DAS GEORGISCHE BANKETT

Eine kulturelle Reserve gegen die Globalisierung

Von Florian Mühlfried

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Ein georgisches Bankett. Foto: F. Mühlfried

Im sowjetischen Georgien hat sich die kulturelle Selbstdefinition in Abgrenzung zu Russland entwickelt. Heute bezieht sich diese Abgrenzung auf den "Westen". Noch immer jedoch dient ein stark formalisiertes Bankett, das supra , als wesentliches kulturelles Unterscheidungsmerkmal: früher gegen die russische "Volkskultur", heute als Reserve gegen die Globalisierung.

Seine Struktur erhält das supra durch Trinksprüche, die von einem Tischmeister ( tamada ) ausgebracht und von den Gästen aufgegriffen und elaboriert werden. Die Trinksprüche folgen einem allgemeinen, jedoch nicht bis ins Letzte festgelegten Schema. Einige Trinksprüche (wie auf Verstorbene oder die Familie) sind zumindest bei formellen Anlässen obligatorisch, und die Reihenfolge der Trinksprüche weist eine gewisse Regelmäßigkeit auf.

Manche Trinksprüche bekräftigen nationale Werte (besonders der Trinkspruch auf das Vaterland, aber auch subtiler formuliert in Trinksprüchen auf Kultur, Liedgut und Geschichte), andere betonen und formulieren geschlechtliche Identität (besonders der obligatorische Trinkspruch auf Frauen), familiäre Werte und Peergroup-Identitäten. Grundsätzlich dienen die Trinksprüche zur Ehrbekundung für die adressierten Personen oder Themen und sollten keine umgangssprachlichen Ausdrücke enthalten – von Flüchen, Klatsch oder Kritik ganz zu schweigen. Die Sprache der Trinksprüche ist durch einen hohen Formalisierungsgrad sowie den Gebrauch bestimmter Formeln gekennzeichnet.

Grundsätzlich gilt: Es wird kein Alkohol getrunken, ohne zuvor einen Trinkspruch auszubringen. Besonders am Wein zu nippen ist eine Todsünde. Der rituelle Konsum von Wein und seine enge Beziehung zum Essen weisen offensichtliche Parallelen zum christlichen Abendmahl auf. Im Kontext des supra ist Wein jedoch nicht ausschließlich mit dem Blut Christi assoziiert. Da viele Georgier ihr Land als das Ursprungsland des Weines betrachten und der Weinkult in Georgien eine lange Geschichte aufweist, wird Wein zu einer Metapher für georgisches Blut. Durch den gemeinsamen Weinkonsum werden die miteinander Tafelnden zu virtuellen Verwandten.

Noch immer fällt es den meisten georgischen Männern schwer, Wein ohne Gesellschaft und Trinkspruch zu trinken. Auf der Ebene des individuellen Habitus der (meist männlichen) Teilnehmer stellen also die Verfahren des supra Inszenierungen von nationaler Zugehörigkeit in einer globalisierten Welt dar. Dies trifft besonders auf die vielen GeorgierInnen zu, die in den letzten Jahren angesichts wirtschaftlicher und politischer Instabilität ihr Heimatland verlassen haben. In den Kreisen der Diaspora trifft man sich bevorzugt zu Tisch, und das Verfahren des supra dient häufig zur Demonstration und Erklärung kultureller Eigenheit. Besondere Gerichte, wie die Würzsoße t'qemali , repräsentieren den "Geschmack" Georgiens und können so schmerzlich vermisst werden wie die Heimat.

