A PERSONAL RAINSTORM IN MY INVENTORY

Über kulturelle Ursachen, Wirkungen und die sinnliche Wahrnehmung von second life und anderen virtuellen Welten – eine sozialanthropologische Analyse

Von Urte Undine Frömming

Es wird die Möglichkeit geben, imaginäre Räume zu erleben, die von Künstlern geschaffen worden sind: Künstler, die weniger dem klassischen Künstler ähneln als dem Filmregisseur. Man wird sich in diesen Erlebnisräumen bewegen können und aktiver werden als das passive Publikum der klassischen Kunst, d.h. man kann durch bestimmte Entscheidungen die Wege oder auch die Fortführung des Geschehens bestimmen. Diese aus heutiger Perspektive geradezu prophetisch anmutende Aussage stammt aus dem Jahr 1991 von Herbert W. Franke.

Es ist Nacht in second life im Jahre 2007, ich knipse, mit einem Klick auf den Sonnenstand, das Tageslicht an und teleportiere mich innerhalb von Sekunden nach „Tokio City“. Ich fliege über einer zerstörten Stadt, in der ein anderer Avatar ein Feuer in den Trümmern entfacht hat.

Ich nehme, um das Feuer zu löschen, (weil mir das eine passende und amüsante Handlung erscheint) – meinen personal rainstorm aus der Inventarbox und klicke auf „wear“ - tragen - es blitzt und donnert und Regen fällt unter Plätschergeräuschen aus meinen Armen auf das Feuer unter mir. Der andere Avatar schickt mir eine geschriebene persönliche Nachricht: „Hello, can I have this raincloud?“ Wir tauschen Feuer gegen Regen.

Die derzeitige Entwicklung der Zweidimensionalität des Internets in eine Dreidimensionalität, die stärker mit Bildern und weniger mit Text arbeitet, sowie die Möglichkeit der Partizipation am Bildprozess und an Ereignissen bietet, führt zu einer Neuordnung und Neubewegung in der digitalen Welt.

Für die ethnologische Forschung ergeben sich eine Vielzahl von Fragen: Was sind die kulturellen Folgen von Formen der Verkörperung, durch die ein Individuum Gender, Ethnizität und den Status verändern kann? Wie verändert die Möglichkeit, mittels dreidimensionaler Welten und ohne großen finanziellen Aufwand Kontakte zu Menschen aus ganz anderen Regionen der Welt einzugehen, Gesellschaften? Welche Rolle wird in Zukunft den dreidimensionalen Bildwelten als kulturelle Repräsentationsform und Bildungsoption zukommen? Welche Bedeutung haben diese Welten für religiöse Zugehörigkeit, für Minderheiten und Migranten?

Es existieren inzwischen bereits mehrere virtuelle 3D-Welten, neben second life, Entropia Universe, Home, There, Gaia Online, 3-DNetz, um nur einige zu nennen, in der sich Menschen Doppelgänger erschaffen, soziale Kontakte eingehen, fiktive Landschaften und Räume erstellen, sich darin frei bewegen und sogar Handel betreiben und reales Geld umsetzen. Einige Welten stehen eher in der Nähe zu so genannten MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role Playing Games), so zum Beispiel Entropia Universe , während in second life kaum konkrete Vorgaben oder Spielanleitungen existieren. Die Tendenz bei letzteren Welten scheint in eine Richtung zu gehen, in der das Suchen- und Finden-Prinzip von Google durch die Suche in drei- oder sogar mehrdimensionalen Räumen ersetzt wird.

Die Partizipation am Produktionsprozess der Bilder und der Topographie in dreidimensionalen virtuellen Welten wie second life ist neuartig und kann als dreigeteilt betrachtet werden: Es gibt die Gruppe der Programmierer, welche verschiedene Bausteine für Anwendungen herstellen; User, welche in Landbesitz sind und diese Anwendungen kreativ kombiniert zu ihrem jeweiligen Zweck einsetzen, sowie - als dritte Gruppe - einfache Partizipanten und Konsumenten, welche sich in der Welt bewegen und sich – ähnlich wie beim Fernsehen, das nun zum Nahsehen geworden ist – durch diese Welt „zappen“. Einige davon kaufen etwas, andere sind noch nicht einmal im Besitz von virtuellem Geld.

