MEDELLÍN, KOLUMBIEN

Hauptstadt des 21. Jahrhunderts

Von Angela Stienen

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Medellín. Die 1996 neu gebaute Metrolinie. Foto: A. Stienen

Kolumbianische Städte gelten gemeinhin als „Albtraumszenarien“, wo die „Zivilisation“ nur „schwach entwickelt ist“. Besonders die Industriemetropole Medellín, das im Nordwesten Kolumbiens inmitten von Bergen gelegene, zweitwichtigste städtische Zentrum des Landes, löst, seit es in den 80er-Jahren zu einem Knotenpunkt der globalen Drogenökonomie wurde, solche Assoziationen aus. In der Tat, allein während der 90er-Dekade starben in Medellín 48.572 Menschen eines gewaltsamen Todes, das kommt im Schnitt 13 Morden pro Tag gleich (DECYPOL 2001).

Solche Zahlen und Bilder passen nicht zum Mythos vom „Modernisierungswunder“ von Medellín, der seit Beginn der Industrialisierung zu Anfang des 20. Jahrhunderts in der Stadt in verschiedenen Varianten allgegenwärtig ist. Eine neue Variante des Mythos erzählte mir 1998 ein Vertreter der Wirtschaftselite der Stadt. Er sprach den Erfolg des Drogenkartells von Medellín an und meinte, dass es nur dem Medellín-Kartell gelingen konnte, „bis in die Eingeweide von New York einzudringen und in eine so komplexe Welt wie die japanische Mafia“. Auch die Angehörigen des Drogenkartells hätten das lokale Forschrittsethos verinnerlicht. Wenn es gelingen würde, das aggressive und kreative Potenzial wieder in korrekter Weise zu kanalisieren, würden Stadt und Region im neuen Globalisierungskontext zur „besten Ecke Amerikas“ werden.

In den 90er-Jahren wurde der Modernisierungsmythos zum Kernpunkt der Debatten und Aushandlungsprozesse der „Stadt der Zukunft“. Sie wurden in Medellín als Antwort auf globale Zwänge und die Zuspitzung des Terrors, den die direkte Konfrontation zwischen Drogenkartell und Staat in den frühen 90er-Jahren brachte, im Rahmen zahlreicher Foren, Zukunftsseminare und runder Tische in Gang gesetzt. Dort trafen sich zwischen 1991 und 1999 regelmäßig VertreterInnen von BürgerInnenorganisationen, Stadtverwaltung und Privatwirtschaft zur Diskussion möglicher Lösungsstrategien für die soziale Konfliktproblematik der Stadt.

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Werbeplakat für Medellín. Foto: A. Stienen

Wer in den späten 90er-Jahren vom Flughafen des insgesamt 3 Millionen Menschen umfassenden Ballungsgebietes Medellín und Aburrá-Tal in die Stadt im Talkessel fuhr, konnte das große Werbeplakat am Straßenrand kaum übersehen:
“Willkommen in der Metropole des 21. Jahrhunderts MEDELLÍN“. Ballungsgebiet Aburrá-Tal. Die Stadt, von der wir heute träumen, werden wir uns morgen gebaut haben. Stadtregierung von Medellín. Im Team mit Ihnen.“
Eine Kapitale des 21. Jahrhunderts ist Medellín aus der Sicht ausländischer Wirtschaftsberater, der Stadtverwaltung und Wirtschaftselite, weil die Stadt, anders als andere kolumbianische Metropolen, außerordentliche Standortvorteile vorweise: eine lange Tradition in guter Regierungsführung und ausgeglichener öffentlicher und privater Investitionstätigkeit; eine im In- und Ausland bewunderte Unternehmerklasse, die imstande sei, die richtigen Entscheidungen im richtigen Moment zu fällen; gut funktionierende Stadtwerke, deren Effizienz einmalig für eine lateinamerikanische Metropole sei, weil sie weit über 90 % der städtischen Haushalte mit sauberem Trinkwasser, Strom, Abwasserkanalisation und Telefon versorge und die regelmäßige Abfallentsorgung und Straßenreinigung garantiere. Auch die lokale Bevölkerung zählt die Elite aus Wirtschaft und Politik zu den globalen Standortvorteilen der Stadt. Ihre „Mentalität“, die selbst- und fremdzugeschriebene Arbeitsethik, Vorwärtsgerichtetheit und Dynamik, sei eine Garantie dafür, das „Modernisierungswunder“ von Medellín auch im neuen Globalisierungskontext weiterzuentwickeln. Darauf wird auf unzähligen Werbeplakaten hingewiesen, mit denen in den späten 90er-Jahren image building für die Stadt betrieben wurde.


