DIE TESGÜINADA: VIEL TRINKEN UND GESUND BLEIBEN!

Alkohol in der Kultur der Sierra Tarahumara: Die Rarámuri.

Von Claus Deimel

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Tesgüinada-Ritual bei den Rarámuri. Foto: C. Deimel

Der Genuss von Alkohol in Form von Maisbier oder ähnlich gegorener Getränke unter den Tarahumara-Indianern ( Rarámuri ) wird bereits in den frühen Quellen des 17. Jahrhunderts erwähnt und bis heute mit missionarischem Eifer und medizinischem Rationalismus erfolglos bekämpft. Von den Rarámuri wird Alkoholgenuss mit Bezug auf die Tradition zu allen religiösen Feiern und Heilungszeremonien ( tesgüinada ) als ein von Gott gewolltes Heilmittel gerechtfertigt. Das religiöse Diktum (Gebot) wird mit großen Mengen von Maisbier oder Ähnlichem in Kommunion mit Gott auf der tesgüinada ausgeführt; Gelage, die bis zu drei Tagen andauern können. Dieser Text zeigt den historischen und gesellschaftlichen Horizont des Trinkens im rituellen Kontext der tesgüinada sowie ihre Veränderungen in der Sierra Tarahumara und in den städtischen Siedlungen der Rarámuri.

Die Mehrheit der Rarámuri der Sierra Tarahumara lässt für eine tesgüinada auch heute noch bei jeder Gelegenheit alles andere stehen und liegen. Tesgüino , Maisbier, ist seit Jahrhunderten das primäre Mittel für einen kommunitären (gemeinschaftlichen) Bier-Rausch im Rahmen religiöser Zeremonien. Über den Alkoholgenuss der Rarámuri ist schon viel berichtet, lamentiert und prognostiziert worden. Offenbar ganze Wissenschaftlerkarrieren basieren auf der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und seinen sozialen und physischen Erscheinungen. In gleichem Maße ist tesgüino seit Beginn des Kontaktes der Europäer mit diesen Indianern ein zentrales Element der Kritik und der Begründung zivilisatorischer Missionsprogramme von Kirche und Staat. Dass hierbei, sieht man in die historische Tiefe der Dokumentierung der Rarámuri (oder Tarahumara) als ethnographisch-ethnologischen Prozess über 400 Jahre hinweg, Schein und Wirklichkeit, Anmaßung und Übertreibung, Ignoranz, Vermutung und bloße Meinung in der Auseinandersetzung der Europäer, Mexikaner und Nicht-Indianer mit dem Phänomen „Maisbier“ merkwürdige Urstände feiern, liegt in der Natur der Sache.

Die ethnographisch und alltagsphilosophisch vielleicht treffendste kurze Beschreibung geht auf einen Autor mit Namen F. Cabeza de Vaca aus dem Jahr 1943 zurück (nicht zu verwechseln mit dem berühmten verschollenen Cabeza de Vaca, der im 16. Jahrhundert Nordamerika von Florida bis Sonora durchwanderte). Cabeza de Vaca konstatiert über die Rarámuri:
„Für sie ist das berauschende Getränk eine notwendige Sache zum Leben und zum Erhalt der Gesundheit. Sie glauben, dass sie dadurch besser spanisch sprechen können. Sie trinken nicht aus Verzweiflung und Desillusion, sie trinken zu ihren Festen, weil es ihnen schmeckt, um sich lustig zu machen und das, sooft sie können, und im Exzess, bis dass sie bewusstlos sind.“ (Cabeza de Vaca 1943:48)

In dieser an sich treffenden Darstellung hat natürlicher Weise auch eine bestimmte Komik ihren Ort, die wohl auf die Rarámuri selbst zurückgeht, andererseits aber auch auf ihre Interpreten. Die einen trinken, weil sie es gut finden, und weil es immer schon gut war, die anderen sind erstaunt über die Begegnung mit diesem eigenartigen Exzess einer anderen Kultur, die so ist, wie sie eben ist, der der Dokumentator nicht angehört und folglich ethnozentrischen Missverständnissen unterliegt.

Ich will nicht im Einzelnen klären, was etwa diese Trinkart für die Gesundheit der Menschen der Sierra Tarahumara bedeuten könnte; ich sage nicht, das dies Trinkverhalten „gesund“ im europäischen Sinne ist. Ich lasse den Begriff Gesundheit unberührt, da er hier spezifisch definiert werden müsste und im Sinne der Rarámuri tesgüino mit ihrem Begriff von einem guten Leben gleichgesetzt wird. In den Vorstellungen der Rarámuri vom Trinken rangiert Tesgüino trinken unter den guten Begriffen, es ist ein anzustrebendes Verhalten: „Trinkt, aber trinkt in Maßen!“ heißt es, oder „Trinkt für Gott, aber rauft nicht, seit vorsichtig!“. Die Anweisung: „Trinkt in Ruhe, sprecht in Ruhe, tanzt in Ruhe!“ ist immer Quintessenz der mahnenden Reden der Amtsträger ( gobernadores ).

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Maisbier, Rarámuri. Foto: C. Deimel

Carl Lumholtz, der Ende des 19. Jahrhunderts die erste umfassende Monographie über die Rarámuri schrieb, vermutete, dass allen wissenschaftlichen Theorien (des 19. Jahrhunderts!) zum Trotz, das Rauschmittel Maisbier scheinbar keine Auswirkungen auf ihre physischen und mentalen Fähigkeiten habe, und er beschrieb die Sache mit dem tesgüino , ohne den so gut wie nichts Bedeutsames in der Gesellschaft stattfinde, als eine soziale Tatsache ( fait total social ), mit der man wie in einer „ nutshell “ (Nussschale) die gesamte Kultur der Rarámuri beschreiben könne: „...denn die Götter sollen das Bier genauso lieben wie die Toten. Regen fällt nicht ohne tesgüino ( tesvino ), tesgüino kann nicht ohne Mais gebraut werden, und Mais kann ohne Regen nicht wachsen. Das, ganz einfach, ist die Ansicht der Rarámuri von ihrem Leben.“ schreibt Lumholtz.

