ZAHLEN, DIE DIE WELT BEDEUTEN

Kosmologische Verzierung an einem Holzgefäß aus dem Kameruner Grasland

Von Josef F. Thiel

Zahlen, die die Welt bedeuten
Holzschale aus dem Kameruner Grasland. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Aus Afrika südlich der Sahara sind zahlreiche Gefäße, Statuetten, Trommeln und andere Objekte bekannt, die auf Erde und Himmel, Frau und Mann, Kulturwelt und Wildnis und andere duale Vorstellungen hinweisen. Durch diese Dualität wird aufgezeigt, dass es sich bei einem Objekt oder einer Idee um etwas Ganzes, Vollkommenes, Universales handelt, das über seine, vielleicht alltägliche Funktion hinaus in eine kosmische Dimension verweist. Eine runde Scheibe oder gar eine Weltkugel wird man in der alten Kunst Afrikas nicht finden; diese Kenntnis war im traditionellen Afrika nicht geläufig. Dagegen werden zahlreiche Symbole verwendet, die die Vorstellung von Gesamtheit und Vollkommenheit ausdrücken sollen. Es sind allerdings einige Kenntnisse nötig, um die Symbole richtig deuten zu können. Häufig kann man feststellen, dass auch im heutigen Afrika die Inhalte der Symbole nicht mehr ohne weiteres geläufig sind. Aus dem Kontext ihrer Mythen und Riten kann ihr ursprünglicher Sinn aber vielfach erschlossen werden.

Vor gut zwanzig Jahren hatte sich das damalige Museum für Völkerkunde in Frankfurt heute Museum der Weltkulturen ein neues Piktogramm gegeben. Man griff dabei auf ein Kerb-Ornament auf einer großen Holzschale aus dem Kameruner Grasland zurück, weil man damit die vier Kontinente anzeigen wollte, von denen das Museum große Sammlungen besitzt. Bei näherer Betrachtung der Symbolik des Kerbbildes stellt man jedoch fest, dass sie weit über die vier Kontinente: Afrika, Amerika, Südostasien und Australien hinausweist. Das Bild zeigt auf den ganzen Kosmos hin und nicht nur auf vier Kontinente.

Das besagte Symbol-Bild besteht aus vier Vogelköpfen, die innerhalb eines Quadrats so angeordnet sind, dass je ein Schnabel bis in eine Ecke des Quadrats reicht, in dem die Köpfe zentrisch angeordnet sind. Bei dem schwarz-weiß gehaltenen Kerbbild fällt auf, dass die Vogelköpfe fast ausschließlich aus Schnabel und Auge bestehen. Die Augen wiederum sind durch einen markanten Punkt im Zentrum mit zwei konzentrischen Kreisen dargestellt. Die vier Vogelköpfe im Quadrat drücken also eine Vierheit aus; die Augen dagegen werden betont auffällig im Zentrum der Köpfe hervorgehoben; sie stehen ganz offensichtlich für die Dreiheit. Die Kreise mit dem hellen Punkt in ihrer Mitte weisen sehr wahrscheinlich auf die Sonne hin.

Links vom Vogelkopfquadrat ist in gleicher handwerklicher Ausführung eine Eidechse, es könnte auch ein Krokodil sein, dargestellt. Beide Tiere gelten als chthonische Tiere. Und da sie viele Eier legen, werden sie der Fruchtbarkeit zugeordnet. Vielleicht wurden einmal in dem großen Gefäß Lebensmittel aufbewahrt, von denen man wünschte, dass sie nie ausgehen mögen, wie die Nachkommen des dargestellten Tieres immer wieder geboren werden. Bei dem Tier nehmen die Augen wiederum das Motiv der Dreizahl auf und die vier Beine und vier Zehen die Vierzahl. - Die Schale ruht auf vier mächtigen Postamenten oder Beinen. Ob die Schale auch einmal einen Deckel hatte, der in solchen Fällen in Afrika gerne die Dreizahl hervorhebt, ist leider nicht bekannt.

