UNSICHTBARE DÖRFER IN DER STADT

Migranten von der Südseeinsel Niue in Auckland

Von Hilke Thode-Arora

Auckland

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Aucklands Architektur repräsentiert vor allem das euro-neuseeländische und das Maori-Erbe: Marae (Maori-Kultplatz und Versammlungshaus) und Faculty-of-Arts-Gebäude der Universität. Foto. H. Thode-Arora

Auckland, Neuseelands größte Stadt - eine schnelllebige, hektische Metropole, Zentrum des Geschäftslebens mit Verkehrschaos und hoher Kriminalitätsrate – ist höchst kosmopolitisch. In ihr leben weltweit die meisten Polynesier. Die „Pacific Islanders“, wie die offizielle und häufig auch selbst verwendete Bezeichnung für Polynesier lautet, machen etwa 30 % der Gesamtbevölkerung aus, genauso viel wie die Maori. Trotzdem haben sie die Stadt nicht in gleichem Masse kulturell geprägt wie die Maori. Vereinzelte öffentliche Gebäude sind zwar architektonisch Südseehäusern nachempfunden, und große jährlich stattfindende Kulturfestivals (das Pasifika-Festival oder das Polyfest) gehören zu den bedeutenden Veranstaltungen Aucklands, die Millionen von Besuchern anziehen. Aber der überwiegende Teil der Architektur, Stadtteil- und Straßennamen und die zweisprachige Beschriftung öffentlicher Gebäude weisen ausschließlich auf das anglo-neuseeländische und Maori-Erbe hin.

Die Niuer und Niue

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Das 2005 fertig gestellte Fale Pasifika in Form eines samoanischen Hauses ist eines der wenigen öffentlichen Gebäude, die auf den hohen Bevölkerungsanteil der Pacific Islanders verweisen. Foto: H. Thode Arora

Niue ist eine kleine zentralpolynesische Insel von nur 260 Quadratkilometern Fläche und zugleich ein eigener Staat. Weltweit zählen sich nur etwa 20.000 Personen zu dieser ethnischen Einheit. Auf der Insel selbst leben 1.200 Niuer, alle anderen sind nach Neuseeland migriert - und zwar fast nur in die Städte: ca. 80 % leben allein in Auckland. Damit sind die Niuer zu 80 % Stadtbewohner, ein im interkulturellen Vergleich außergewöhnlicher Fall.

Nur noch ca. 15 % aller Niuer sprechen Niueanisch. Auffallendstes Charakteristikum der Sozialstruktur ist eine stark ausgeprägte Bindung und Solidarität zum Dorf – dem, in dem man geboren ist, und dem, in dem man lebt. Niue kennt im Gegensatz zu allen anderen Kulturen Polynesiens keine Adelsschicht, ranghohe Titelträger, erbliches Häuptlings- oder Königtum, die unbedingten Gehorsam in bestimmten Fragen verlangen können. Autorität und Gefolgschaft gewinnt man bis heute unter den Niuern allein durch Verdienste um andere Niuer.

Wohnen, Beten, Flechten: Raum als „Erfahrung“

Der Geograph David Harvey und der Soziologe Henri Lefebvre zeigen, dass die symbolische Ordnung einer Stadt von den verschiedenen Akteuren in der Stadt ganz unterschiedlich interpretiert wird. Je nach Interaktionen und Konzepten von der Stadt wird „Raum“ unterschiedlich wahrgenommen. Im Folgenden soll „Raum“ in Auckland als „Erfahrung“, als „Wahrnehmung“ und als „Vorstellung“ gezeigt werden.

Da es in Auckland keine niueanischen Stadtviertel gibt, sind gemeinsame Treff- und Organisationspunkte von großer Wichtigkeit. In den meisten anderen Stadtvierteln finden sich niueanischsprachige Gottesdienste verschiedenster Konfessionen, die größte Gemeinde ist die Pacific Islanders Church im Stadtzentrum, die von fünf polynesisch ethnischen Gruppen genutzt wird.

Erst in den letzten zwanzig Jahren entstanden auch außerhalb der Kirchen Treffpunkte - besonders von niueanischen Frauen -, obwohl viele Niuer schon sehr viel länger in Auckland leben. Gründe dafür waren, dass niueanische Migrantinnen oft in drei Jobs am Tag arbeiteten und eine meist große Familie mit vielen Kindern zu versorgen hatten. Durch diese hohe Arbeitsbelastung war es ihnen nicht möglich, die in ihrer Heimat kulturell bedeutsame Arbeit des Flechtens auch in Auckland fortzuführen, zumal Kokospalme und Pandanus, als Hauptlieferanten für Flechtmaterialien, in Neuseeland nicht gedeihen. Das änderte sich, als die ersten Niuerinnen, die als junge Frauen nach Auckland ausgewandert waren, in die Jahre kamen und wieder mehr Zeit für Beschäftigungen hatten, die nichts mit Geldverdienen und Kindergroßziehen zu tun hatten.

