EIN FENSTER ZUR WELT

Die Armenier in Djulfa, Isfahan

Von Mehdy Naficy

Djulfa ist ein Stadtteil von Isfahan, in dem Armenier seit dem 17. Jahrhundert leben. Im Gegensatz zum Jüdischen Stadtviertel „Jubareh“, das seit mehr als 2000 Jahre besteht, ist Djulfa mit seinen 400 Jahren ein relativ neues Viertel. Djulfa war - und ist immer noch - ein modernes Stadtviertel, ein Fenster zur Außenwelt, gleichsam eine Lunge, mit der die Stadt frische Luft atmen konnte und kann. Dieser Geist von Djulfa ist immer noch lebendig, auch heute, unter der Herrschaft der Schia-Geistlichen, zu Zeiten der Islamischen Republik Iran. Ich möchte Geschichte und Gegenwart dieses Ortes und seiner Bewohner beschreiben und ihr Leben und ihre Schicksale ein wenig erörtern.

Die Stadtgründung Djulfas geht zurück auf das Jahr 1603/04, als Schah Abbas I. (1587-1629), der fünfte König der Safawiden-Dynastie, die Armenier aus „Alt-Djulfa“ in Ostarmenien nach Iran auszuwandern zwang. Es handelte sich um eine Zwangsauswanderung, wobei mehr als 60.000 armenische Familien (ca. 300.000 Menschen) ihre Häuser in Ostarmenien verlassen mussten und auf Befehl des königlichen Offiziers den Aras-Fluss überquerten und in den Süden des Iran zogen. Auf dem beschwerlichen Weg starben viele dieser Familien, vor allem Kinder und Frauen. Es war Winter und kalt und der Weg war gebirgig und anstrengend.

Der Armenier saßen als Puffer zwischen zwei Großmächten, den Safawiden im Osten Irans und dem Osmanischen Reich im Westen. Sie waren Rivalen und während des 17. Jahrhunderts haben sie im Laufe von 23 Jahren manche Schlachte gegeneinander geführt. Die Osmanen benützen das Land der Armenier um für ihre Armee Nahrung und Verstärkung zu holen und sich gegen die Safawiden-Armee vorzubereiten. Schah Abbas I. wollte Übergriffe und den Einmarsch der osmanischen Armee nach Iran verhindern. Deshalb erteilte er den Befehl, dass die Einwohner von Ostarmenien innerhalb von drei Tagen ihre Heimat verlassen müssen. Danach wurden alle ihre Häuser in Brand gesetzt, damit die osmanische Armee keine Gelegenheit mehr fände, sich dort aufzuhalten und vorzubereiten.

Der armenische Chronist Harootun der Hovhanian beschreibt in „History of New Julfa“ (S. 13-14) das Leiden der Einheimischen, als sie ihre Heimat verlassen mussten: „ Um die Vertreibung der Bevölkerung zu beschleunigen, kamen iranische Truppen in die Häuser und nahmen alles mit, was ihnen gefiel. Niemand wagte sich dagegen zu wehren. Die Menschen mussten sich beeilen und die Stadt binnen einer Frist von drei Tagen verlassen. Die Liebe zur Heimat bedrückte sie sehr. Es gab weinende Männer, schreiende Frauen und verängstigte Kinder; sie trauerten, weil sie von ihrer Heimat Abschied nehmen mussten. Die Priester nahmen die Schlüssel der Kirchen und die Einwohner die Schlüssel ihrer Häuser mit. Als sie an der Marienstatue (außerhalb der Mauern der Stadt) anlangten, weinten sie, beteten und riefen Maria um Hilfe an, in der Hoffnung, dass sie ihre Stadt und ihre Häuser schütze. Sie warfen die Schlüssel in das Wasser des Aras. Wiederum beteten sie zu Maria, dass sie sie aus dem fremden Land und dem Exil wieder in ihre Häuser, die zu verlassen sie gezwungen waren, zurückführe. Voller Trauer und Liebe zur Heimat im Herzen waren sie am Fluss angekommen, an dem sie von Schah Abbas mit seinen Truppen erwartet wurden.“

Einige dieser Auswanderer siedelten sich unterwegs in verschiedenen Städten an, vor allem in den Provinzen Aserbaidschan und Gilan. Aber auf Befehl des Safawiden-Königs kamen fast 3000 Armenier bis in die Hauptstadt Isfahan. Der Schah erwies sich ihnen gegenüber als großzügig und gab ihnen königliches Land im Süden von Isfahan, jenseits des Flusses Zayande Roud (Zayande Roud = lebender Fluss). Einige siedelten sich in Dörfern westlich der Hauptstadt an und waren als Bauern im Ackerbau tätig. Das Viertel im Süden nannten sie „Djulfa“, in Erinnerung an das alte Djulfa, die Heimat, aus der sie vertrieben wurden. Die erste armenische Kirche wurde 1606/07 ein Jahr nach der Ansiedlung der Armenier in Djulfa errichtet.

