WAS HAT DIE US-FLAGGE IM HOCHLAND VON ECUADOR ZU SUCHEN?

Religionsethnologische Forschung im Zuge der Globalisierung

Von Bettina E. Schmidt

Was hat die US-Flagge im Hochland von Ecuador zu suchen 1
Prozession zu Ehren des Señor de los Milagros in Cumbe. Foto: B. E. Schmidt

Globalisierungstheorien basieren oftmals auf der Annahme einer vermeintlichen Homogenisierung von Kultur, aber genau das Gegenteil trifft derzeit ein. Globalisierung führt nicht zu einer einheitlichen „Weltkultur“. Vielmehr werden unterschiedliche Wege gegangen, unterschiedliche Lösungen ausprobiert, je nach Situation und Ort. Globalisierung wird erst im lokalen Kontext vor Ort verständlich und ist nicht von jeweiligen soziokulturellen Eigenentwicklungen zu trennen. Durch Prozesse der Globalisierung werden Grenzen nicht aufgehoben, sondern lediglich verändert, alte werden abgebaut und neue errichtet. Mein Beispiel führt ausgehend von Südecuador nach New York und wieder zurück. Im Mittelpunkt stehen dabei religiöse Feste.

Patronatsfeste (Feste zu Ehren des heiligen Patrons des Dorfes) blieben von der Ethnologie lange Zeit als Folklore unbeachtet. Die Feste wurden als katholisch, nicht indianisch, nicht exotisch genug abgelehnt. Sie sind aber Teil der lateinamerikanischen Religiosität. Die Feste sind so stark mit der Kultur verbunden, dass evangelikale Missionare, die ihren Gemeindemitgliedern lange die Teilnahme an den Gemeinschaftsfesten verboten haben, nun eigene Feste organisieren. Feste bilden das Herz der lateinamerikanischen religiosidad popular (Volksreligiosität), wobei weniger die politischen Interessen des Volkes vertreten werden, als vielmehr die konservative, traditionalistische Religiosität der Dorfbewohner zelebriert wird. Zwar versuchen einige fortschrittliche Vertreter der katholischen Amtskirche ihr Konzept von aufklärerischer Religiosität in die Feste hineinzutragen, allerdings mit wenig Erfolg. Der Großteil der Gläubigen verweigert sich diesen Neuerungen und beharrt auf der inbrünstigen Verehrung der Heiligen. Der Gegensatz zwischen Amtskirche und frommen Laien wird allerdings nicht offen ausgetragen. Es entsteht kein offener Konflikt, da der Gegensatz nicht verbalisiert wird, sondern sich nur aus der Beobachtung der nicht-verbalen Teile der Feste erhellt, d. h. aus der teilnehmenden Beobachtung.

Die Patronatsfeste werden von frommen Laien organisiert und von den Gemeinden eigenständig durchgeführt. Sie haben nur am Rande etwas mit der Institution Kirche zu tun. Messe und Prozession gehören natürlich zu den Hauptereignissen, dennoch ist die Beteiligung des Priesters am Fest als solchem marginal, nach der Messe verschwindet er oftmals. Im Zentrum der Verehrung steht der Schutzpatron des Dorfes, mitunter Jesus, Maria, ein Heiliger bzw. eine Heilige oder das Kreuz. Bei jedem Fest haben die Gläubigen eine persönliche Bindung zu der Figur, die im Mittelpunkt der Volksreligiosität steht. Sie wird mit bestimmten menschlichen Eigenschaften in Verbindung gebracht und entsprechend geschmückt. Die Feste sind aber nicht nur Ausdruck der religiösen Empfindung der Dorfbewohner, sie dienen auch der Selbstinszenierung der kollektiven Identität.

Was hat die US-Flagge im Hochland von Ecuador zu suchen 2
Traditioneller Festumzug in Quenca, Ecuador. Foto: B. E. Schmidt

Und hier setzen die ersten Auswirkungen der Globalisierung ein. Migration ist Teil des Lebenszyklus der meisten Ecuadorianer. Es ist seit Jahrzehnten üblich, für einige Zeit das Dorf zu verlassen und auf Bananenplantagen an der Küste oder bei der Erdölförderung im Tiefland zu arbeiten. In diesen Regionen gibt es in jedem größeren Ort Vereine von Migranten aus den Hochlanddörfern. Die Bindung an den Heimatort überdauert Jahre und mitunter sogar Generationen, wenn aus der temporären Migration eine dauerhafte wird (seit ca. 30 Jahren). Eine wichtige Brücke ist dabei die Teilnahme an den Patronatsfesten. Für Binnenmigranten ist es wichtig, an den Festen teilzunehmen und ihre Anwesenheit im Dorf zu feiern. Und dem Dorf ist die Teilnahme der Migranten so wichtig, dass es sogar mitunter das Fest verschiebt auf ein Datum, an dem es den Wanderarbeitern und Migranten besser passt (z. B. nach der Bananenernte). Die Dorfbewohner versprechen sich dabei auch einen finanziellen Vorteil, da die Migranten – zum Beweis ihres Erfolges – in der Regel reichhaltige Spenden im Dorf hinterlassen. Oftmals ist die Ausrichtung des Festes nur mit den Geldern der Migranten finanzierbar.

