NACHLESE ZUR DOKUMENTA11

Anmerkungen aus der Perspektive des Museums der Weltkulturen

Von Dieter Kramer

Gern hätten wir Okwui Enwezor um seine Einschätzung der Folgewirkungen der Documenta11 gebeten. Es hat sich nicht ergeben, aber die Fragen, die sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Arbeit der Galerie 37 im Museum der Weltkulturen stellen, werden relevant bleiben.

Die Geschichtlichkeit von Kunstprozessen

Die Documenta11 wollte den Horizont erweitern durch die Präsentation von Künstlern und Kunstprozessen außerhalb der europäisch-atlantischen Welt. Sie wollte dabei die Produktionsbedingungen der Kunst hinterfragen. In einem Interview mit Elke Buhr und Thomas Wolf (Frankfurter Rundschau) stellte sich Enwezor die Frage: „Kann man die künstlerische Praxis wirklich trennen von der Umgebung, in der sie entsteht und wahrgenommen wird? Das führte zu einer Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kunst und Entwicklung und Wissens-Transfer bis zu Workshops in senegalesischen Dörfern – auf diesem Feld erwarte ich mir spannende Ergebnisse.“

Kritiker, wie beispielsweise René Böll, werfen Enwezor und seinem Team vor, dass bei den meisten Künstlern der Documenta11 Inhalte wichtiger gewesen seien als die Form, und damit werde die künstlerische Dimension vernachlässigt. Nicht begriffen wurde Enwezors Versuch, die Künstler zu beauftragen, diagnostische Prozesse in einer unruhigen Zeit zu versuchen (und das ist ein ernst genommenes Programm des „Think Tank“ Museum, wie Jean Christophe Ammann vom Museum für Moderne Kunst in Frankfurt es vertrat – ob das eingelöst wird, ist hier wie dort gesondert zu fragen). Enwezor hat „Forscherkünstler“ beauftragt. Die Produktionsweisen der meisten seiner Künstler sind neu, ihre Werke sind nicht für Galerien geeignet (die deswegen auch an der Documenta11 nicht interessiert waren). Es sind Projektkünstler, die ihre Kunst als Analyseinstrument benutzen. Und sie beziehen sich so auf ihre Gesellschaften, dass der Kulturjournalist Hanno Rautenberg von der „NGO namens Kunst“ sprechen konnte. Enwezor weiß allerdings auch: „Was immer deine politischen oder kulturellen Sympathien sind, am Ende kommt ein viel komplexeres Bild heraus.“

Vorlauf oder Nachhinken?

Die „soziopolitischen Ermittlungen“ im Programm von Enwezor gestalten eine Landkarte mit Überschneidungen zwischen Kunst- und Wissenskreisläufen. Die an verschiedenen Plätzen des Globus stattfindenden Plattformen 1-4 im Vorlauf der Documenta11 als Plattform 5 können gewertet werden als Versuch, die Welten der Kunst mit den Diskursen der intellektuellen (sozial-, wirtschafts- und politikwissenschaftlichen) Analytiker der Globalisierung zusammenzubringen. Das ist nicht ohne Spannungen und Brüche möglich. Während die Künstler den intellektuellen Analytikern vorwerfen können, sie vernachlässigten die kulturellen, ästhetischen und symbolischen Dimensionen der Globalisierung, könnten die Wissenschaftler den Künstlern vorwerfen, sie würden nur dilettantisch die ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse bearbeiten.

Manchmal hat man den Eindruck, die Künstler erklärten einem kunstbeflissenen und kunstgewohnten, aber mit den materiellen Verhältnissen der Globalisierung wenig vertrauten Publikum mit eher hilflosen Gesten die neue Welt, während Kulturwissenschaftler, auch populäre wie Edward W. Said oder Naomi Klein, und die breitenwirksamen symbolischen Aktionen von Greenpeace, Attac und anderen inzwischen auf anderen Ebenen längst wirkungsvolle Interpretationen verbreitet haben. Vielleicht liegt das Neue und Andere bei den Künstlern darin, dass sie unvorbelastet von jeglicher deformation professionelle die Verhältnisse betrachten können. Möglicherweise wird auch gerade durch das Dilettieren eine neue Sicht auf die Dinge ermutigt. Das ist vielleicht der Fall bei Beispielen wie den digital commons von RAQS Media Collective aus Dehli, wo durch eine Aktion eine Verbindung der modernen Informations- und Kommunikationstechniken (ICT) zu der uralten Praxis des Gemeinschaftsbesitzes eingefordert wird. Der Tsunamii Web-Walker hilft uns bei der Wiederentdeckung des Raumes, indem er virtuelle Positionierung mit der realen Bewegung des Wanderers in der Landschaft verbindet.