Die zweite Einwanderungswelle von Armeniern fand 50 Jahre danach statt, unter der Herrschaft des siebten Safawiden-Königs, Schah Abbas II. (1642-1666). Neue Quartiere kamen dazu, Djulfa expandierte. Die neuen Gebiete wurden „Neu-Djulfa“ (Djulfa-ye nou) genannt.

Der Grund der Zwangsumsiedlung aus Armenien nach Iran ist vielschichtig: Nicht nur geopolitische Faktoren spielten eine Rolle, sondern auch wirtschaftliche und politische. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts versuchten die Safawiden-Könige sich mit allen Mitteln gegen die sunnitischen Osmanen abzugrenzen. Der Begründer der Safawiden-Dynastie ist von der Sunna zur Schia konvertiert. Die Könige versuchten, mit europäischen Ländern eine Allianz gegen die Osmanen zu schließen. Eine Verbindung mit dem katholischen Europa stärkte die Macht der Safawiden gegen die Osmanen. Darüber hinaus errichteten die beiden Könige mit dem Seidenhandel ein profitables Geschäft und suchten Händler, die dieses Geschäft mit dem Ausland, mit Indien, Java, den Philippinen, mit Spanien, Russland, den Niederlanden, England und Venedig, zu betreiben gewillt waren. Die Armenier hatten alle Voraussetzungen um in den Seidenhandel der Safawiden einzusteigen: Sie waren Christen, mit etlichen europäischen Sprachen vertraut, geschäftstüchtig, vertrauenswürdig und ehrlich. Die Verbindung zwischen den Safawiden und Europa wurde infolge der Umsiedlung der Armenier in die Hauptstadt des Königreichs, Isfahan, effektiver und erfolgreicher. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden die Geschäftsbeziehungen der Armenier mit dem Ausland – auch dank der Unterstützung von Seiten der Safawiden-Könige - so erfolgreich, dass Djulfa eine Hochblüte erlebte und zu den reichsten und wohlhabendsten Städten des Iran gehörte. Der Händler und Reisende Jean Chardin (1665-1677), der sich einige Jahre im Isfahan der Safawiden-Zeit aufgehalten hat und Juwelier des Schahs war, gibt die Zahl der Häuser im damaligen Djulfa mit „zwischen 3400 und 3500“ an; einige dieser Häuser seien prachtvolle Paläste gewesen. Die Schönheit dieser Häuser wurde auch von anderen europäischen Reisenden gepriesen.

Anhand der Zahl der Kirchen und religiösen Stätten kann man die Entwicklung und das Wachstum Djulfas feststellen: Im Jahr 1664 hatte Djulfa 20 Kirchen. Im 18. Jahrhundert ist ihre Zahl auf 30 gestiegen, wovon heute noch 15 genutzt werden. 90 Prozent der Christen in Iran gehören der armenisch-orthodoxen Kirche an. Ferner existieren kleinere Abspaltungen wie die armenisch-katholische Kirche (mit einer Kirche in Djulfa) und die armenisch-evangelische Kirche, die im 19. Jahrhundert aufgrund von Missionierungsaktivitäten amerikanischer Christen entstand. Auch sie haben eine Kirche in Djulfa.

