ORGANTRANSPLANTATION UND REPRODUKTIONSMEDIZIN

Ethnologische Analysen

Von Bernhard Streck

Brigitta Hauser-Schäublin, Vera Kalitzkus, Imme Petersen, Iris Schröder: Der geteilte Leib. Die kulturelle Dimension von Organtransplantation und Reproduktionsmedizin in Deutschland. Unter Mitarbeit von Margo F. Bargheer und Sibylle Obrecht. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2001, ISBN 3-593-36752-1, 341 S.

Dass Ethnologen vor schockierenden Themen nicht zurückschrecken, ist bekannt. Gemeinhin finden sie solche in der oft unerklärlichen Welt exotischer Gesellschaften. Die Göttinger Autorengruppe um die dortige Ordinaria Hauser-Schäublin ist dem Grauen bei uns begegnet, in den Zitadellen der Moderne (Werner Schiffauer), den Labors und Operationssälen der rapide expandierenden Medizinindustrie. Der Diskurs um das Machbare in der Medizintechnik findet keineswegs im Verborgenen statt; dennoch ist es mit diesem verständlich geschriebenen Buch gelungen, aus ethnologischer Sicht einen zusätzlichen Scheinwerfer auf das unglaubliche Geschehen einzuschalten.

Die Ethnologie hat lange gebraucht, sich von der Humanbiologie mit ihren stürmischen Fortschritten zu lösen. In den Sozialwissenschaften ist es mittlerweile Konsens, dass der verkleidete Mensch einen prinzipiell anderen Zugang als der vermessene Mensch braucht. Die heutigen Angebote einer Gesamtanthropologie wollen die entstandenen Gräben wieder zuschütten. Dass Ethnologen sich dabei nicht nur (mit gutem Grund) zieren, sondern auch in die Offensive gehen können, hat Brigitta Hauser-Schäublin mit ihren Kolleginnen im Geteilten Leib unter Beweis gestellt.

Beschrieben werden zwei Felder, auf denen die moderne Gesellschaft sich Zusammenhänge verfügbar macht, die bis vor kurzem undenkbar, oft auch mit Frevel verbunden erschienen: das Ausschlachten des sterbenden Körpers in der Organtransplantation und das Durchbrechen von Unfruchtbarkeit in der Reproduktionsmedizin. Beides, so die Rhetorik des medizinisch-industriellen Komplexes, diene der Reduktion von Leid. Tausende von Erkrankten und Kinderlosen können das bestätigen und sind dem biochemischen Fortschritt deswegen dankbar. Die Autorinnen wollen dies auch nicht in Abrede stellen. Es geht ihnen um andere Aspekte, die in der Aufklärungsliteratur gemeinhin überblendet werden.

Fleisch schmeckt anders, wenn man selbst geschlachtet hat oder einen Schlachthof besichtigt hat. Mit Letzterem kann man die Lektüre des Geteilten Leibes vergleichen. Man erfährt die Unzulänglichkeit der Hirntod-Debatte, die Grausamkeit der Menschenquantifizierung, die Steigerung der Abhängigkeit für die Genesenden. Es geht, wie wohl in jeder Kultur, um einen Kampf gegen die Natur. Doch statt um ein Stück Wildnis, das bepflanzt werden soll, kämpfen die Pioniere in Weiß gegen das körpereigene Immunsystem oder die bislang unerforschliche Weigerung der Natur, ein Paar mit Nachkommen zu segnen.

Siege über die ökologische, menschliche und göttliche Natur gehören zum wissenschaftlichen Programm seit Anbeginn. Ebenfalls Aufgabe der Wissenschaft ist aber auch die Ideologiekritik, insbesondere zu Umerziehungszeiten. In dem Buch werden die Hüllwörter wie Kinderwunsch , Organspende oder Aufklärung (für Werbematerial) durchleuchtet, mit denen unter massivem Medieneinsatz der Glaube an den medizinischen Fortschritt im Volk verbreitet wird. Hierbei ist der Gegner nicht nur die Natur, sondern auch die Kultur - zum Beispiel mit ihrem Leichentabu oder ihrer Scheu vor dem Unverfügbaren. Gewiss ist der lebende Leichnam eine vielerorts vertraute, wenn auch immer mit Schauder verbundene Konzeption; neu ist seine Qualität als Organreservoir.

Auch die Verwandtschaft, in Gesellschaften ohne Staat das beherrschende Ordnungsprinzip und in differenzierteren Zusammenhängen immer noch im Krisenmanagement geschätzt, wird durch die neuen Techniken neu definiert – nach Meinung der Autoren im Sinne einer Stabilisierung des bürgerlichen Abstammungsprinzips und seiner Verpflichtungen. Noch das fremde Spendersperma (bei der heterologen Insemination ) wird nach Gesichtspunkten der Ähnlichkeit ausgesucht – damit das soziale Umfeld nichts merkt. „Ist der soziale Vater jedoch mittellos, wird der 'Samenspender' für den Unterhalt des Kindes herangezogen." (S. 273). Andrerseits wird die multiple Elternschaft , die viele nicht industrielle Gesellschaften etwa über Adoption oder Patenschaften praktizieren, nun technisch machbar.

Der Göttinger Autorengruppe ist es mit ihrer sorgfältig recherchierten und exakt belegten Darstellung gelungen, das mittlerweile erreichte Stadium auf dem Weg von einer qualitativen zu einer quantitativen Körperkonzeption in nüchterne Worte zu fassen. Zwar kannten schon frühere Epochen die Kommodifizierung des Menschen; der Sklave wurde aber als Ganzheit gehandelt. Die Humantechnologie hat einen Markt der Menschenteile eröffnet, der dem allgemeinen Muster der Weltwirtschaft folgt: Die Organimportländer im Zentrum, die Spenderländer an der Peripherie. Dieser Asymmetrie mit ihren im Buch allenfalls angedeuteten Folgen für die übervölkerten Armutsregionen entspricht die Verschleierung des Organhandels in der Außendarstellung der Laboranten und Chirurgen, in der es ausschließlich um Hilfe und Spenden geht.

Der medizinische Fortschritt, der durch die Bekämpfung von Kindersterblichkeit und Seuchen viele Gebiete der Erde aus dem ökologischen Gleichgewicht gebracht hat, hat nun den menschlichen Körper und seine Bestandteile zu einem knappen Gut werden lassen, das bewirtschaftet werden muss. Diese Widersprüchlichkeit muss erst einmal eingesehen werden, bevor nach Lösungen gerufen werden kann. Dazu braucht es Grundlagenforschung, wie sie auch die Ethnologie betreibt. Ihre Stärke ist der Perspektivenwechsel, den man beim Kulturvergleich lernt. Dass dieser auch in einer globalisierten Welt notwendig ist, haben Brigitta Hauser-Schäublin und ihre Kolleginnen in buchstäblichem Sinne bewiesen. Da von der neuen Medizintechnik prinzipiell alle Menschen betroffen sein können, kann die Relevanz dieser Studie gar nicht überschätzt werden. Die Autoren haben sich damit einen großen Verdienst erworben, die Ethnologie hat ihre Kompetenz in der Öffentlichkeitsarbeit auf einem ungewöhnlichen Feld bewiesen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sollte gedankt werden, dass sie dieses Projekt gefördert hat.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008