DER KOSMISCHE PHALLUS

Eine Rassellanze der Tukano aus Nordwest-Amazonien

Von Claudia Augustat

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Spitze einer murucú-maracá der Tukano. Slg. Natterer 1817-1835, Museum für Völkerkunde Wien.

Die Tukano leben im Dreiländereck Kolumbien, Brasilien und Peru entlang des Río Uaupés und seiner Zuflüsse. Sie gehören zu den ethnischen Gruppen Nordwest-Amazoniens, die traditionell durch Heiratsbeziehungen und den Austausch von Gütern verbunden sind. Diese Verbundenheit spiegelt sich heute darüber hinaus in gemeinsamen politischen Vereinigungen wider. In der ethnologischen Forschung sind die Tukano vor allem durch die Arbeiten des Kolumbianers Gerado Reichel-Dolmatoff und des Ehepaars Catherine und Stephen Hugh-Jones bekannt geworden. Ihnen verdanken wir umfangreiche Kenntnisse und Einblicke in die Mythologie, das Weltbild und die kosmologischen Vorstellungen dieser indianischen Gruppe.

Demnach haben die Tukano nicht immer in ihrem heutigen Siedlungsgebiet gelebt. In der Erzählung über ihre mythische Wanderschaft begegnet uns zum ersten Mal die Rassellanze, die in der Gegenwart zu den wichtigsten Ritualgegenständen zählt. Die mythische Heimat der Tukano lag weit im Osten an den Ufern eines großen Sees. Von dort brachen ihre Vorfahren in einem Kanu auf, das eine riesige Anakonda war, um den Mittelpunkt der Welt und damit eine neue Heimat zu finden. Vorne im Anakonda-Kanu saß die „Ur-Sonne“, einer der Ältesten, auch „Herr der Zeit“ genannt. Immer wieder legte das Anakonda-Kanu am Ufer an, und „Ur-Sonne“ ging an Land und richtete seine Rassellanze auf. Doch solange sie noch Schatten warf, wussten sie, dass sie die Mitte der Welt nicht gefunden hatten. Erst am Jiparari-Wasserfall warf die Rassellanze keine Schatten mehr: Die Mitte der Welt war erreicht. Hier fand die Menschwerdung statt, indem die Ahnen ihre Schlangenhaut abwarfen und an der Sonne trockneten, und hier wurde das Yurupari , das bedeutendste Ritual der Tukano, zum ersten Mal gefeiert. Von hier aus fuhr das Anakonda-Kanu weiter, und dort, wo es am Ufer anlegte, verließen Menschen das Kanu, ließen sich nieder und gründeten die Klane, die bis heute das Fundament der Gesellschaftsstruktur der Tukano bilden.

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Spitze mit Rassel einer murucú-maracá der Tukano, Slg. Natterer 1817-1835. Museum für Völkerkunde Wien.

Wie auch in anderen Mythen der Tukano spielt hier ein Gegenstand eine große Rolle: Es ist eine Rassellanze, mit deren Hilfe der Mittelpunkt der Welt gefunden wird, und in einer weiteren Mythe kommt zum Ausdruck, dass sie nicht nur ein einfaches Hilfsinstrument ist, sondern dass ihr eine tiefere Bedeutung zukommt: Sie ist ein Symbol der kosmischen Weltachse, die alle Ebenen des Kosmos durchdringt und miteinander in Verbindung setzt. Indem „Ur-Sonne“ die Rassellanze in die Erde stößt, dringt ihre eine Spitze in die Unterwelt ein. Im Weltbild der Tukano ist diese die Quelle des Lebens, zu der die Seelen der Verstorbenen zurückkehren, um dann in einem Akt der Wiedergeburt auf die Erde zurückzukehren. In einer anderen Mythe wird erzählt, wie mit Hilfe der Rassellanze die Sonne erschaffen wird und damit das Licht in die Welt kommt. In beiden Fällen handelt es sich um Prozesse, die als ein Akt der Öffnung zu begreifen sind und in der Vorstellung der Tukano mit der Freisetzung sexueller Energien verbunden sind.

