KUNSTPROZESSE

Kunstprozesse außerhalb der westlichen Welt

Von Dieter Kramer und Ulrike Krasberg

Kunstprozesse
Cheri Cherin, Kinshasa, Kongo: "Mystique Congolaise", 1999. Museum für Völkerkunde, Wien

Schauen Sie, was der kongolesische Maler Cheri Cherin 1999 auf seinem Bild Mystique Congolaise versammelt hat: einen Teufel mit Vierzack, Krallen und Fledermausohren, einen Wunderheiler, der für alles Mögliche wie AIDS (SIDA) oder Hexerei (Sorcellerie), Impotenz (Impuissance), Chancen bei Jungen oder Mädchen, Blindheit, Diabetes und anderes zuständig ist und mit Taubenblut arbeitet, rechts unten die für Verführung und rasches Glück zuständige telefonierende Nixe Mama Wata mit einer traditionellen Hockerfigur und dem Verderben bringenden Krokodil im Hintergrund, dann links oben unter einem Schwarm von Hexen die Hochhaussilhouette von Kinshasa, davor ein Totengerippe und ein offensichtlich kranker Mann, darunter ein Prediger mit einer begeisterten Gemeinde vor sich – aber, o Schreck, er hat einen Leopardenschwanz und symbolisiert damit die Staatsmacht, und mit diesem Schwanz fesselt er eine junge Frau. Und ganz links unten: mit vor Angst und Schrecken weit aufgerissenen Augen und Mund ein Mann, der all diese Szenen vor sich sieht: Der Künstler vielleicht, der voller Grausen auf sein Land Kongo schaut? Oder ein Opfer all dieses Aberglaubens? Wir lassen die Deutung offen – vom Künstler erfahren wir nichts darüber: Er lässt uns mit seinem Bild allein, das ist die Sprache, die er spricht und auf die wir uns einlassen sollen. Zeitgenössische Kunst aus Afrika verdient das genauso wie unsere eigene Kunst.

Kunstprozesse außerhalb der westlichen Welt

Während Weltkunst ausschließlich mit dem Etikett „Qualität“ arbeitet (wobei die Definitionsmacht bei den Interpreten liegt, ohne dass es jedoch intersubjektiv überprüfbare Kriterien gäbe), so fragen sich Ethnologen, wenn sie sich mit Kunst beschäftigen, nach dem Zusammenhang von ästhetischer Gestaltung und Lebenswelt, fragen nach der spezifischen Rolle der Kunst darin und nach den Bedingungen ihres Entstehens.

So hat Kunst aus Afrika zum Beispiel immer auch mit den dortigen Lebensbedingungen zu tun, die geprägt sind von den Katastrophen, die scheinbar unaufhörlich und alle Gebiete des Lebens betreffend - von der Politik über Naturkatastrophen und Kriegen bis zu Seuchen und Aids - über den Kontinent hereinbrechen. All das spiegelt sich in der Kunst wider und wird von ihr verarbeitet. Aufgrund dieser Rahmenbedingungen gibt es in afrikanischen Ländern kaum ein Publikum für Intellektuelle und Künstler abgesehen davon, dass bedeutende afrikanische Künstler und Intellektuelle außerhalb Afrikas leben und arbeiten, ein Umstand, auf den Okwui Enwezor, der Kurator der Documenta11 in Kassel 2002, kürzlich nachdrücklich hinwies.

Wenn also über die Bedingungen des Entstehens zeitgenössischer Kunst nachgedacht wird, dann sind die lokalen Lebensbedingungen - kulturell und geschichtlich - ein Faktor, der die ästhetischen Ausdrucksformen bestimmt. Dieser Zugang - „Kunst und Lebenswelt“ -, wie ihn Ethnologen und Kulturwissenschaftler aufgrund ihrer Denkgewohnheiten praktizieren können, erweitert den Blick auf die Kunst. Zum Umgang mit Kunst gehört für sie nicht nur das isolierte Kunstprodukt, sondern auch die Spezifik und Unverwechselbarkeit der Lebenswelten, in der diese Kunst entsteht. Da finden sich vielschichtige Überlebensstrategien, neue Allianzen zwischen Traditionen und modernen Praktiken. Künstler und Publikum entdecken in dieser Art des Kunstschaffens neue Orientierungen jenseits überkommener historischer und universalistischer Ideologien.