Das Stadtviertel erlebte seine Blütezeit in der Zeit von Abbas I. und Abbas II, also etwa von 1600 bis 1660. Die armenische Bevölkerung bestand in dieser Zeit aus 30.000 Personen. Darüber hinaus wohnten einige armenische Familien in den Dörfern westlich von Isfahan, in Provinzen wie Feridan und Chahar Mahal. Nach dem Fall der Safawiden hat die armenische Bevölkerung in Djulfa, wie auch in den umliegenden Dörfern drastisch abgenommen. Um 1820 betrug sie nur noch 500 Familien (etwa 2500 Personen) und während der Reza Schah-Ära (1900-1920) lebten 6000 Armenier in Djulfa. Im Jahr 1997 betrug ihre Zahl in Isfahan - nach der Statistik des „Armenischen Kalifenrats“ in Isfahan - 7300 Personen. Nach der Revolution in Iran (1979) als religiösen und ethnischen Minderheiten Beschränkungen auferlegt wurden, wanderten viele Mittelschichtsarmenier aus, vor allem in die USA (Los Angeles), in europäische Länder und nach Armenien. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg waren 1725 Polen nach Isfahan gekommen, und siedelten sich in Djulfa an. Sie waren vor der deutschen Armee aus Russland geflohen.

Armenier waren Pioniere in bestimmten Berufen, die von den altansässigen Isfahanis nicht ausgeübt wurden. Von der Gründung Djulfas an, während der Zeit Schah Abbas’, waren sie am Handel mit dem Ausland beteiligt. Schah Abbas gab den Armeniern das Monopol des Seidenhandels mit dem Ausland. Sie besaßen auch große Winzereien, in denen Wein und verschiedene Arten von Schnaps hergestellt wurden. Das erste Krankenhaus von Isfahan (das Krankenhaus Boghukhanian) wurde in Djulfa im Jahr 1904 gegründet. Die älteste Druckmaschine Irans, die um 1636 von Europa nach Isfahan geliefert wurde, wurde in Djulfa aufgestellt und zwar auf Initiative von christlichen Missionaren zur Verbreitung der Bibel und religiöser Manuskripte. Die Armenier waren auch Pioniere bei der Gründung neuer, moderner Schulen in Isfahan. Im Jahr 1880 wurden drei moderne Schule in Djulfa gegründet und 1858 die erste Schule für Mädchen. Später wurden einige dieser Schule für beide Geschlechter eingerichtet.

Fast in allen Bereichen der Wirtschaft waren Armenier beteiligt: in Industrie, Gewerbe, Handel, Handwerk und Ackerbau. Vor allem in Isfahan waren sie als Juweliere, Gastronomen (Imbissstuben und Süßwarenläden), Winzer und Automechaniker berühmt. In Kunst und Kultur waren sie Wegbereiter, vor allem in den Bereichen Photographie, moderne Malerei, Theater, Film, Musik und Sport. Armenier sind offene Menschen, die neue Ideen schnell aufnehmen und umsetzen und Djulfa wurde ein Fenster zur westlichen Welt, zur Moderne und damit zur Modernisierung Isfahans. Djulfa war auch ein Ort, an dem sich viele Botschafter aufhielten, die in politischen, diplomatischen, religiösen und kulturellen Angelegenheiten nach Isfahan gekommen waren. So war zum Beispiel Ernst Höltzer (1835-1991), ein deutscher Techniker und talentierter Photograph, im Auftrag der britischen Telegraphenindustrie nach Isfahan gekommen und hat in Djulfa ein Zuhause gefunden. Er verbrachte die letzten 20 Jahre seines Lebens in dieser Stadt und hat die Telegraphiezentrale von Isfahan in Djulfa in Betrieb genommen.

Der moderne Geist Djulfas ist auch in der heutigen Zeit noch spürbar, man fühlt ihn geradezu, wenn man einen Spaziergang durch das Stadtviertel unternimmt. Durch den Fluss Zayandeh Roud ist die Stadt Isfahan zweigeteilt: nördlich des Flusses liegen die Häuser der eher traditionellen Familien, besonders im alten Stadtzentrum, während im Süden der Stadtteil Djulfa mit modernen Gebäuden, Einkaufszentren und Einrichtungen wie Kinos, Theatern, Restaurants, Imbissläden, Hotels mit Tanzsälen und Sportvereinen liegt. Ich erinnere mich, dass während meiner Schulzeit in Isfahan Djulfa für uns sehr attraktiv war. Wir Jugendliche gingen in unserer Freizeit dorthin, um ein Kino oder Theater zu besuchen oder in einem Imbiss etwas zu essen und anschließend in einem Restaurant mit Live Band (Popmusik) zu tanzen. Die literarischen Kreise von Isfahan, wie zum Beispiel die Schriftsteller, Künstler und Poeten der „Djung-e Isfahan“ (1970er Jahre), trafen sich zu Diskussionen in einer Kneipe in Djulfa. In meiner Schule gab es einige armenische Schüler, mit denen ich befreundet war. Einer von ihnen spielte Geige und lud mich gelegentlich zu sich nach Hause ein. Dort gab es viele für mich neue und interessante Dinge: armenische Süßigkeiten, Kaffee und Musik und Unterhaltungen mit armenischen Mädchen!