Die mythische Rassellanze ist auf diese Weise ein starkes Symbol für die urzeitliche Schöpfungskraft: „In den Mythen ist die Rassellanze ein Mittel, das die sexuellen Energien bündelt, die notwendig sind, ein verschlossenes und dunkles Universum zu öffnen.“ (Kapfhammer 1992: 179). Im Ritual wird diese Kraft auch in der Gegenwart wirksam. Als rituelles Instrument verweist die Rassellanze auf ihr mythisches Ebenbild, und ihre Handhabung schafft eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der mythischen Urzeit. Grenzen werden aufgehoben, um Energien zu aktivieren.

In diesem Zusammenhang steht auch die rituelle Verwendung der Rassellanze im Rahmen der Knabeninitiation: Indem sie über die Geschlechtsorgane der Initianden gehalten wird, überträgt sich die in ihr verkörperte sexuelle Energie auf die Knaben, wodurch sie zu erwachsenen, fortpflanzungsfähigen Männern werden. Auch dieser Vorgang wird als ein Prozess der Öffnung interpretiert. Darüber hinaus teilt die Rassel, je nachdem, wie sie in Bewegung gesetzt wird, den von der Initiation ausgeschlossenen Frauen deren Verlauf mit. Nach der rituellen „Öffnung“ der Initianden wird mit Hilfe der Rassellanze ein schwirrendes Geräusch erzeugt, in dem sie von unten nach oben bewegt wird. Dieses Geräusch gilt den Frauen als Warnung vor der zu diesem Zeitpunkt unkontrollierten Sexualität der jungen Männer. Mit Hilfe von Tabakrauch bringt der Schamane die Sexualität der Männer unter Kontrolle. Kontrolle bedeutet in diesem Fall, dass die Männer akzeptiert haben, dass sie nur sexuelle Kontakte haben dürfen, die der Exogamie entsprechen. Gegen Ende der Initiation wird die Rassellanze in eine horizontale Bewegung versetzt, wodurch ein rasselndes Geräusch erzeugt wird, das als „die Stimme des Schamanen“ gilt. Auf diese Weise wird den Ahnengeistern und darüber hinaus auch den Frauen mitgeteilt, dass die Initianden nun in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer aufgenommen sind.

Die Gestaltung der Rassellanze verweist auf ihren mythischen Ursprung. Die Lanze besteht aus einem polierten Stab aus Brasilholz (Brosimum paraense Hub.). Ihre Länge variiert zwischen zwei und zweieinhalb Metern. An dem einen Ende der Lanze, das in eine einfache Spitze ausläuft, befindet sich eine spindelförmige, hohle Ausbuchtung, in der Quarzkiesel oder Fruchtkapsel sind. Wie bereits gesagt, kann diese Rassel je nach Bewegung ein rasselndes oder schwirrendes Geräusch erzeugen.

Die andere Spitze der Lanze ist aufwendig gestaltet. In das Ende sind zwei dicht beieinander stehende scharfe Beinspitzen eingelassen, an denen sich in diesem Fall noch gut erkennbar Reste von Pfeilgift befinden. Sowohl die zwei Beinspitzen als auch die „Befiederung“ der Lanze mit Federn des Kolibris weisen mythische Bezüge auf. Die Beinspitzen stellen eine Verbindung zum mythischen Opossums her: Das Opossum ist ein Beuteltier, das aufgrund einer anatomischen Besonderheit – eines gespaltenen Penis – bei den Tukano als sexuell unersättlich und potent gilt. Man sagt ihm nach, dass es sein eigenes Weibchen durch die Nasenlöcher begattet und es könne mit zwei Frauen gleichzeitig Verkehr haben. Durch diesen Bezug symbolisiert die Rassellanze eine fruchtbare, aber unkontrollierte Sexualität. Im Gegensatz dazu steht der Bezug zum Kolibri mittels seiner Federn: In einer Mythe der Tukano wird berichtet, dass der Kolibri zu einer Flussinsel flog, von der er das Feuer und den Tabak mitbrachte, womit er die Menschen in den Gebrauch der Zeremonialzigarre einführte. Der Tabak wiederum wird während der Knabeninitiaion – wie bereits gesagt – als ein Mittel der Kontrolle eingesetzt.