Fast gleichzeitig mit der internen Migration (d. h. dem Beginn der dauerhaften Ansiedlung in anderen Regionen des Landes) begann auch die Auswanderung aus Ecuador. Besonders beliebtes Ziel sind die USA, aber auch Venezuela und Kanada. 1990 lebten bereits über 400.000 Ecuadorianer in New York. Und trotz katastrophaler Arbeits- und Lebensbedingungen schicken die (oft illegalen) Auswanderer mehr Geld nach Hause, als der Staat für soziale Programme ausgibt. Die Folge ist, dass vormals arme Familien in den ländlichen Gemeinden heute manchmal über mehr Geld verfügen als die Händler und Geschäftsbesitzer. Die indígenas de campo (Landindianer), wie die ehemals armen bäuerlichen Dorfbewohner diskriminierend bezeichnet werden, können sich mit dem Geld aus den USA neue Häuser bauen (aus Zement statt Lehmziegeln), Autos kaufen und sich teilweise sogar kleine Geschäfte aufbauen. Aber das sind natürlich nur die Erfolgsgeschichten. Die Mehrheit der Familien von Auswanderern muss Monate ausharren, bis sie eine Nachricht von der Ankunft erhält (jedes Jahr sterben Migranten auf dem Weg, im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko oder neuerdings im Grenzgebiet zwischen Guatemala und Mexiko – die Todeszone verschiebt sich in den Süden). Und auch eine sichere Ankunft bedeutet noch lange nicht, dass die Migranten nun das erhoffte Geld nach Hause schicken können, das dringend für die Rückzahlung der Schulden benötigt wird (der Menschenschmuggel kostet die Familien etwa 10.000 US Dollar pro Kopf).

Was hat die US-Flagge im Hochland von Ecuador zu suchen 3
Marktstände mit Essen für die Festbesucher. Foto: B. E. Schmidt

Wenn der gefährliche Weg gesund überstanden wurde und wenn der Migrant/die Migrantin Arbeit gefunden hat und einige Dollar nach Hause schicken kann, dann wird mit dem Geld – noch bevor die Schulden abbezahlt werden – ein Fest gesponsert. Auch wird als Dank für die Rettung vor den Gefahren schon einmal eine 10 oder 20 Dollarnote in den Klingelbeutel gesteckt. Sowohl die Spenden an die Kirche als auch die Spenden für die Festorganisation sind für das Ansehen der Familie, die weiterhin im Dorf lebt, wichtig. Die erfolgreiche Organisation der Feste ist mit Prestigegewinn für die gesamte Familie verbunden. Und als Zeichen für die Auswanderer wird der Feuerwerksturm – das Hauptereignis am Vorabend des Festes – mit der Flagge der USA geschmückt.

Man kann sagen, Feste heben die Migration temporär auf, als einen spontanen Vorgang in den Köpfen der Menschen. Die Feste gaben ihnen stets Orientierung in der Bewältigung des Alltags. Sie waren ein sicheres soziokulturelles Konstrukt, an das man sich halten konnte. Die neue globalisierte Lebensweise ist noch unsicher, unklar, widersprüchlich. Die Feste dienen dazu, in diese Unordnung Ordnung zu bringen, indem sie ein altes Konstrukt erneuern und (scheinbar) bekräftigen.

Sogar in der Fremde, in New York, werden seit einiger Zeit religiöse Feste veranstaltet. Patronatsfeste werden zum Bindeglied zwischen verschiedenen Einwanderungsgruppen aus Lateinamerika. Eine unbeabsichtigte Konsequenz ist die zunehmende Globalisierung der Heiligen. Insbesondere die Virgen de Guadalupe (Nationalheilige aus Mexiko) entwickelt sich weit über die mexikanische Gemeinschaft hinaus und gewinnt unter lateinamerikanischen Migranten anderer Nationalität an Ansehen, wobei sich ihre Bedeutung von einem nationalen Symbol hin zu einer pan-hispanoamerikanischen Identifikationsfigur verschiebt. Globalisierung ganz auf lateinamerikanische Weise!