So wie die europäischen Kulturen sich im Laufe ihrer Geschichte immer neu mit verschiedensten Erfahrungen und Einflüssen auseinander setzen mussten, waren auch die Kulturen in den ehemals kolonialen und halbkolonialen Regionen des "Südens" nie geschichtslos. Auch sie hatten sich mit den unterschiedlichsten Einflüssen auseinander zu setzen.

Der Kolonialismus war nur eine von solchen Erfahrungen, gewiss eine sehr prägende. Heute gehen die Interpreten postkolonialistischer Theorien von der These aus, dass Kolonisierte und Kolonisierende durch eine unaufhebbare gemeinsame Erfahrung verbunden sind. Diese gemeinsame Erfahrung prägt hier wie dort die Kunstproduktion. Aktuelle Erfahrungen verbinden sich mit den jeweiligen Traditionen und Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses. Der Kolonialismus hat (und ähnlich ist es mit der Globalisierung) also nicht einfach „Wurzeln“ abgeschnitten oder sie zerstört, sondern neue Erfahrungen zu verarbeiten aufgegeben. Dass dies je nach Rahmenbedingungen unterschiedlich verlaufen ist, das gerade ist das Interessante, das sich bei der Analyse von Kunstprozessen in diesen Regionen verfolgen lässt.

Die bildenden Künste sind wesentlicher Teil der Symbolarbeit einer jeden Kultur. Sie formulieren jene Bilder und Vorstellungen, die den Menschen als Orientierungshilfen für ihre Interpretation und Konstruktion von Welt und Mensch dienen. Sie gestalten damit das Menschenbild und das Verhältnis zu der sie umgebenden Natur, zu den Mächten des Lebens und des Todes, zum Eigenen und Fremden und zur Geschichte. Freilich ist dies kein linearer Prozess. Vielmehr bricht er sich mehrfach in Traditionen, Institutionen der Kunstpflege, mannigfaltigen Einflüssen von außen und Kräften aus dem Inneren. So entsteht nicht nur lebendige Kunst in Europa, sondern auch in Afrika.

Und doch gibt es in Europa die naive Fiktion einer „authentischen“, das heißt geschichtslosen afrikanischen Kunst. Diese überlebt in der handwerklichen "Airport Art" für die anspruchsloseren Touristen aus den reichen Ländern des "Nordens" - die wohlhabenderen unter ihnen schwärmen für traditionelle „Stammeskunst“ und bedienen sich des lokalen Kunsthandels, der meistens illegitim in den Handel gelangende alte Kunstschätze anbietet.

Wenn heute über die Bedingungen des Entstehens zeitgenössischer Kunst - wo auch immer - nachgedacht wird, dann ist die Lokalität in ihrer historisch-geographischen Einzigartigkeit ein wichtiger Faktor, der nicht vernachlässigt werden darf. Nur wenn lokale Bedingungen Berücksichtigung finden, kann die Bedeutung dessen erkannt werden, was sich heute in Afrika zum Beispiel an ästhetischen Ausdrucksformen entwickelt, in denen die Erfahrungen der Vor- und Nachteile der Globalisierung verarbeitet werden. Von Bedeutung für die Kunstprozesse ist auch die so genannte „afrikanische Renaissance“, die einerseits die Aufwertung afrikanischer Formen der Demokratie und Philosophie bezeichnet, andererseits auch die Kritik an den Befreiungsnationalismen beinhaltet (wie bei Edward W. Said nachzulesen ist), beides ein Bestandteil des Postkolonialismus. Machtverhältnisse spielen nach wie vor in Kunstprozessen eine Rolle, auch wenn heute gern kulturelle Differenz und die sozialkulturellen Unterschiede des Umgangs mit Gütern der Moderne in den Vordergrund geschoben werden.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008