VOM STEIN ZUR HEILUNG

Inkaische Steinäxte auf einem ecuadorianischen Heilalter

Von Dagmar Schweitzer de Palacios

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Mesa oder Heilaltar. An den Eckpunkten der vorderen Steinreihe die zwei hachas (inkaische Steinäxte). Foto: M. Palacios

Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Anhäufung diverser Steine, Figürchen, Kreuze und Flakons aus Glas und andere Gegenstände, die weder Wert noch Bedeutung besitzen: die mesa oder der Altar eines ecuadorianischen Heilerpaars. Lediglich die annähernd symmetrische Anordnung lässt vermuten, dass sich mehr hinter den Objekten verbirgt. Ein jedes hat seine eigene Geschichte und seine besondere Funktion auf der mesa , und gerade den Steinen kommt eine besondere Bedeutung zu.

Wir befinden uns in San Miguel del Común, einer kleinen indigenen Gemeinde in den Außenbezirken von Quito, der ecuadorianischen Landeshauptstadt. Trotz der Nähe zur Metropole haben die Bewohner viele ihrer Traditionen bewahrt, wozu auch die Kenntnisse und die Ausübung ethnomedizinischer Praktiken gehören. Zu dem unerlässlichen Instrumentarium traditioneller Heiler gehört die mesa mit ihren Steinen.

Das Auffinden von Steinen im andinen Hochland ist alltäglich und allgegenwärtig. Doch die Steine der mesa stammen aus der Begegnung eines angehenden Heilers mit den übernatürlichen Mächten, insbesondere mit einer Berggottheit. In der andinen Kosmologie kommt diesen eine wichtige Rolle sowohl als heilende als auch als krankheitsverursachende Instanz zu. Denn viele Krankheiten sind auf Regelverstöße und Vernachlässigungen der kosmischen Mächte durch einen Menschen zurückzuführen. Diese Mächte müssen wieder gnädig gestimmt und ausgesöhnt werden, um den Erkrankten zu heilen.

Die Krankheitsursache herauszufinden und zu bekämpfen ist Aufgabe des Heilers. Während seiner langen Ausbildungszeit muss er sich den übernatürlichen Mächten ausliefern, nur auf diese Weise erreicht er ihre Unterstützung bzw. lernt, ihre Kräfte zu steuern. Heilige Quellen, pugyu , die als Öffnung in den Berg und somit als direkter Zugang zu ihm gelten, sind dafür die geeignete Stätte. Hier führt der Anwärter im Beisein eines Lehrmeisters rituelle Bäder durch, zu denen auch die Darbringung von Opfergaben an die Gottheit gehört. Als Zeichen für ihre Zustimmung schickt sie ihm einen Stein, der dem Heiler plötzlich auf dem Weg erscheint und der später einen Platz auf seiner mesa finden wird.

Die Steine sind also gesandt und beseelt, ihnen wohnt die Macht der jeweiligen Berggottheit inne. Diese wird bei den Heilritualen durch Anrufung aktiviert, die Verbindung zu der übernatürlichen Macht hergestellt.

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Die indigene Gemeinde San Miguel del Común, nördliches Andenhochland. Foto: D. Schweitzer de Palacios

Entsprechend einer „heiligen Geographie“ der indigenen Bevölkerung werden die Gipfel der Anden nicht nur personifiziert, sondern auch geschlechtlich nach männlichen und weiblichen Bergen kategorisiert. Diese Einteilung findet sich in den Steinen wieder: Man unterscheidet zwischen piedras machos , den männlichen, und piedras hembras , den weiblichen Steinen. Durch ihr jeweiliges Geschlecht besitzen die Steine unterschiedliche Stärke, es finden sich darüber Hinweise, dass sie mit unterschiedlichen übernatürlichen Mächten assoziiert werden. In ihrer Gesamtheit stellen die Steine mit den anderen Elementen der mesa den Mikrokosmos für den Heiler dar; sie sind Hilfsmittel, nicht nur um die Verbindung mit den Geistern herzustellen, sondern um deren Kräfte auch bei den Ritualen einzusetzen. Nur auf diese Weise können die Krankheiten, die auf kosmische Ursachen zurückzuführen sind, bekämpft werden.