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Ein Armenier heute auf dem Friedhof in Djulfa. Foto: M. Naficy

Nach der Islamischen Revolution (1979) hat dieses Stadtviertel - trotz der Abwanderung vieler Armenier - seine Verbindung zur Außenwelt aufrechterhalten. Armenische Familien sind aus den umliegenden Dörfern nach Djulfa gezogen, ebenso auch viele muslimische Familien, die wegen des Iran-Irak-Kriegs (1980-1988) ihre Heimat im Westen Irans verlassen mussten. Kultureinrichtungen wie Sprachschulen, Musikschulen und literarische Vereine haben hier ein Zuhause gefunden. Viele neue Hochhäuser, moderne Einkaufmeilen, Luxusrestaurants und Imbissstuben wurden gebaut. In einem dieser mehrgeschossigen Einkaufzentren am Rande von Djulfa werden auf zwei Etagen verschiedene Musikinstrumente verkauft, auf einer anderen Etage werden Computersoft- und -hardware angeboten. Djulfa hat seine Bedeutung als Freizeit- und Vergnügungsviertel nicht verloren, trotz der Einschränkungen der Islamischen Republik. Im Gegenteil, es ist zum Zentrum von Jugendlichen und der Mittelschichten geworden, die in den Einkaufszentren nach westlichen Waren und Luxusgütern Ausschau halten. Natürlich sind auch Polizei-Einheiten zum „Schutz der Moral“ präsent und halten sich an wichtigen Knotenpunkten einsatzbereit. Es kommt öfter zu Auseinandersetzungen der Moral-Polizei mit Jugendlichen.

Ja, Djulfa ist lebendig wie eh und je, wie der Fluss Zayandeh Roud, es hat seine Offenheit und moderne Identität behalten. Mit seinem dynamischen Leben und seinen neuen, kreativen Ideen ist es immer noch attraktiv sowohl für die Einwohner Isfahans als auch für die Touristen, die aus dem Ausland oder aus anderen Provinzen Irans jedes Jahr in diese Stadt strömen.

Der Autor dankt Evelyn Bausch für die kritische Durchsicht der Originalfassung des Manuskripts.

Weiterführende Literatur
A. Amurian und M. Kashef: Armenian of Modern Iran. In: Encyclopedia Iranica. Aus der folgenden Link:
Harootun der Hovhanian (2001): History of New Julfa. Translated from Classical Armenian into Persian by Leon Minassian and M.S. Mussavi Fereydani. Isfahan: Zendeh Roud and Naghsh-e Khorshid, 1379 Schamsi
Damandan, Parisa (2004): Portrait Photographs from Isfahan: Faces in Transition 1920-1950. London: Prince Claus Fund Library
Schafaghi, Cyrus (2002): Geographie Isfahan (Jografi-ya-ye Isfahan), Persisch. Isfahan: Waite Haulage, Isfahan Universität Verlag,1381 Schamsi.
Naficy, Mehdy (2007): From Bazaar to the Clinic and Back. A Memoir of an Isfahani Physician-Merchant Haj Mirza Abdol Javad Okhovat (Persisch)
Thousand Sights of Life (2004): Photographs of Ernst Hölzer from Naser al-Din Shah’s Age. Teheran: Documentation Center of the Iranian Cultural Heritage Organization. (Bilinguar: Persian-English)
Heydari, Mehdi (2007): Ensansenassi Nahiye- e Julfa-ye Isfahan (Anthropology of City Quarter Julfa in Isfahan (Persisch), Social Science Faculty, University of Tehran, Department of Anthropology, in der Website: Enshansenassi va Farhang: 1386 Schamsi.

Zum Autor
Dr. Mehdy Naficy, Anthropologe, B.A. und M.A. an der University of California in Los Angeles und Oklahoma University in Norman, USA, Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit 1992 Leiter der englischen Bibliothek im Deutsch-Amerikanishcen Institut in Heidelberg. Veröffentlichungen: Basar und Klerus in der Iranischen Revolution (Deutsches Orient Institut, Hamburg), Impulse des Lebens: Biographie eines Arztes (Persisch)


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008