Der akademischen Lehrmeinung sowie dem populären Diskurs in Georgien zufolge ist das supra eine uralte, aus vorgeschichtlichen Zeiten stammende und damit nicht datierbare Tradition (z. B. Gociridze 2001). Die historischen Quellen sprechen jedoch dafür, dass es sich bei dem supra in seiner heutigen Form um ein Produkt des 19. Jahrhundert handelt, eng verbunden mit dem Aufstieg der georgischen Nationalbewegung. Die Berichte von Georgienreisenden aus westeuropäischen Ländern vom 15.-18. Jh. (wie die von Contarini 1873 1481 , Busbeck 1926 1588 , Chardin 1668 und Lamberti 1664) illustrieren die lange und lebhafte Geschichte kultischen Essens und Trinkens in Georgien, aber weder die georgischen Bezeichnungen für Trinkspruch und Tischmeister noch Beschreibungen dieser kulturellen Praktiken lassen sich hier finden. Außerdem wird in diesen Reiseberichten vielfach Wein getrunken, ohne dass es einer rituellen Rahmung – wie der von Trinksprüchen – bedarf.

Diese Beobachtungen werden durch die georgische Literatur und Geschichtsschreibung unterstützt. Seit dem "Goldenen Zeitalter" Georgiens im 11.-13. Jh. stellt die Beschreibung von Festen ein beliebtes Topos in georgischen Quellen dar. Aber auch hier gibt es keine Hinweise auf Trinksprüche oder die Institution des Tischmeisters. Noch im 19. Jh. bemerkte der georgische Poet Ak'ak'i C'ereteli (1989: 25) in einem Gedicht, dass "unsere Vorfahren" keine Trinksprüche bei Tisch ausbrachten und sich für die heutige Praxis schämen würden. Auch in dem berühmten und umfangreichen georgischen Wörterbuch von Sulxan Saba Orbeliani (1991) aus dem 18. Jh. fehlen die georgischen Bezeichnungen für Trinkspruch und Tischmeister – eine Auslassung, die schwer zu erklären wäre, wenn zu dieser Zeit das georgische Bankett nach denselben Regeln wie heute strukturiert gewesen wäre. Damit erfüllt das georgische Bankett jedes Kriterium einer "erfundenen Tradition" im Sinne von Hobsbawm und Ranger (1983) und dient der Bekräftigung nationaler Identität.

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Ein georgisches Bankett und Tischmeister in der Mitte. Foto: F. Mühlfried

Das georgische Wort für Trinkspruch findet sich erstmals in einem Gedichtzyklus des Aristokraten Grigol Orbeliani (1800-1833), der zu den "Vätern" der georgischen Nationalbewegung gerechnet wird. Die einzelnen Gedichte sind in Form von Trinksprüchen geschrieben und erinnern an Nationalhelden und ihre Taten. Dieses Genre wurde auf Banketten schnell populär. Die Erinnerung an die Vergangenheit in Form eines Trinkspruches wurde zu einer wesentlichen Form nationaler Bildung und Erziehung nach der russischen Annektion Georgiens im Jahr 1801 und der darauf folgenden Unterdrückung nationaler Souveränität. In diesem Zusammenhang wird aus der Beschwörung vergangener Größe bei Tisch eine patriotische Mission.

Im Verlaufe des 19. Jh. breitet sich die Kultur des supra schnell und umfassend im ländlichen und städtischen, bäuerlichen und aristokratischen Georgien aus. Diese "Erfolgsgeschichte" einer erfundenen Tradition lässt sich nur unter Beachtung von transnationalen Beziehungen verstehen – hier: den Beziehungen zu Russland. Im Unterschied zu früheren muslimischen Okkupatoren des Landes waren die Russen wie die Georgier Anhänger der christlichen Orthodoxie. Daraus folgend war die Religion für die Georgier nun kein Unterscheidungsmerkmal mehr zwischen "uns" und "ihnen". Die Abgrenzung der georgischen Nation musste also auf etwas anderem basieren – der Folklore. Ungeachtet seiner aristokratischen Wurzeln konnte das supra als eine kulturspezifische Art des Feierns - und darüber hinaus als Manifestation "georgischer" Gastfreundschaft - zu einem mächtigen Symbol kultureller Andersartigkeit werden.

