasien“ wieder auf. Im ersten Südossetienkonflikt zum Jahreswechsel 1989-90 belagerten georgische Nationalisten die autonome, formell zu Georgien gehörende Provinz. Sie hatte sich kurz zuvor für unabhängig erklärt. Russische Truppen versuchten die Konfliktparteien auseinander zu bringen. Im September 1990 erklärte sich Südossetien erneut für unabhängig, woraufhin Georgien in die Provinz einrückte. Viele Tausende Menschen, Georgier und Osseten, flohen aus der Region. 1992 unterzeichnete Schewardnadse mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin ein Waffenstillstandsabkommen. Über den endgültigen Status der Region wurde keine Abmachung getroffen. Ossetische Politiker streben eine Vereinigung mit Nordossetien innerhalb des russischen Territoriums an. Auch nach dem Konflikt im August dieses Jahres bleibt der Status der Region völkerrechtlich ungeklärt. Russland hat die Unabhängigkeit Südossetiens anerkannt, steht aber mit dieser Position fast alleine da.

Abchasien erklärte sich 1992 für unabhängig. Die Region hatte schon seit 1921 den Status einer autonomen Republik innerhalb des sozialistischen Georgiens. Im August 1992 rückten georgische Truppen in Abchasien ein. Die abchasichen Milizen, die von Russland unterstützt wurden, konnten jedoch nicht unterworfen werden. Der Konflikt dauerte über ein Jahr und führte zur Vertreibung von über 250.000 Georgiern aus der Region am Schwarzen Meer. Eine Lösung des Konflikts ist nicht abzusehen, denn die abchasische Regierung plädiert weiterhin für ihre vollständige Unabhängigkeit, die Georgien jedoch nicht tolerieren will. Russland hat die Unabhängigkeit Abchasiens kürzlich ebenfalls anerkannt.

Die Ergebnisse der Parlamentswahl im November 2003 sollten zunächst Schewardnadse im Amt bestätigen, doch die Opposition unter Führung von Michail Saakaschwili beschuldigte den Präsidenten des Wahlbetrugs. Während der Amtseinführung Schewardnadses wurde das Parlament von Anhängern der Opposition, mit Saakaschwili an der Spitze, gestürmt. Die russische Regierung konnte in Vermittlungsgesprächen Schewardnadse zum Rücktritt bewegen. Die Neuwahlen am 4. Januar 2004 gewann Saakaschwili mit 96% der Stimmen.

Der in den USA als Anwalt ausgebildete Saakaschwili kämpfte nach seiner Wahl zum Präsidenten hart gegen Korruption, privatisierte staatliche Betriebe und erlangte die Kontrolle über Adscharien, eine weitere, lang autonom geführte Region im Südwesten Georgiens. Die autoritäre Politik Saakaschwilis und mangelnde Erfolge des Kampfs gegen Korruption führten im November 2007 zu Massenprotesten. Im Januar 2008 wurde Saakaschwili jedoch wiedergewählt.

Die Geschichte des Kriegs im August 2008 soll hier nicht erzählt werden. Russland, Südossetien und auch Abchasien haben scheinbar gewonnen. Die Schlacht im Fernsehen aber hat der medial gewandte Saakaschwili für sich entscheiden können. Massenproteste gegen den Präsidenten wandelten sich zu Massenkundgebungen für die georgische Nation.

Über Themen von „nationalem Interesse“ kann man nur schwer diskutieren. Meist gibt es nur ein „Dafür“ oder „Dagegen“. Während und kurz nach einem Krieg wird dies nicht leichter. Im nächsten Jahr beginnt die Forschung für unser Projekt in Georgien. Zwangsläufig wird es zu Gesprächen über den Krieg um Südossetien im August 2008 kommen. Zuhause am Schreibtisch kann ich versuchen die verschiedenen Positionen abzuwägen. Aber wie wird es in Georgien sein? Ich kann trotz großer Sympathie viele Argumente der Georgier in Bezug auf die autonomen Gebiete nicht nachvollziehen. Trotzdem freue ich mich - im „Vollkontakt“ der ethnologischen Feldforschung vor Ort –auf diese sicher nicht einfachen Gespräche.

Weiterführende Literatur
Christophe, Barbara (2005): Metarmorphose des Leviathan in einer post-sozialistischen Gesellschaft: Georgiens Provienz zwischen Fassaden der Anarchie und regulativer Allmacht. Bieldfeld: transcript.
Gerber, Jürgen (1997): Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956. Baden-Baden: Nomos.
Pelkmans, Mathijs (2006): Defending the Border: Identity, Religion, and Modernity in the Republic of Georgia. Ithaca et al.: Cornell University Press.
Suny, Ronald Grigor (1993): The Revenge of the Past: Nationalism, Revolution, and the Collapse of the Soviet Union. Stanford: Stanford University Press.

Zum Autor
Dr. Stéphane Voell ist Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Kulturforschung - Religionswissenschaft und Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg; Forschungen in Albanien. Arbeit u.a. zu Revitalisierung von traditionellem Recht in postsozialistischen


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008