Gleichzeitig schwindet die Bedeutung der heimatlichen Dorffeste. Zu Hause dienen sie dem Prestigegewinn, vor allem das Ansehen der Familie wird dadurch gesteigert, aber auch das der eigenen Person. Aber Prestige gewinnt nur, wer Erfolg hat, wer Geld nach Hause schicken kann und damit das Fest finanziert. Die gescheiterten Existenzen werden ausgeschlossen. Natürlich war Nicht-Erfolg schon immer Teil der Migration. Allerdings wird kaum darüber gesprochen. Die Gefahren der Migration – die Gefahr des Versagens – werden lediglich indirekt angedeutet, indem dem Paradies ein Ehrenplatz zuteil wird. Die US-Flagge auf dem Feuerwerksturm deutet an, dass ein Erreichen des Paradieses auf Erden so schwierig ist wie der Eingang ins himmlische Paradies.

Lateinamerikas Antwort auf Globalisierung war von Anfang an, d. h. seit der Kolonisierung, die Indigenisierung fremder Einflüsse. Europäische Elemente wurden nicht einfach adaptiert, sondern in einer lokalen Weise umgedeutet und ins Repertoire aufgenommen. Sie wurden Teil der eigenen Kultur, allerdings oftmals mit veränderter Bedeutung. Und genau diesen Prozess können wir auch bei den Patronatsfesten sehen. Die US-Flagge auf dem Feuerwerksturm symbolisiert die erhoffte Erlösung, das Paradies, die Rettung aus dem Elend, aber sie steht nicht für die USA als Staat, denn damit haben die meisten Festteilnehmer keine Beziehung. Bei den Festen handelt es sich somit um eine Indigenisierung kirchlicher Elemente – aber ausgelagert aus der Institution und verlagert in den öffentlichen Bereich des Dorfes.

Was hat die US-Flagge im Hochland von Ecuador zu suchen 4
Zubereitung des Festmahls in San Juan (Meerschweinchenspieß). Foto: B. E. Schmidt

Die in den USA umgedeutete Virgen de Guadalupe (von einer mexikanischen Heiligen zur lateinamerikanischen Ikone der Diaspora) dagegen steht für die Indigenisierung der Institution, allerdings auch hier in lateinamerikanischer Weise. Bevor die ersten lateinamerikanischen Einwanderer nach New York kamen, wurden dort keine religiösen Feste mit Prozession veranstaltet. Die Straße war Ort säkularer Märsche, nicht sakraler. Das verändert sich nun Stück für Stück, oder vielmehr Gemeinde für Gemeinde.

Auch vermeintlich traditionell lebende und geographisch abgelegene Dörfer im Hochland Ecuadors – ohne Zugang zu Satellitenfernsehen oder Internet – setzen sich mit den Folgen der Migration auseinander. Für sie sind die USA allseits präsent, wenn auch in einer neu imaginierten Form. Eine Konsequenz ist, dass für sie zweisprachige Erziehung Unterricht in Spanisch und Englisch bedeutet und keineswegs in Spanisch und Quichua, der in Ecuador am weitesten verbreitete indigenen Sprache, deren Verbreitung in den Dorfschulen von GTZ und anderen Organisationen betrieben wird, oftmals gegen den Wunsch der Bewohner. Sie wissen, dass sie der Globalisierung nicht ausweichen können und bereiten sich auf die Folgen vor.

Weiterführende Literatur

Fabre, Geneviève und Ramón A. Gutiérez (Hrsg.) (1995): Feasts and Celebrations in North American Ethnic Communities. Albuquerque: University of New Mexico Press
Lehmann, David (2002): Religion and Globalization. In: Religions in the Modern World, hrsg. von Linda Woodhead. London: Routledge. S. 299-315
Schmidt, Bettina E. und Sol Montoya Bonilla (2000): Teufel und Heilige auf der Bühne: Religiosität und Freude bei Inszenierungen mestizischer Feste in Südamerika. Marburg: Curupira
Schmidt, Bettina E. (1998): Der Wandel der Festkultur – der Tag des Señor de los Milagros in San Juan, in der südlichen Sierra Ecuadors. In: Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie, hrsg. von Bettina E. Schmidt und Mark Münzel. Marburg: Curupira. S. 295-314
Stiles, Thomas; Almost Heaven (1996): The Fiesta cargo System among the Saraguro Quichua in Ecuador and Implications for Contextualizing in the Evangelical Church (Ph.D. thesis, Trinity International University, Deerfield, Ill.)

Zur Autorin

PD Dr. Bettina E. Schmidt, University of Oxford, Feldforschung in Mexiko, Puerto Rico, Ecuador und New York.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008