In der Zeit der Zugehörigkeit Georgiens zur Sowjetunion galt das supra als wesentliches Merkmal nationaler Identität, und das erregte das Misstrauen der staatlichen Autoritäten. In einem 1975 von der Kommunistischen Partei Georgiens verabschiedeten Gesetz wurden ausufernde Bankette anlässlich von Ereignissen wie Geburt, Hochzeit oder Tod als "öffentliche Inszenierung einer traditionellen Mentalität " geschmäht, die dem Entstehen des Homo Sovieticus entgegenwirke. Aus dem supra wurde ein "schädlicher Brauch" (s. Gerber 1997: 261). Aber es gelang nicht, ihn gänzlich zu unterdrücken, denn das supra bot zu dieser Zeit eine hervorragende Möglichkeit, Netzwerke zu knüpfen, Allianzen zu bestärken und Informationen zu handeln – wesentliche Faktoren zur Bewältigung des sowjetischen Lebens.

Für jenen Teil der georgischen Intellektuellen, der sich der Verteidigung der nationalen Kultur verschrieben hatte, in den sowjetischen akademischen und administrativen Strukturen jedoch gut etabliert war, diente das supra nach wie vor als wesentliches Mittel der Bildung. Historiker wie Shota Meskhia präsentierten auf einem supra ein gänzlich anderes Bild der georgischen Geschichte, als es offiziell in der Universität gelehrt wurde. Für den "orthodoxen Nationalismus" galt das supra als eine "wahre Akademie", wie auch ein populäres Sprichwort aus dieser Zeit besagt. Für die Vertreter des "unorthodoxen Nationalismus" bot das supra die Gelegenheit, ihre illegalen Zusammenkünfte als Bankette zu verschleiern.

Weiterführende Literatur

Busbeck, Ogier Ghiselin von (1926 1589 ): Vier Briefe aus der Türkei von Ogier Ghiselin von Busbeck. Erlangen: Philosophische Akademie.
Chardin, Jean (1686): Journal du Voyage du Chevalier Chardin en Perse & aux Indes Orientales, par La Mer Noire & par La Colchide – Première Partie. London: Pitt.
Chatwin, Mary Ellen (1997): Foodways and Sociocultural Transformation in the Republic of Georgia, 1989-1994. Tbilisi: Metsniereba Press.
Contarini, Ambrosio (1873 1481 ): The Travels of the Magnificent M. Ambrosio Contarini. In: Alderley, Lord Stanley of (Hg.): Travels to Tana and Persia, by Josafa Barbaro and Ambrosio Contarini. New York: Franklin, 108-173.
C'ereteli, Ak'ak'i (1989 1884 ): tornik'e eristavi tornike eristavi . In: rcheuli nac’armoebebi xutt’omad, t’omi 2: p’oemebi, dramat’uli nac’erebi leksad. Ausgesuchte Werke in Zehn Bänden, Band 2: Gedichte, Dramatische Schriften in Versen . Tbilisi: Nakaduli, 24-82.
Gerber, Jürgen (1997): Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956. Baden-Baden: Nomos.
Gociridze, Giorgi (2001): vin ebrdzvis kartul supras? Wer bekämpft das georgische “supra”? . In: lit’erat’uruli sakartvelo Literarisches Georgien , 23-29 (III) 7. Tbilisi.
Lamberti, Archangelo (1654): Relatione della Colchida, poggi della Mengrelia nella quale si trate dell’origine, costumi e cosi naturali di quei paesi. Naples. kein Verleger angegeben
Nodia, Gia (Hg.) (2000): kartuli supra da samokalako sazogadoba Das georgische “supra” und die Zivilgesellschaft . Tbilisi: Caucasian Institute for Peace, Democracy, and Development.
Orbeliani, Sulxan-Saba (1991 1716 ): kartuli leksik'oni Georgisches Lexikon . I-II. Ilia Abuladze (Hg.). Tbilisi: Merani.

Zum Autor

Dr. des. Florian Mühlfried, Dozent für Ethnologie an der Staatlichen Universität Tbilisi (Georgien), AFP Fellow des Open Society Institute.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008