NACH DER GROSSEN FLUT

Eine Ethnologin organisiert Hilfe für Tsunamiopfer in Südindien

Buchrezension von Ulrike Krasberg

Dr. Hilde K. Link ist Ethnologin. Als solche lebt und arbeitet sie oft in Südindien, wo sie die mythologischen Aspekte von Tempelarchitektur untersucht. Sie hat dort, an der südostindischen Küste, ein Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnt, wenn sie in Indien ist.

Auch an Weihnachten 2004 ist sie mit ihrer Familie dort. Sie feiern das christliche Fest mit den dazugehörigen traditionellen Ritualen zusammen mit einer indischen Familie. Ihr Mann liest die Weihnachtsgeschichte vor, und sie übersetzt für die indischen Zuhörer. Ravi, ein grauhaariges Familienoberhaupt, will die Geschichte von der Herbergssuche des heiligen Paares nicht verstehen: „Der Joseph geht doch in sein Heimatdorf, zu dem Ort seiner Väter. Ja gibt es denn da keinen einzigen Verwandten, der diesen Mann samt seiner Familie aufnimmt? Was müssen denn das für Leute sein, die nicht mal von ihrer eigenen Familie aufgenommen werden? Da braucht man doch nur mit ein paar Fragen herausfinden, wo Verwandte aus dem eigenen Geschlecht wohnen, und schon ist man untergekommen.“

Wie schnell sie selbst auf die Hilfe anderer und einer „Herberge“ angewiesen sein würden, konnten sie da noch nicht ahnen. Zwei Tage später schickte das Seebeben im Indischen Ozean eine haushohe Tsunamiwelle auch an die südindische Küste und überflutete den ganzen Küstenstreifen.

Um es kurz zu machen: Frau Dr. Link und alle europäischen und indischen Bewohner des Hauses konnten fliehen, und auch das Haus wurde nicht zerstört, denn kurz vor der Gartenmauer machte das Wasser Halt.

Sie kehrten - nach ein paar Tagen in der Obhut von Verwandten der indischen Familie, die weiter im Landesinneren leben - in ihr Dorf zurück. Dr. Hilde K. Link organisiert umgehend Soforthilfe. Sie lässt von eigenen Ersparnissen Essen kochen und an die Fischer verteilen, die nichts als das nackte Leben retten konnten, da sie unmittelbar am Strand lebten. In den folgenden Wochen gründete sie einen Verein, „Link-Hilfe“, über den Spenden in Europa gesammelt werden konnten, und kümmerte sich darum, in ihrem Küstendorf weitere Hilfsmaßnahmen zu organisieren.

Ihr Buch „Nach der großen Flut“ beschreibt, wie sie, immer weiter den Bedingungen der Not folgend, Hilfsmaßnahmen organisiert. In Europa gehen die ersten Spendengelder ein, die sie so schnell wie möglich in den Wiederaufbau der Häuser vor Ort investieren will. Das ist zwar notwendig, aber mit vielen Hindernissen versehen. So stellt sich zum Beispiel ziemlich schnell heraus, dass man die Häuser nicht wieder dahin bauen kann, wo die alten Hütten gestanden hatten, denn niemand will an diesen Unglücksort zurückkehren. Aber wo soll neues Land herkommen? Die Regierung stellt schließlich „staatlichen Boden“ bereit, und sie bemüht sich mit Erfolg darum, mit Behörden und kirchlichen Missionen zusammenzuarbeiten. Und schließlich, als endlich keine Leichenteile mehr vom Wasser an den Strand gespült werden und die Fischer wieder an ihre Arbeit gehen wollen, kann sie auch einen Teil der gesammelten Spenden für neue Boote und Netze für die Fischer ausgeben.

Die Autorin beschreibt eindrücklich, wie nach dieser Katastrophe die Fischer umdenken: Waren sie bislang zufrieden von ihrer Hände Arbeit leben zu können und im Bedarfsfall Hilfe von den Nachbarn zu bekommen oder auch zu geben, so hat die Flutkatastrophe ihnen gezeigt, dass diese sozialen Sicherheiten doch eher begrenzt sind. Sie wenden sich mit einer Vision zunächst an die Lehrerin ihrer Kinder, und schließlich stehen eine Delegation der Fischer und die Lehrerin im Garten von Frau Dr. Link. Sie möchten, dass die klügsten ihrer Kinder Förderunterricht bekommen, damit sie eine gute Berufausbildung erhalten können. Hätten die Fischer Ärzte, Rechtsanwälte oder Lehrer in ihren Familien, wären sie in Zukunft für Notsituationen wie dieser besser gewappnet. Und auf diese Weise würden auch die Fischer – die ärmste Bevölkerungsschicht - Anschluss an das moderne Leben bekommen. Und Dr. Hilde K. Link, die, wie sie schreibt, selbst ein Hochbegabtenstipendium erhalten hatte, hilft ihnen eine Schule zu organisieren und auszustatten. Das alles geht nicht schnell und komplikationslos vonstatten. Tagelang muss mit Autoritäten und Behörden diskutiert werden, und Frau Dr. Link fragt sich immer wieder, ob sie das Richtige tut. Schließlich erwarten die europäischen SpenderInnen von ihr, dass sie sorgsam mit den gesammelten Geldern umgeht.

„Nach der großen Flut“ ist - wie der Titel schon sagt – kein Buch über die Überschwemmungskatastrophe an sich, sondern eine Art Rechenschaftsbericht der Autorin über die Verwendung der gesammelten Gelder. Dabei ist „Bericht“ aber das völlig falsche Wort. Es ist ein Text, der teils an seine Ursprünge – Tagebucheintragungen – erinnert, teils ein überaus munterer, kurzweiliger Abenteuerroman ist. Die Autorin jagt von einem Ereignis zum anderen, reflektiert aber auch immer wieder ihre Aktionen und die nächsten Schritte, die sich daraus ergeben. Man könnte sagen, da ist Dr. Hilde K. Link ganz Ethnologin: Sie organisiert den Wiederaufbau wie eine wissenschaftliche Feldforschung und hat - wie sie selbst schreibt - „ein gutes Händchen für Geld“. Denn „was Organisieren anbetrifft, bin ich kein Talent, sondern ein Genie. Das darf in aller Bescheidenheit einmal festgestellt werden.“ Dabei ist ihr Ziel, die Gelder möglichst nachhaltig zum Wohle der Flutopfer zu investieren, und sie arbeitet so eng wie möglich mit den Betroffenen zusammen. Dass es immer wieder zu Schwierigkeiten kommt und zu überraschenden Lösungen, macht es spannend für LeserInnen, wenn auch anstrengend für die handelnde Ethnologin.

Erwähnenswert ist auch, dass die Flutopfer zwar Opfer im Sinne der Naturkatastrophe sind, was die Reorganisation ihres Alltags anbelangt, aber sehr genau wissen, was sie wollen und was sie brauchen, und dass sie durchaus auch in der Lage sind, die angebotene Hilfe in ihrem Sinne in Anspruch zu nehmen.

Dr. Hilde K. Link: Nach der großen Flut. Wie der Tsunami das Leben in „meinem“ indischen Dorf veränderte. Verlag Nymphenburger, 2005, 253 Seiten, Euro 16,90


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008