Was hat nun die Vierzahl zu bedeuten? Die Vier ist in vielen Kulturen und Religionen der Welt Symbol für das Universale, Ganze, Vollkommene, den Kosmos schlechthin; aber sie steht auch für die Erde und die Frau im Gegensatz zum Mann, dem die Drei (bzw. Fünf) zukommt. Da unsere vier Vogelschnäbel in die vier Himmelsrichtungen weisen, sind damit alle Himmelsrichtungen gemeint, somit das ganze Universum. Eine vollkommene Stadt war nicht nur bei uns im Mittelalter geviertelt mit einem Zentrum im Schnittpunkt der Achsen; dazu hatte sie auch eine Mauer mit vier Toren. Bereits das alte Rom war seiner Gründungsmythe nach in vier Quadranten geteilt mit der Opfergrube, der so genannten "Mundus-Grube" im Zentrum; deshalb spricht man auch von "Roma quadrata". Selbstverständlich hatte Rom auch eine Mauer und vier Stadttore, die in den vier Himmelsrichtungen angeordnet waren. Da die römische Religion als Unterwerfung unter die gottgewollte Ordnung begriffen werden kann, war es von großer Wichtigkeit, den Willen der Götter durch Himmelszeichen, Vogelflug etc. ergründen zu können, um der Ordnung zu entsprechen. Vom Zentrum her waren die Stadt und der überschaubare Raum quadriert. Auf diese Weise konnten die Zeichen gedeutet werden, ob sie günstig oder ungünstig waren, da es positive und negative Quadranten gab. Man sieht aber auch, das die Vier meist ein Zentrum postuliert. Wird die Erde mit der Vier identifiziert, ist das Zentrum zu ihr fast immer die männliche Sonne; sie ist sozusagen das männliche Pendant zur weiblichen Erde. Beide zusammen ergeben dann das Ganze.

In Altbabylonien führte der König den Titel "Herrscher der vier Weltgegenden", d. h. des gesamten Universums; den fast gleichen Titel finden wir auch in Altägypten und im Inkareich vor. China hieß ursprünglich "das Reich der vier Meere". Das Land zwischen den Meeren war eben "das Reich der Mitte".

In den beiden Testamenten der Bibel spielt die Zahl Vier eine kaum zu überschätzende Rolle. Es seien nur einige wenige Punkte herausgegriffen: Bereits im ersten Buch Mose, der Genesis, heißt es (2,8-14), dass der Paradiesgarten, in dem die Schöpfung noch vollkommen war, von vier Strömen umflossen wurde. Beim Propheten Ezechiel (Kapitel 10) tauchen vor Gott vier Mischwesen auf, Kerubim genannt, die das Christentum für die Symbole der vier Evangelisten verwendet. Im Frühchristentum hat der heilige Irenäus (ca. 130-ca. 200), Bischof von Lyon, argumentiert, es könne nur vier kanonische Evangelien geben, da es beim Propheten Ezechiel auch nur vier Wesen vor Gott gebe.

Man sieht, Irenäus kommt es in seiner Argumentation auf die Vierzahl an, denn nur sie scheint ihm die Universalität des Christentums zu gewährleisten. In späteren Jahrhunderten wird die Westkirche vier große Theologen zu Kirchenlehrern des Abendlandes erwählen und die Ostkirche ebenfalls vier für das Morgenland. Wenn in den Jahrhunderten danach Christus in der Verklärung bildlich dargestellt wird, sitzt er häufig auf dem Sonnenbogen, und seine Füße ruhen auf einem Quadrat, dem Symbol der Erde.

Doch kommen wir wieder auf Afrika zu sprechen, wo es genügend Hinweise gibt, dass die Vier einen gewissen Universalismus zum Ausdruck bringt, natürlich nicht auf den Gesamtkosmos bezogen, sondern auf die vom traditionellen Afrikaner überschaute Welt. Leo Frobenius liefert von seiner Reise 1908/09 durch Westafrika zahlreiche Beispiele für eine "Vier-Kultur". Er nennt sie die "syrtisch-garamantische Kultur", was besagt, dass sie seiner Meinung nach vom Mittelmeer nach Schwarzafrika gekommen sei. Doch diese Frage soll hier nicht weiter erörtert werden.