Ein privilegierter Zugang

Die Documenta11 ist wie ihre Vorgänger eine Schau für ein kunstgewohntes Publikum, von dem nicht unbedingt erwartet werden kann, dass es mit dem aktuellen politik- und sozialwissenschaftlichen Denken vertraut ist. Es ist gebildet und den Umgang mit Galerien und Museen zeitgenössischer Kunst gewohnt. Publikum und Künstler haben sich aufeinander eingestellt oder sind dazu bereit, dies zu tun. Auch bei der Documenta11 handelt es sich um einen spezifischen Sektor des heutigen ästhetischen (bildnerischen) Produzierens, bei dem der Alltag und die kulturindustriell-populären Formen nur peripher einbezogen sind. Nur einige wenige Übergänge sind vorgesehen (Hirschhorns Bataille-Monument, eine Art sozialkulturelles Zentrum in einem Problemstadtteil von Kassel ist das prominenteste Beispiel; es erweckt freilich den Eindruck der Arbeit eines sozialpädagogisch dilettierenden Künstlers und zielt auf ein sich ebenfalls nur dilettierend, wenn überhaupt, näherndes Publikum). Es scheint, als sei die zeitgenössische Kunst unfähig, Symbolwelten und Bilderfindungen zu kreieren, in denen sich die Menschen von heute, auch die Millionen von Migranten und Flüchtlingen wiedererkennen können und mit denen ein ganz breites Publikum erreicht wird (wie zum Beispiel einst von Picassos Symbolen des Friedens). Die Documenta11 hat ein gebildetes Publikum aus privilegierten Teilen der Welt. Dieses Milieu kann sich in hohem Maße Selbstreferentialität leisten. Ein kunstgewohntes, kunstbeflissenes Publikum ist aufgefordert, mit in den Kunstbetrieb integrierten professionellen Künstlern in Kommunikation zu treten. Grenzüberschreitungen sind kaum möglich, der Prozess kreist in einem relativ geschlossenen Milieu.

Metropolenkunst

Die Documenta11 ist die Ausstellung der kosmopolitischen Intelligenz, der „reisenden Kulturen“, der Globalisierungsprotagonisten (von denen die meisten Globalisierungsgewinner sind oder werden wollen). In der Behauptung, zeitgenössische Kunst entstehe nur in den Städten, ist diese Position enthalten. Mehr als die Hälfte der 118 KünstlerInnen kommen aus dem Süden oder weisen eine migrantische Herkunft auf. Ein Viertel der Künstler arbeitet nicht im Herkunftsland, sondern in westlichen Kunstmetropolen.

Außerwestliche Metropolen werden einbezogen, und so soll eine bewusste Abkehr von der vorher gängigen Vorherrschaft europäisch-atlantischer Kunst stattfinden. Dennoch: „Nach wie vor gilt, dass KünstlerInnen in westlichen Metropolen verankert sein müssen, um in der internationalen Kunstszene beachtet zu werden.“

Weil die Gewichte so verteilt sind, meinen manche Kritiker, die Documenta11 hätte zu viel Rücksicht genommen auf die Gewohnheiten des Kunstbetriebes und deswegen seien im Grunde doch wieder nur die auf dem internationalen Kunstmarkt erfolgsfähigen Werke gezeigt worden, während Entwicklungen zeitgenössischer ästhetischer Gestaltung außerhalb des Kunstbetriebes keine Chance gehabt hätten.

So lässt sich auch Enwezor selbst verstehen, wenn er provozierend gegen das „evolutionäre Integrationsprinzip“ des westlichen (kapitalistischen) Kulturbetriebs und gegen die Beschränktheit der Anvantgarde eine antievolutionistische „tabula rasa“ setzt (die dann in „ground zero“ mündet): „Die Verfechter der Avantgarde haben wenig getan, um einen Raum der Selbstreflexivität zu konstituieren, die neue, nicht auf den Werten der westlichen Welt beruhende Zusammenhänge künstlerischer Modernität zu verstehen in der Lage wäre. Dadurch erhalten die Ansprüche auf Radikalität, die einer Ausstellung wie der Documenta und ähnlichen Veranstaltungen innerhalb des Ausstellungskomplexes heutiger künstlerischer Praxis oft zugeschrieben werden, eine tendenziöse Note. Das historische Bündnis der Documenta mit Institutionen der Moderne macht deutlich, dass sie sich bei ihrem Versuch, sowohl ihre Radikalität als auch ihre Normativität auszuspielen, sofort in einem Double Bind verfängt.“

So liegen noch in der Person von Okwui Enwezor der Kunstexperte und der Globalisierungsanalytiker miteinander im Streit.