Seit der Erforschung der Rarámuri durch die westliche Welt ist dieser „ tesgüino -Komplex“ in der Regel ein festes und zentrales Element jeder Beschreibung, oft und zunehmend mehr verbunden mit Warnungen seitens der Ärzte, auch mit moralischen Vorhaltungen in der nordmexikanischen Presse und vorsichtig geäußerten Bemerkungen in der mexikanischen Politik verbunden oder gar strickten religiös motivierten Absagen an den Genuss des traditionellen Alkohols tesgüino . Die kulturellen Zusammenhänge des so genannten „ Tesgüino -Komplexes“ wurden von John G. Kennedy für die Region Inapuchi, gelegen im Westen der Sierra, als nicht-funktional („ dysfunctional “) beschrieben. Natürlich ist dies im Prinzip richtig, denn starker Alkoholgenuss ist in der Regel weder medizinisch noch ökonomisch als positiv zu bewerten. Absurd wirkt diese Beurteilung aber vor dem Hintergrund, dass jede Gesellschaft der Erde, von der Alkohol mehr oder weniger stark benutzt wird (also von fast jeder), in diesem Sinne als „ dysfunctional “ zu bezeichnen ist. Mit anderen Worten, wir sind also alle ein bisschen „ dysfunctional “, was eigentlich keinen so richtig verwundert.

Die tesgüinada besteht trotz solcher in Wissenschaft und Politik vorgetragenen Isolierungen aus dem kulturellen Gesamtkontext noch heute mit allen Grundzügen weiter und wird seit vorspanischer Zeit als starkes gesellschaftliches Muster benutzt. Interessant ist, dass zur selben Zeit die Mestizen (Chavochi) das tesgüino -Muster zwar oftmals ablehnen und ihrerseits einen klandestinen Schnaps- und Bierkonsum ohne wesentliche rituelle Bezüge bis heute mit steigenden Mengen pflegen. Die Alkoholmenge in der mestizischen Gesellschaft liegt meinen jahrelangen Beobachtungen zufolge im Durchschnitt eines Jahres nicht unter der von Rarámuri eingenommenen Menge. Die Trinkgemeinschaft der Mestizen ist aber auf sehr kleine Gruppen bezogen und wird von der eigenen (mexikanisch-mestizischen) Gesellschaft in der Regel nicht anerkannt. Die tesgüinada dagegen wird im Gegensatz zum „Saufevent“ der Mestizen unter weitgehend allen Indianern als ritueller Teil ihres Lebens akzeptiert und praktiziert.

Auf beiden Seiten, bei den Indianern wie bei den Mestizen, haben sich die Mengen in den vergangenen 25 Jahren etwa verdoppelt. Wenn die Rarámuri in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Durchschnitt 400 Liter pro tesgüinada tranken, so ist es heute leicht das Doppelte. Es handelt sich jedoch um eine Steigerungsrate wie sie in jeder „westlichen“ Kultur stattgefunden hat; zum Beispiel trinken die Deutschen im Vergleich zu den 50er-Jahren heute mehr als das Doppelte an Alkohol. Rechnet man dann noch diejenigen ab, hier wie dort, die überhaupt nicht trinken, so zeigt sich derselbe Fakt: Steigende Trinkraten im globalen Kontext, also in den meisten Kulturen der Erde. Die Rarámuri stellen mit ihrem Trinkverhalten also keinen Sonderfall dar.

In gewisser Weise typisch für den „westlichen“ Diskurs über das Trinken bei diesen Leuten ist die ausgeprägte Ignoranz gegenüber globalen Verhältnissen. Darüber hinaus erscheint das ritualisierte Trinken der Rarámuri seit der frühen Kolonialzeit als subversiv und allen Entwicklungsprogrammen konträr. Die tesgüinada ist eine Institution des kulturellen Widerstandes und sie ist nicht integrierbar in einen europäisch-nordamerikanischen Begriff von „gesundem Leben“ oder gar von „Wellness“.

Es lebe die tesgüinada !

Der Text ist der Ausschnitt eines Vortrages zur Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Ethnomedizin im Heidelberger Völkerkundemuseum am 28.10.2006

Weiterführende Literatur

Cabeza de Vaca, F. (1943): Apuntes sobre la vida de los Tarahumares. México: Editor Vargas Rea
Deimel, Claus (2001): Nawésari. Texte aus der Sierra Tarahumara. Monografía rarámuri II. Berlin
Kennedy, John G. (1963): Tesgüino Complex: the Role of Beer in Tarahumara Culture. In: American Anthropologist 65. S. 620–640
Lumholtz, Carl (1902): Unknown Mexico. Band 1 New York
Mayer, Georg (1999): Interner Kolonialismus und Ethnozid in der Sierra Tarahumara (Chihuahua, Mexiko). Geographisches Institut der Universität Tübingen. Tübinger Geographische Studien, Heft 122; Tübinger Beiträge zur Geographischen Lateinamerika-Forschung, Heft 17

Zum Autor

Dr. Claus Deimel ist Direktor der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen mit den Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Herrnhut. Er betreibt seit 1973 Feldforschung bei den Rarámuri. Zu seinen weiteren Fachgebieten gehören Ethnomedizin, andine und mesoamerikanische Kulturen sowie Museologie.

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Mexiko. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main






Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008