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Werbung einer Sparkasse „Wir sind fortschrittsorientiert und glauben an unsere Leute. Wir sind stolz auf uns und lieben Medellín. Wir haben das unternehmerische Flair und die Hartnäckigkeit der Paisas (lokale Bevölkerung)." Foto: A. Stienen

Neben dem image building und der globalen Propagierung lokaler Standortvorteile machen auch neue städtebauliche Formen und die Art und Weise, wie diese angeeignet werden, Medellín zu einer Kapitale des 21. Jahrhunderts. Etwa die befestigten Wohnenklaven und Einkaufszentren und die 1995 in Betrieb genommene Metro von Medellín, die als neues städtebauliches Symbol für das „Modernisierungswunder“ der Stadt gilt. Gebaut auf den ‚Trümmern des (industriellen) Fortschritts’, haben sie nach und nach die einst zentralen Symbolräume der Industriemoderne der Stadt zu postmodernen Orten der Einigelung und selektiven Konsumtion umfunktioniert.


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Einkaufszentrum Unicentro. Foto: A. Stienen

Die neuen städtebaulichen Formen sind Ausdruck der 'Verinselung’ der Stadt. Diese nahm im Kontext der mit der De-Industrialisierung der Stadt einhergehenden Expansion der Drogenökonomie und der ausartenden Gewalt zu. Medellín wurde immer mehr zu einem Schlachtfeld im neoliberalen Kampf um die Kontrolle von Territorien und Märkten. Damit spitzte sich ein weiteres Phänomen zu, das Medellín zu einer Kapitale des 21. Jahrhunderts macht: die Krise der Öffentlichkeit. Die Fragmentierung des Stadtraumes in befestigte, nur noch den Eliten zugängliche Enklaven, umkämpfte Gang-Territorien in den subalternen Stadtteilen, in unwirtliche Industriebrachen und überwachte Einkaufsstraßen brachte die öffentlichen Räume in der Stadt zunehmend zum Verschwinden.

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Befestigte Wohnenklaven. Foto: A. Stienen

Der Krise der Öffentlichkeit sollten die Aushandlungsprozesse der „Stadt der Zukunft“ in Medellín begegnen. In den zahlreichen Debattierforen und, damit zusammenhängend, im Rahmen der städtebaulichen Neuschaffung und Umgestaltung öffentlicher Räume in der Stadt wurde das Städtische neu definiert. Durch ‚Öffentlichkeit’ als ein Hauptmerkmal der 'modernen Stadt' sollten sich wieder „zivilisierte Verhaltensweisen“ in der Stadt durchsetzen und die Versöhnung mit dem ‚Anderen' möglich werden.


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Metro von Medellín. Foto: A. Stienen

Das ‚Andere' war in Medellín all das, was das in der Stadt vorherrschende Selbstverständnis immer wieder bedrohte, nämlich ein Ort der Ordnung und Sauberkeit, guten Regierungsführung und Organisation, Disziplin und Arbeitsethik, Vernunft und des stetigen Fortschritts zu sein. In den 1930er-, 40er- und 50er-Jahren waren damit all jene Orte in der Stadt gemeint, die sich den Disziplinierungsversuchen immer wieder entzogen oder sich in Opposition zu diesen neu herausbildeten: die sich rasch verbreitenden Kantinen, Tanz- und Spiellokale, Alkoholismus und Prostitution, Glücksspiele und Heiligenfeste, die zu Tanzveranstaltungen und Trinkgelagen ausarteten, Wettspiele im doppeldeutigen Umgang mit der Sprache, Besuche gewagter Aufführungen in den neu eröffneten Kinos der Stadt und das Kleinkriminellenmilieu. In den 1960er- und 70er-Jahren wurden zusätzlich die wachsende soziale Unrast und der politische Protest der Volksmassen in den expandierenden subalternen Stadtteilen dazugezählt, in den 1980er- und 90er-Jahren schließlich der ausartende Konsumismus im Zuge der sich in Medellín festsetzenden Drogenökonomie, welche der Stadt Verschwendungssucht, übertriebenes Genießertum, intensive Körperlichkeit und übertriebene Risiko- und Gewaltbereitschaft gebracht hätte.

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Neu gestalteter öffentlicher Raum im Stadtzentrum. Foto: A. Stienen

Darüber hinaus wurde aber auch als bedrohliches ‚Anderes' identifiziert, was das Image von Medellín gerade ausmacht: der Fortschritt. Er brachte auch eine aggressive Vorwärtsgerichtetheit, Kolonialistenmentalität, den Drang nach persönlichem Erfolg um jeden Preis und Entfremdung in der Stadt hervor. Fortschritt wurde in den Debatten der Aushandlungsforen der 90er-Jahre als „westlicher Sauberkeitswahn“ angeprangert. Idealisierend wurde ihm all das gegenübergestellt, was das ‚authentischere urbane Leben’ darstellen würde: die Spontaneität und Leidenschaft der „Volksmassen“ der 1930er-, 40er- und 50er-Jahre; die sinnlich orientierte Volksreligiosität und die Solidarität der Bevölkerung der subalternen Stadtviertel in den 1970er- und 80er-Jahren, welche die Warenlogik und Zweckrationalität unterwandert hätten; die Rebellion und das Lebensgefühl der jugendlichen Gewaltakteure aus der Unterschicht in den 90er-Jahren. Diese idealisierende Gegenüberstellung kommt auch im städtischen zentralen Literaturschaffen der 90er-Jahre zum Ausdruck, die für die Neuaushandlung des Städtischen zentral war. Jorge Franco Ramos etwa beschreibt in seinem viel beachteten Roman „Rosario Tijeras“ die Sicht der Elite auf die jugendlichen Gewaltakteure aus der Unterschicht in der Stadt:

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Die Metrolinie 1999: Die Disziplinierung der Öffentlichkeit geht weiter. Foto: A. Stienen

„Die waren risikofreudig und wagemutig und verschafften sich Respekt. Im Grunde waren sie so, wie wir immer gerne hätten sein wollen. Wir sahen, wie sie ihre Waffe vorne in die Hose steckten und so ihr Geschlecht vergrößerten. In jeder erdenklichen Form demonstrierten sie, dass sie männlicher waren als wir. Sie flirteten mit unseren Frauen und führten uns ihre Frauen vor. Ihre Frauen waren kompromisslos und zu allem entschlossen, genau wie sie, … sie waren authentischer als wir.“ (Franco 1999:32f, übers. A. S.).

Und der Kommunikationswissenschafter Alonso Salazar hält in seinem auf Interviews mit jugendlichen Auftragsmördern in der Stadt basierenden Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, fest:

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Neu angelegter öffentlicher Raum in einem subalternen Viertel am Standrand. Foto: A. Stienen

„Die Paisa-Kultur die lokale Kultur war reich, was den Gebrauch des Wortes anbelangt, aber arm, was das Spielerische, Lustvolle und die Körperlichkeit betrifft. Die antillanische Musik, die den Körper zum Vibrieren bringt, kam auf marginalen Wegen nach Medellín, sie wurde im ‚Untergrund‘ gehört, … in den ‚gefährlichen Vierteln‘, es war das Kleinkriminellenmilieu, das sie durchgesetzt hat. Erst in den 1980er-Jahre haben wir gelernt, uns diese Klänge, die die Seele erfreuen, anzuhören und dazu zu tanzen.“ (Salazar 1990:201, übers. A. S.).

So war denn das wichtigste Anliegen der Neudefinierung des Städtischen in den 1990er-Jahren die Einbindung dessen, was im Gegensatz zum jeweils ‚Eigenen’ als das ‚Andere’ definiert wurde. Dieses Anliegen ist der Wunsch nach einer Versöhnung des von Max Weber postulierten Widerstreits der beiden Dimensionen der Moderne: der „rationalen Moderne“ auf der einen und „ästhetischen Moderne“ auf der anderen Seite. Die Frage, wie dies erreicht werden kann, wurde im Verlauf des Modernisierungsprozesses in Medellín immer wieder neu gestellt. Auch die intensive Selbstreflexion über die Widersprüche der eigenen Moderne in den 90er-Jahren macht Medellín zu einer Kapitale des 21. Jahrhunderts.

Weiterführende Literatur

Salazar, Alonso (1990): No nacimos pa’ semilla. Bogotá: CINEP
Franco R., Jorge (1999): Rosario Tijeras. Bogotá: Plaza y Janés
DECYPOL (Departamento de Estudios Criminológicos y Policía Judicial) (2001): Muertes violentas 1986-2000
Stienen, Angela (2003): ‚Willkommen in der Kapitale des 21. Jahrhunderts - Medellín‘. Eine ethnologische Fallstudie über die Globalisierung des städtischen Raumes. Dissertation, Universität Bern
Stienen, Angela (2004): “District Management in Geological and Social ‘High Risk Zones’ in Medellín, Colombia”. In: Mountain Research and Development, Vol. 24, number 3. International Mountain Society, United Nations University. S.192-196
Stienen, Angela (2002): „Welche Stadt für wen? Stadtvisionen und Stadtwelten am Ende des 20. Jahrhunderts. Die kolumbianische Industriestadt Medellín”. In: Krasberg, Ulrike und Schmidt, Bettina (Hg.). Stadt in Stücken. Curupira Vol.12, Marburg. S. 27-59
Betancur, Soledad, Stienen, Angela, Urán, Omar (2001): ‚Globalización, nuevas redes de producción y acción colectiva. Reconfiguración territorial, nuevas formas de pobreza y riqueza en Medellín y el Valle de Aburrá. Tercer Mundo Editores, Bogotá

Zur Autorin

Dr. Angela Stienen, Studium der Sozialanthropologie, Soziologie und Geographie, Foschungsbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Bern, research associate am Forschungsinstitut IPC in Medellín, Kolumbien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008