Sie lernten von den Maori, Neuseeland-Flachs als Flechtmaterial zu benutzen, wie diese es schon seit Jahrhunderten tun. Und allmählich entstanden in allen Stadtvierteln mit niueanischer Bevölkerung nach dem Vorbild der Frauengruppen niueanischer Dörfer Flechtgruppen. Fast alle diese Gruppen widmen sich heute auch noch anderen Tätigkeiten außer dem Flechten. Sie sind zugleich auch Selbsthilfegruppen für gesundheitliche oder soziale Probleme; viele betreiben auch niueanischsprachige Vorschulen.

Entsprechend den niueanischen Gepflogenheiten trifft man sich ausschließlich in öffentlichen Gebäuden – Hallen von Stadtteilkulturzentren oder Kirchen. Öffentlicher Raum dieser Art - Kirche oder Treffpunkt für die Flechtgruppe - wird also temporär und relativ unauffällig für die anderen Nutzer belegt.

Lernen, Geld verdienen, Spaß haben: Raum als „Wahrnehmung“

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Matafetu Smith beim Nikau-Flechten: Der Gebrauch von Neuseeland-Flachs und Nikau-Palmblättern statt Pandanus- oder Kokosblättern führte ab den 1980ern zur Gründung von über dreißig niueanischen Flechtgruppen in Auckland. Foto: H. Thode-Arora

Von Niuern wird Auckland oft auf dreierlei Weise beschrieben: Vor allem Neuankömmlingen gilt sie als gefährliche Stadt. Sie wird aber auch als Ort mit guten Möglichkeiten zum Geldverdienen und zum luxuriösen Leben gesehen, allerdings verknüpft mit Zwängen: „In Auckland ist die Uhr mein Boss, in Niue bin ich mein eigener Boss.“ Und zum Dritten wird Auckland als Stadt mit hohem Bildungs- und damit sozialem Aufstiegspotenzial wahrgenommen. Junge Leute - aber auch über Sechzigjährige - nutzen intensiv diverse Bildungsinstitutionen der Stadt, machen Abschlüsse und erwerben Zusatzqualifikationen in den verschiedensten Berufsfeldern.

Eine Reihe der von den Niuern frequentierten Orte werden ausschließlich unter finanziellen Aspekten betrachtet. So betreiben viele Frauen Verkaufsstände auf Wochenendmärkten oder auch bei jährlich wiederkehrenden Stadtteil- und Kulturfesten. Jede Flechterin bevorzugt bestimmte Arten von Flachs und bestimmte Orte, wo sie sie schneidet. Diese Orte werden aber im Gegensatz zum eigenen Land in Niue, auf dem der Pandanus wächst, nicht mythisch überhöht, sondern ausschließlich praktisch bewertet.

Orte des Geldverdienens sind oft gleichzeitig Vergnügungsorte: Flechtgruppen wie Märkte haben auch eine soziale Funktion; man trifft Personen derselben Ethnie, die sich im selben kulturellen Referenzsystem bewegen. Das von vielen Polynesierinnen frequentierte Kasino im hypermodernen Sky Tower besitzt ebenfalls diese Doppelkonnotation: Die Aussicht auf Gewinn am einarmigen Banditen sowie die Freude am Glücksspiel machen auch diesen das moderne, großstädtische Auckland repräsentierenden Ort zu einem Ort der Niuer.

Auf den Märkten bieten niueanische Flechterinnen neben Pandanuswaren ein großes Repertoire an Flachsflechtereien an: Aufgrund ihrer guten Qualität haben sie den Maori bedeutende Marktanteile abgenommen. Zwar signalisieren gewöhnlich ein kleiner Aufdruck „Niue“, einige typisch niueanische Flechtarbeiten sowie Eingeweihten bekannte Accessoires in der Kleidung die ethnische Zugehörigkeit: Die Niuer werden von den Euro-Neuseeländern aber gemeinhin nur als „polynesisch“ wahrgenommen.

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Stand einer niueanischen Flechtgruppe auf dem Pasifika-Festival: Flechten gehört für viele Niuerinnen auch in der Migration zu den kulturell bedeutsamen Tätigkeiten. Foto: H. Thode-Arora

Die Übernahme von Flechttechniken und -objekten der Maorikultur weist auf einen weiteren Aspekt der Urbanität im Lebensstil der Niuer hin. In Auckland mit seiner hohen Konzentration von Polynesiern findet auf dem Gebiet des Flechtens der Austausch in einem atemberaubenden Tempo statt. Viele der heute gängigen Typen von Flechtwerk und viele der verschiedenen Stile sind erst nach den 1990er-Jahren seit Anfang des neuen Jahrtausends nachzuweisen; in einigen Fällen lassen sich Ursprünge auf bestimmte Südseeinseln, zum Teil sogar bis nach Thailand zurückverfolgen. Es gibt jedoch auch eine Fülle kreativer Neuschöpfungen, welche sich bei kommerziellem Erfolg in rasanter Geschwindigkeit sowohl unter den städtischen Flechterinnen als auch vom Zentrum Auckland in die Peripherie, d. h. auf die verschiedenen polynesischen Inseln, ausbreiten. Einige Flechterinnen sind sogar nach Europa, in die USA, nach Australien und mit indianischen Flechtkünstlern vernetzt: Diese globale Vernetzung, die sich besonders ausgeprägt in den Städten zeigt, kann auch als ein Charakteristikum der urbanen Niuer gesehen werden.