Nach Ansicht der Heiler sind die hachas , die Steine in Form von Klingen inkaischer Kriegsäxte, am mächtigsten: „Diese Steine sind alte Steine, sie sind gegen das Schlechte. Sie sind sehr speziell, diese Steine, nicht irgendwelche. Und wir benutzen diese Steine immer .. . Es sind Äxte. Sie sind am mächtigsten, weil diese Steine ihre Bedeutung haben, ihren lebenden Geist. Sie sind uralt und man findet sie nicht überall.“ (Heiler aus San Miguel, 1991). Natürlich ist man sich darüber im Klaren, dass man mittlerweile derartige Klingen in jedem Souvernirladen in Otavalo, einer durch ihren Touristenmarkt berühmten Kleinstadt Nordecuadors, käuflich erwerben kann. Ihrer Macht scheint das keinen Abbruch zu tun: "Wie viel muss man wohl für so viel Macht bezahlen?" (Heiler aus San Miguel).

Bei den hachas auf dem abgebildeten Altar handelt es sich um besonders schöne Exemplare, was für die Heiler Beweis ihres göttlichen Ursprungs ist. Neben ihrem männlichen Geschlecht sind Alter und ihr kriegerischer Charakter ausschlaggebend für die Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden. So nimmt man an, dass ihnen die Kräfte von bedeutenden Ahnen eigen sind. Diese können und müssen gegebenenfalls bei den Heilungen wirksam werden. Dieser Sachverhalt wird erklärlich, da das Verhältnis zu den Ahnen im Leben der indigenen Bevölkerung überhaupt eine große Rolle spielt, nicht nur für die Heiler. Gedenken und gemeinsame Mahlzeiten zum Fest „ Todos los Santos “ (Allerheiligen) sind Pflicht, denn man will sich ihres Wohlbefindens und damit verbunden ihres Wohlwollens versichern. Pflichtverletzungen den Ahnen gegenüber führen zu Krankheiten, die nur mit entsprechender Heilung – und entsprechenden Steinen - geheilt werden können.

Die hachas aus San Miguel zeigen überdies Spuren des Gebrauchs, was nach Ansicht der Heiler auf ihren Einsatz bei kriegerischen Kampfhandlungen hinweist. Durch das Attribut hachas „incáicas“ (inkaische Äxte) stellt man sie dabei in den Kontext der Eroberungszüge der Inka, die das Gebiet des heutigen Ecuadors unterwarfen. Die Einschätzung der Leistungsfähigkeit dieser hachas im realen Kampf wird von den Heilern auf die Ebene des Kampfes mit den übernatürlichen Mächten übertragen.

Die Projektion von zusammengeballten Kräften auf die hachas findet man durchgängig im gesamten Nordandengebiet. So schätzen auch viele Heiler aus Ilumán, einem Zentrum traditioneller Heiler in der Provinz Imbabura, die hachas und bestücken ihre mesa mit ihnen (Sánchez-Parga y Pineda 1985: 532).

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Säuberung der mesa mit einem Pflanzenbüschel und wohlriechenden Essenzen. Foto: M. Palacios

Zurück zur mesa des Heilerpaars aus San Miguel del Común: Die hachas bilden die Eckpunkte der vorderen Steinreihe. Entsprechend der ihnen zugeschriebenen Bedeutung finden sie Anwendung bei fast allen Heilritualen, die das Paar durchführt. Dazu gehört in der Regel zunächst die „ limpia “ oder Reinigung eines Patienten, der dabei von über wollenden Mächten, im heutigen Diskurs auch als „schlechte Energie“ bezeichnet, befreit werden soll. Nach Anrufung, Divination und einer ersten Behandlung, bei dem die schmerzenden Körperteile des Patienten mit dem Mund abgesaugt werden, führt man die hachas paarweise an seinen Körperteilen entlang. Die Steine sollen das Übel aufnehmen. Nach jedem Bewegungszug klopft man sie zusammen, denn das dabei entstehende Geräusch treibt endgültig das Schlechte aus dem Körper des Patienten.