Frobenius schreibt, dass er auf seiner Reise 1909 in Westafrika von einem Bau im Mossi-Lande (heute in Burkina Faso) gehört habe. Es war eine große Grabanlage für einen Fürsten. Über der Erde erhob sich eine große Rundhütte, darunter befanden sich in der Erde vier Stollen, die nach den Himmelsrichtungen gegraben worden waren, mit dem Grab im Kreuzungspunkt der Stollen. Der Eingang zum Grab befand sich im Westen, der Richtung des Totenreiches.

Frobenius berichtet weiter, dass er von ähnlichen Grabanlagen auch im Lande Nupe, im heutigen Nigeria, gehört habe. In Mopti, der alten Stadt am Niger in Mali, habe er 1908 ebenfalls von "viergeteilten Grabanlagen" gehört ("Monumenta africana", 1929:85ff.). In Schwarzafrika ist die Idee weit verbreitet, dass der Tote dem Schoß der Mutter Erde zurückgegeben wird. Bei Kongo-Völkern in Zentralafrika bezeichnet bisweilen der gleiche Ausdruck Mutterschoß und Grab. Deshalb durften auch zum Ausheben des Grabes von einem großen Chef oder Priester keine Metallwerkzeuge verwendet werden. Die gängige Redensart war: "Man darf nicht die Scham der Mutter mit Eisen aufreißen!"

Leo Frobenius schreibt in seinen Ausführungen über die Zahlensymbolik im ehemaligen französischen Westsudan - heute vor allem Mali und Burkina Faso - unter anderem: "Vernehmlicher noch sprechen die Zahlen in den Baumythen. Auch hier wieder die vier Tore. Dann aber stehen sich gegenüber: der eine Stier und die vier Kühe, die vier Tore und der dreimalige Umgang, die vier Kühe und die drei Besprünge, die vier Opfertiere über der Grube und deren drei über dem Phallusaltar ... Das aber heißt, dass die Grube das Symbol des Weiblichen, der Altar das Symbol des Männlichen ist. Dem Weiblichen werden vier Opfertiere, dem Männlichen drei dargebracht. Vier ist also die Potenz des Weiblichen und drei die des Männlichen ..." ("Monumanta africana", 1929:131-132).

Die wohl wichtigste Dualität für ganz Schwarzafrika scheint mir die Frau-Mann-Dualität zu sein: Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Weltanschauungen und Religionen vom Sahel bis ins südliche Afrika. Wie Erde und Sonne zusammen den Kosmos bilden, so ergeben auch Frau und Mann zusammen das ganze Menschengeschlecht. Es lässt sich häufig nachweisen, dass Großes, Heiliges, Vollkommenes in Afrika bisexuell gedacht wird. Oft kommt dem Schöpfergott ein weiblicher und ein männlicher Aspekt zu; Urahnen werden bisexuell dargestellt; ein Großreich, z. B. das alte Dahome im heutigen Benin, hat einen männlichen und einen weiblichen Bereich (das Außenreich galt als männlich, der Königspalast in Abomey als weiblich). Die beiden Pole können durch diverse Symbole dargestellt werden: z. B. durch die Zahlen Vier und Drei (bzw. Fünf), die Farben Rot und Schwarz, durch Tiere, Himmelsrichtungen, Zeiten etc. - Die Zahl der Fülle und Vollkommenheit ist dann die Sieben (3 + 4), in Zentralafrika teilweise auch die Neun (4 + 5). Die gerade Zahl ist aber immer die weibliche.

So gesehen weisen sehr viele Objekte in Afrika einen kosmologischen Bezug auf, den aber sehr viele Ethnologen als solchen nicht wahrnehmen. Scheinbar ganz profane Objekte, z.B. ein Hocker, können eine kosmologische Dimension zum Ausdruck bringen. Man denke an einen Ashanti-Stuhl aus Ghana. Wer die Symbole lesen kann, weiß, dass wir in einem solchen Stuhl mehr zu sehen haben als nur eine Sitzgelegenheit.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008