Die hier abgebildete Rassellanze stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. 1817 reiste die österreichische Erzherzogin Leopoldine nach Brasilien, um dort den portugiesischen Kronprinzen und späteren brasilianischen Kaiser Don Pedro zu heiraten. In ihrem Gefolge befanden sich auch die Teilnehmer einer wissenschaftlichen Expedition, unter ihnen der Zoologe Johann Natterer. Ebenso wie für Leopoldine wurde auch für Natterer Brasilien zu einer zweiten Heimat: Er blieb bis 1835, heiratete, gründete ein Familie und bereiste weite Teile des Landes. Bis heute zeugen über 45.000 naturkundliche Objekte und über 1800 Ethnographica von seiner Sammelleidenschaft und seinem Wissensdrang. Da Natterer aufgrund seines frühen Todes 1843 seine Forschungsergebnisse nie veröffentlichte und seine Tagebücher vermutlich im Revolutionsjahr 1848 verbrannt sind, verfügen wir heute nur über wenige Informationen zu einzelnen Objekten seiner Sammlung.

Das hier Gesagte über die Symbolik der Rassellanze und ihren Bezug zu Mythologie und Weltbild der Tukano basiert jedoch auf Forschungsergebnissen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Objekte aus dem 19. Jahrhundert mithilfe von Kenntnissen zu interpretieren, die über 150 Jahre später erworben wurden, ist nicht unproblematisch. Ob die Tukano des frühen 19. Jahrhunderts den Zeremoniallanzen die gleiche Bedeutung und Symbolik zugeschrieben haben wie ihre Nachfahren heute, ist fraglich. Im Inventar des Wiener Museums werden sie unter den Waffen als „Wurfspieße der Häuptlinge“ aufgeführt. Dies entspricht der Annahme von Theodor Koch-Grünberg, der 1903 und 1905 die Uaupés-Region erforschte, dass sich die Zeremoniallanzen aus „wirklichen Kriegswaffen“ herausentwickelt haben. Dafür spricht auch, dass die Knochenspitzen der Stücke aus dem frühen 19. Jahrhundert vergiftet waren. Die aufwendige Gestaltung der Rassellanzen weist sie schon damals als Prestigeobjekte aus. Über die kosmologischen Vorstellungen der Tukano zu Beginn des 19. Jahrhunderts wissen wir jedoch nur wenig. Indianische Mythen, die von der Erschaffung der Weißen berichten, zeigen jedoch, dass die Mythologie und damit auch die kosmologischen Vorstellungen in Amazonien einen steten Wandel vollzogen haben und immer noch vollziehen. In ihrer physischen Gestaltung und Präsenz ist die Rassellanze der Tukano ein Kontinuum ihrer materiellen Kultur, jedoch spricht vieles dafür, dass ihr zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben wurden. Damit ist sie zugleich ein Symbol der Kontinuität und des Wandels.

Weiterführende Literatur

Izikowitz, Karl Gustav (1935): Musical and Other Sound Instruments of the South American Indians. A Comparative Ethnographical Study. Göteborg
Kapfhammer, Wolfgang (2002): Wai masa, von Fischen und Menschen in Nordwest-Amazonien. In: Doris Kurella und Dietmar Neitzke (Hrsg.): Amazonas-Indianer. LebensRäume, LebensRituale, LebensRechte. S.141-172. Stuttgart
Kapfhammer, Wolfgang (1992): Der Yurupari-Komplex in Nordwest-Amazonien. Münchener Amerikanistik Beiträge 28. München
Koch-Grünberg, Theodor (1909): Zwei Jahre unter den Indianern. Bd. II. Berlin
Reichel-Dolmatoff, Gerardo (1968): Amazonian Cosmos. The Sexual and Religious Symbolism of the Tukano Indians. Chicago, London
Ribeiro, Berta G. (1989): Arte Indígena, Linguagem Visual – Indigenous Art, Visual Language. Sao Paulo
Vincent, William Murray (1985): Daxsea Mahsa: Cosmology and Material Culture among the Tukano Indians of Brazil. Diss. Chicago

Zur Autorin

Dr. Claudia Augustat studierte Ethnologie, Alt-Amerikanistik, Kunstgeschichte und orient. Kunstgeschichte in Bonn und promovierte 2004 in Frankfurt/M. Seit 2004 Kuratorin der Südamerika-Sammlung am Museum für Völkerkunde in Wien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008