Der Konzentration auf die im Kunstbetrieb erfolgreichen urbanen Künstler ist vielleicht auch das Fehlen des Tafelbildes bei der Documenta11 zu verdanken: Ihm fehlt das Milieu. Die Tafelbilder aus dem Milieu des neuen kongolesischen urbanen Mittelstandes, die in Enwezors Schau „The short Century“ zu sehen waren, gibt es auf der Documenta11 nicht. Aber prinzipiell ist nicht ausgeschlossen, dass genau wie die Grafik (deren Handwerklichkeit immer attraktiv sein wird) auch das Tafelbild mit einem entsprechenden Markt eine Renaissance erlebt: Was die Documenta11 nach Peter Idens Meinung als „verbraucht, hinfällig, abgelebt ausgibt“, kann neue Blüte erleben. In anderen Fällen sind eindrucksvolle Inszenierungen gerade widerspruchsreichen Situationen zu verdanken. Für Fahreed Armali und Rashid Masharawi sind angesichts der Lage in Palästina Fragen nach Exil, Diaspora und Identität zentrales existenzielles Thema.

Die Stadt gehört zu den bevorzugten Themen der Documenta11. Es wird aufgegriffen in den Werken von Garaicoa/Kuba, der gleichzeitig ein differenziertes Verhalten zur Politik entwickelt. Er widerspricht den Klischees vom unterdrückten Künstler in Kuba, wenn er sagt, dass Künstler überall in der Welt auf Grenzen treffen: „Von westlichen Kritikern hört man oft die Forderung: Aufgabe von Künstlern in Ländern wie Kuba sei es, sich gegen das System zu stellen. Aber niemand fragt einen deutschen Künstler als Erstes, ob er sich mit seiner Kunst gegen die Regierung stellt.“

Der postkoloniale Diskurs auf der Documenta11

Gern beruft sich Enwezor auf Autoren wie Frantz Fanon, Homi K. Bhabba und Edward Said (analog zu dem sich Enwezor niemanden vorstellen kann, "der sein ganzes Leben mit einer unwandelbaren Identität lebt”).

Wegen der dem Postkolonialismus impliziten Kritik an den postkolonialen Nationalismen gilt für ihn auch: "Es gibt keine Rückkehr zu den nationalistischen Ideen der Vergangenheit." Und er vertieft dies in einem Aufsatz, abgedruckt in der Kunstzeitung Nr. 47: "Die zentrale Frage aus der Perspektive derjenigen, die den Kampf für Unabhängigkeit und Befreiung in Afrika damals führten, war: 'Können unterdrückte Menschen dieselben Tugenden anstreben, für die der Westen so hart gekämpft hat, obwohl dieser keinen Widerspruch darin sah, diese Tugenden in seinen Kolonien mit Füßen zu treten?'" Diese aufklärungskritische Haltung mündet in ein gegen jedes Pathos vom "Neuen Menschen" gerichtetes Denken, wie wir es auch bei Edward Said finden: "Damit der Mensch mit all seinen Ängsten, Hoffnungen, Vorurteilen und seiner Unzulänglichkeit unversehrt bleibt, müssen wir einfachen Slogans widerstehen."

Es gibt für ihn keinen globalen Schmelztiegel. Die Komplexität und die "vielen Topographien künstlerischer Produktion" sind ihm für seine "internationale Perspektive" wichtig. Er betont zwar immer wieder: "Zeitgenössische Kunst entsteht in Metropolen." Aber New York und London sind ihm mittlerweile keine westlichen Zentren mehr, weil es auch da viele asiatische und afrikanische Künstler gibt. Dort entsteht "offizielle Kunst". "Aber wir müssen über diesen Rahmen hinausgelangen und auch sehen, was in Dakar oder Neu-Dehli geschieht." Für ihn bleibt die aktuelle Kunst allerdings im Bannkreis der Metropolen angesiedelt. Nicht urbane Räume liegen damit außerhalb des Interesses. Ob sich das mit der Krise der Modernisierung ändern wird, bleibt abzuwarten.

Region, Provinz, Land kommen nicht vor – damit werden wesentliche Bereiche aktueller Konflikte in den Stürmen der Globalisierung ausgeblendet. Aber es könnte sein, dass Hunger und Widerstand gegen Vereinnahmung durch die Globalisierung und die Binnenkolonisation, wie sie auf dem Lande, in der Provinz stattfinden, auch wichtige Exponenten der Globalisierung sind – denken wir nur an die Triebkräfte der afrikanischen Renaissance. Und ihr Niederschlag in der ästhetischen Symbolproduktion dürfte ebenfalls interessant sein – nicht zuletzt für ein Museum wie das Museum der Weltkulturen und seine Galerie 37.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008