Das Dorf in der Stadt und der Kampf um Status: Raum als „Vorstellung“

Auf der Insel Niue sind Orte meist symbolisch besetzt. Besonders zum eigenen Dorf und zum eigenen Land besteht eine enge Beziehung, denn hier werden die Verstorbenen bestattet, und hier befinden sich die Geister unzähliger Vorfahren. In Auckland sind - noch? - keine dieser Ausdrucksformen zu finden. Mana, die besonders wirkungsvolle Kraft in Orten, Dingen oder Personen, scheint sich in der Stadt ausschließlich an Personen und nicht an Orten festzumachen: So wie Schamanen überall praktizieren können, weil ihre Geister zu ihnen kommen, haben auch Pastoren und Kirchenälteste Mana kraft ihrer Position, wohin auch immer sie gehen. Die Pacific Islanders Church im Herzen Aucklands liegt mitten im Rotlichtviertel der Stadt; die Ehrfurcht heischende Räumlichkeit eines niueanischen Kirchplatzes, welche bestimmte Verhaltensweisen erfordert und andere verbietet, kann hier gar nicht vorhanden sein.

Ein zweites Prinzip im Rahmen von „Raum als Vorstellung“ ist Rivalität. Aufgrund der nicht hierarchischen Struktur der niueanischen Gesellschaft findet ein ständiger Kampf um Status statt. Statusrivalität - schon in voreuropäischer Zeit ein zentrales Thema in polynesischen Gesellschaften – ist bei den Niuern eine Angelegenheit zwischen all jenen Personen, die sich kraft ihres Durchsetzungsvermögens und der Errichtung von Klientelverhältnissen zu Führungspersönlichkeiten aufschwingen. Viele niueanischsprachige Kirchengemeinden (oft mit Wechsel zu einer neuen Konfession) und niueanische Flechtgruppen entstanden, weil bei einem Streit ein Herausforderer seine Gefolgsleute mitnahm und eine neue Gemeinde oder Flechtgruppe aufmachte. Dies lässt sich sogar kartographisch im Stadtgebiet verorten.

Diese Rivalität findet sich auch in der Kirche. In der Pacific Islanders Church zum Beispiel sitzt man nach niueanischen Dörfern getrennt, und jedes „Dorf“ wählt seine eigenen Kirchenältesten und Dorfobersten. Konkurriert wird um die Höhe von Kollekten und die Schönheit des Hymnengesangs. Schlechte Sänger anderer „Dörfer“ werden öffentlich verlacht.

Auch die meisten Flechtgruppen sind „dorfgebunden“: Schon ihre Namen - territorial verortete mythische Helden oder Bezeichnungen von Landstücken - signalisieren dem Eingeweihten den Bezug zu einem bestimmten Dorf. Frauen nehmen oft längere Anfahrtswege in Kauf, um zu ihrer Flechtgruppe zu kommen, selbst wenn andere Flechtgruppen näher liegen oder leichter zu erreichen sind.

Rivalität entlang der städtisch-räumlichen Struktur Aucklands ist hingegen bei vielen jungen, schon in Neuseeland geborenen Niuern zu erkennen, die sich bei innerniueanischen Sportwettkämpfen oder Kulturfestivals mit ihrem Stadtteil identifizieren. Auch bei einigen älteren Personen scheint die Bindung an das niueanische Dorf schwächer zu werden: Zusehends weniger mobil, frequentieren sie nun eine Flechtgruppe oder Kirchengemeinde, die für sie leichter erreichbar ist. Es bleibt also über die nächsten zwei Generationen zu beobachten, ob die niueanische Bindung an das Dorf allmählich einer Bindung an Stadtteile in Auckland weicht.

Weiterführende Literatur

Harvey, David (1989): The Condition of Postmodernity. Oxford
Lefebvre, Henri (1991): The Production of Space. Oxford
Thode-Arora, Hilke (2006): “How can we weave in a strange land?” Niuean weavers in Auckland. In: Ping-Ann Addo, Phyllis Herda, Leslie Heather Young (eds.): Hybrid Textiles: Pragmatic Creativities and Authentic Innovations in Pacific Cloth im Druck bei Yale University Press

Zur Autorin

Dr. Hilke Thode-Arora arbeitet am Ethnologischen Museum Berlin und an der University of Auckland. Von 2002 bis 2005 ethnologische Feldforschung in Niue und Auckland.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008