Das Neue an diesen 3D-Welten ist die völlig andere Art des Sehens: man ist in dieser Welt sozusagen ständig mit dem Blick durch das Objektiv einer Kamera unterwegs. Ich (beziehungsweise mein Avatar) kann Objekte und Menschen ganz nah zu mir heranzoomen, ohne mich ihnen zu nähern und mich sogar hinter oder unter ein Objekt zoomen. Die Augen sind dabei losgelöst vom Körper, einer Überwachungskamera ähnlich. Ich kann mich von oben oder aus der Ferne betrachten und mich mit einer so genannten followcam in der Beobachterperspektive von einem drittem Standpunkt aus sogar fortbewegen und dabei filmen. Die Geisteswissenschaften, die Überwinder der Furcht vor der Schrift, haben ein Jahrhundert gebraucht, um ihre eigene Ikonophobie, ihre Angst vor Bildern, zu überwinden. Virtuelle Welten sind nun noch mehr als schlichte Bilder; sie sind Bilder aus Landschaften und Räumen, in die man hinein laufen und fliegen kann, die man verändern und sogar ganz neu schöpfen kann.

Hier lebt der Traum der Moderne einem Schöpfergott zu gleichen, Tag- und Nachtrhythmus sowie das Wetter zu beeinflussen und sich zu klonen, um aus der Retrospektive einen narzisstischen Blick auf sich und seine selbst entworfenen Landschaften zu werfen oder aber die reale Person in der Virtualität neu zu erfinden. Ein User berichtete: „Ich habe mich ein wenig in meinen eigenen Avatar verliebt“. In den meisten virtuellen Welten scheint es darüber hinaus die Tendenz zu geben, das als zu langsam und mühsam empfundene Kommunikationsmittel Schriftlichkeit durch Voice-Funktionen (Kommunikation über Headset mit Mikrofon) abzulösen.

Aber was eigentlich sind die Botschaften dieser von Programmierern beziehungsweise Usern entworfenen Räumen? Erschaffen sie Parallelwelten oder entwerfen sie alternative Daseinsformen? Meine ersten ethnografischen Daten scheinen zu belegen, dass wohl auch virtuelle Welten im Grunde nur das verkörpern, was allen anderen Medienformen, die keine schlichten Informationsmedien sind, gemeinsam ist: Sie sind Übermittler, symbolische Welt, Ausdruck von Kultur und dem von ihr Verdrängten, Ausdruck von Gesellschaft und dem, was Menschen an und von entfernten Orten einmal gesehen, gehört, erlebt haben. Diese Formen der Kulturtechniken sind, mit der Philosophin Sybille Krämer gesprochen, eine „Interaktion zwischen Sprache und Bild, zwischen Symbol und Technik, zwischen Sinnlichkeit und Geist“.

Aus sozialanthropologischer Perspektive ist das besondere an second life und anderen virtuellen Welten, dass sie uns gleichsam die geheimen Wünsche, die schönsten Erinnerungen der Menschheit an Landschaften, Räume und Situationen zeigen oder sagen wir eher, wie kleine Bühnenstücke mit ganz eigener Kulisse präsentieren. Ebenso werden die dunklen oder verdrängten gesellschaftlichen Aspekte sichtbar. Das journalistisch gern zitierte Image des sexuell ausschweifenden, orgiengefüllten und lasterhaften virtuellen Raumes muss nicht lange gesucht werden. Alle Abartigkeiten finden sich hier: Auf Knopfdruck Sodomie mit einem dreiköpfigen Hund oder Räume voller kopulierender Menschen: twosome, threesome, foursome . Hier sind sie die Menschenmassen, die Verstecke und Heimlichkeiten der Moderne, hier gibt sich das in westlicher Kultur Sublimierte ein Stelldichein. Die Bewegung in den landschaftlichen virtuellen Räumen in ]k:second life] ist jedoch zumeist eine Erfahrung des Alleinseins und damit ein treffendes Abbild der Folgen der Individualisierung in der Moderne. Die endlose Weite, sei es in den Bergen oder an einem Strand, lässt Zweifel aufkommen an der Idee der grenzenlosen Vernetzung aller Erdbewohner durch virtuelle Welten. Hier und dort begegnet man aneinander vorbei eilenden oder fliegenden Avataren, geschäftig unterwegs nach irgendwohin, ganz wie im richtigen Leben.

Die virtuellen Welten scheinen derzeit noch zu groß geraten. Sie sind ein Produkt des auf der Flucht vor kontrollierender Familie und Dorfverband durch eine Diktatur der Zeit- und Ressourcenknappheit in partielle Isolation geratenen Großstädters. Doch findet er im „zweiten Leben“, das als Ausweg konzipiert ist aus Kommunikationsdefizit und Mangel an Nähe, wirklich was er sucht? Kann er sich selbst in der Doppelung entkommen und neu erfinden? Strenge Regeln herrschen in der Welt von ]k:second life] um Gruppen und damit Zugehörigkeit überhaupt zu bilden. Mein Avatar wurde aufgrund nur dreiwöchiger Inaktivität angemahnt, dass er bei weiterem fern bleiben dem Forum der Philosophen verwiesen würde. Meine Interviewpartner erzählten, dass sie sich in der virtuellen Realität kennen gelernt, dann virtuell und real geheiratet und Kinder bekommen hätten, dass sie Zeiten der Fernbeziehung überbrückten, dass sie Halt fanden in schweren persönlichen Zeiten oder einfach mehr Spaß hätten in der Virtualität als bei einem Kneipenbesuch.