Neben dem reinigenden Effekt dient die Abreibung mit den Steinen in zweiter Instanz dazu, die ihnen innewohnenden Kräfte auf den Patienten zu übertragen. Sie sollen ihm helfen, krank machende Einflüsse zu bewältigen. Auch die weiteren Steine der mesa finden paarweise diese Anwendung, doch werden ihre Kräfte weit geringer eingeschätzt. Welche der Steinpaare oder auch einzelnen Steine bei einem Heilritual benutzt werden, hängt von der Krankheit des Patienten ab und wird einem Heiler während der Divination durch die übernatürlichen Mächte vermittelt.

Nach den andinen Krankheitskonzepten sind allerdings nicht nur übernatürliche Mächte Ursache von Krankheiten, sondern auch Schadenszauber und Neid. Vielfach werden Unglücksfälle oder einfach das fehlende Glück auf menschliche Einflüsse zurückgeführt. Auch in diesen Fällen kommen die hachas zum Einsatz, da sie durch ihre besonderen Kräfte geeignet sind, den Schadenszauber abzuwehren oder zurückzusenden. Insbesondere die Heiler selbst sind von den Attacken feindlicher Heiler betroffen, sodass sie sich zur Vorbeugung gegenseitig mit den hachas reinigen.

Eine Person kann auch in Abwesenheit gereinigt werden, wenn man einen persönlichen Pfand oder bestenfalls ein Foto des/der Betreffenden auf die hachas legt und das entsprechende Ritual durchführt. Beliebt sind auf diese Weise ebenfalls durchgeführte encantos (Liebeszauber), bei welchen der/die Angebetete durch magische Praktiken an seinen/ihren Partner gebunden werden soll.

Der Anwendungsbereich der hachas wird dadurch erweitert, dass auch Nutztiere, Gegenstände, Häuser, Autos usw. von übernatürlichen Krankheiten und Schadenszauber nicht verschont bleiben und gegebenenfalls eine Heilbehandlung benötigen. Diese finden meist außer Hauses statt. Die hachas sind dabei die einzigen Objekte der mesa , die zum Außeneinsatz mitgeführt werden.

Nach zahlreichen Heilritualen ist die Macht der Steine erschöpft, und die Heiler müssen ihre „Energien“ aufladen. Die Pflege der Steine umfasst ihre Einreibung mit Pflanzenbüscheln und wohlriechenden Essenzen. Bei Vernachlässigung würden nicht nur die Kräfte der Steine verschwinden, sie würden sich sogar gegen den Heiler richten.

Neben ästhetischen Aspekten können auch die jeweiligen kulturellen Kontexte einen Gebrauchsgegenstand zu einem besonderen Objekt erheben. Im Falle der hachas wird aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit der Bezug zu den Gottheiten hergestellt, die entsprechend der kosmologischen Vorstellungen die unmittelbare physische Umwelt beseelen. Ihre Form zeichnet die hachas als Waffen aus, aber ihre Bedeutung wird über ihr ursprüngliches kriegerische Potenzial hinaus erweitert.

Als kulturspezifisches Symbol werden sie in den Zusammenhang ethnomedizinischer und schamanistischer Praktiken gestellt, dabei werden ihre diesseitigen Eigenschaften in ein más allá , in einen übernatürlichen Raum, übertragen. Zu der kulturellen Bedeutung tritt die individuelle Beziehung, die der Eigentümer der hachas mit ihnen eingeht. Durch die Umstände ihres Fundes oder sonstigen Beschaffens erlangen diese Steine ihre spezifische Funktion auf der mesa , die den persönlichen Mikrokosmos eines Heilers darstellt.

Weiterführende Literatur

Estrella, Eduardo (1977): Medicina aborígen. Quito
Sánchez-Parga, José und Rafael Pineda (1985): „Los yachac de Ilumán.“ – In : Cultura, Revista del Banco Central del Ecuador, VII, 21b: 511-581. Quito: Banco Central
Schweitzer de Palacios, Dagmar (1994): Cambiashun. Las prácticas médicas tradicionales y sus expertos en San Miguel del Común, una comuna indígena en los alrdedores de Quito. Mundus Reihe Ethnologie. Bd. 81. Bonn: Holos

Zur Autorin

Promotion 1994 an der FU Berlin. Feldforschungen 1990-92 und 2000-2001 in Ecuador zum Thema traditionelle Medizin und Austauschbeziehungen im Schamanismus. Derzeit: wissenschaftliche Mitarbeiterin der Völkerkundlichen Sammlung und Religionskundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg und Lehrbeauftragte.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008