Wozu brauchen wir diese dreidimensionalen Welten? Welche Wirkung haben sie? Sie sind – und das ist Fakt – eine geniale Erfindung für den Fall einer atomaren Verseuchung oder Verwüstung der Erde durch Folgen der Klimaerwärmung; für Zeiten, die das Reisen unmöglich machen oder einfach nur für einen alternden Körper, der die Strapazen der Fortbewegung an weit entfernte Orte scheut, zum Beispiel einen Ausflug in die Alpen. Ebenso gut sind diese virtuellen Welten für Bewohner von Erdteilen mit geringem Einkommen geeignet, die sich diese Ausflüge „real“ nicht leisten können (allerdings können sie sich auch die teure Grafikkarte, die man für diese 3-D-Welten braucht, meistens nicht leisten). Aber auch für die viel Arbeitenden und Besserverdienenden mit Zeitknappheit ist diese Welt ideal. Darüber hinaus entspricht sie dem Wunsch nach Kommunikation mit Menschen aus anderen Erdteilen. Ein Mann aus der Türkei macht mit mir die ersten Flugübungen nach der Ankunft in second life . Eine Frau aus Florida lud mich in ihr „zweites Haus“ ein, das aussieht wie ihr eigenes in Florida (sagt sie), nur dass dieses nicht am Meer liegen würde. Eine Bardame aus Russland entschuldigt sich, dass sie im realen Leben arbeiten gehen müsse und später wieder käme. Auch in second life „arbeitet“ sie als Animierdame in einer Bar. Ein Avatar, der nach eigenen Angaben aus den Niederlanden kommt und den ich an einem Hafen treffe, schickt mir ein Foto von sich per E-Mail auf einem Segelboot, mit der Bemerkung: „Ich im rl“ ("real life").

Aus den virtuellen Welten spricht der uralte Wunsch der Menschheit, unsterblich zu sein, den Körper zu überwinden, mit einem Klick auf female oder male das Geschlecht zu wechseln so oft und wann man will. Auch die Idee des Teleportierens, welche in vielen Science-Fiction Geschichten auftaucht, ist in den meisten virtuellen Welten genauso „erlebbar“ wie der Kauf sämtlicher virtueller Statusobjekte (Autos, Flugzeuge, Schiffe, U-Boote, Hubschrauber und Pferde) für nur wenige reale Dollars.
Im Unterschied zum Roman oder Film kann ich dieses Medium mitgestalten und alle sehen es. Das ist das Neue. Der Produktionsprozess, der bei herkömmlichen Medien ein versteckter Ort war (der Schreibtisch, der Verlag, der Sender, das Studio) ist in der neuen dreidimensionalen Welt öffentlicher Raum, auch wenn Theoretiker wie Michel de Certeau unlängst meinten, wir würden nicht lesen, sondern „wildern“, nicht „passiv konsumieren“, sondern „kreativ gebrauchen“. Im Web 3.0 ist dieses Gebrauchen nun zum Erfinden geworden, gekoppelt an einen Wunsch, sich zu verstecken, in einer fremden Welt, in einem Bild, einer heimlichen Begegnung, einer selbst entworfenen Landschaft oder Stadt voller eigener Botschaften (das zerstörte Tokio) und zugleich Zugehörigkeit, Anerkennung, Da-Sein zu empfinden. Dies Paradoxon entspringt der völlig durchreglementierten, organisierten und überwachten Gesellschaft, die den Einzelnen zum austauschbaren virtuellen Wesen gemacht und in die Überflüssigkeit geführt hat.


In der second life -Sprachlosigkeit der Gemäuer, der Pflanzen oder Tiere, gibt es hin und wieder Trost, in virtuellen Ereignissen den Schmerz des real-irrealen Nicht-Ereignisses zu vergessen. Vielleicht sind wir nie näher an der Idee der Moderne gewesen als jetzt, wo die Dichotomie zwischen Illusion und Wirklichkeit sich auflöst – wo Realität immer virtueller und Virtualität immer realer wird.


Weiterführende Literatur
Certeau, Michel de (1980): L’ invention du quotidien. Art de faire. Paris
Franke, Herbert W. (1991): Der Monitor als Fenster in einem unbegrenzten Raum. Ein Gespräch mit Florian Rötzer. In: Florian Rötzer: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main. S. 282-293
Krämer, Sybille (2003): „Schriftbildlichkeit“ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: S. Krämer, H. Bredekamp: Bild, Schrift, Zahl. München. S. 157-176

Zur Autorin
Dr. Urte Undine Frömming, Ethnologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Freien Universität, Berlin. Feldforschung in Indonesien und Island.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008