VOM SINN DER SINNLICHKEIT

Ein Band von Arnd Schneider und Christopher Wright will den Dialog zwischen Kunst und Ethnologie stimulieren

Von Stephanie Maiwald

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The Market from Here, 1997. Rice University, im Skulpturenhof zwischen den Kunst- und Anthropologie-Instituten. Foto: F. Calzadilla

Von außen betrachtet ist die Installation The Market from Here ein gewöhnliches Metallgerüst, das mit asphaltierter Plastikfolie überzogen wurde und aus zwei sich kreuzenden Gängen, je circa neun Meter lang und drei Meter breit, besteht. Es soll die Gestalt eines Vogels im Fluge imitieren, die Abdel Hernández und Fernando Calzadilla als Metapher für ihre Situation als ethnographisch arbeitende Künstler während der Feldforschung gewählt hatten. Die Ergebnisse ihrer Forschungen auf venezuelanischen Märkten wollten sie nicht in das Bild eines prototypischen lateinamerikanischen Marktes umsetzen, sondern vielmehrihre eigene, subjektive Beziehung zum Thema vermitteln. Für die Gestaltung des Innenraumes verwendeten sie Materialien, die sie während ihrer Forschungen gesammelt hatten. Sie installierten diese während einer tranceartigen Performance, die durch ihre Erfahrungen evoziert wurde, und als deren „Spur“ sie die fertige Installation verstanden. So wurde das Innere des Gerüstes zwar mit dem auf den Märkten Gesammelten und Gesehenen ausgestattet, jedoch nicht gemäß einer in der äußeren Welt vorfindbaren Ordnung, sondern im Kontext einer vom Realen abgelösten Struktur, in der jedes Material einer ihm eigenen Grammatik folgt. Der Stand des Yerbatero , des traditionellen Medizinverkäufers zum Beispiel, wurde nicht nur mit Hilfe der Heiligenbilder und Medizinpflanzen gestaltet, sondern auch mit cachicamo -Muscheln, die die Bauern früher verwendet hatten, um das Saatgut auf die Felder zu transportieren, die jedoch im Kontext der Performance mit Beschwörungsinstrumenten assoziiert wurden. Der Vorhang, der die Abteilung des Yerbatero von den benachbarten trennte, wurde mit Eisensplittern aus dem Laden des Schmiedes hergestellt, die in den Augen der Künstler wie Glöckchen zur Abwehr böser Geister wirkten. Ein narrativer Bezug des Gestalteten wurde erreicht, indem Hernández und Calzadilla den Schreibtisch eines fiktiven Ethnographen an den Eingang stellten. Diese Instanz bildete den Rahmen für die Fiktionalität des Werkes, der zugleich dem Betrachter eine Reflektion seiner eigenen Position ermöglichte. The Market from Here steht für einen Diskurs, der versucht, Ethnologie und Kunst zusammenzuführen. Realisiert wurde das Projekt 1997 im Rahmen eines Workshops mit Künstlern aus Lateinamerika am anthropologischen Department der Rice University in Houston.

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The Market from Here, 1997. Besucherinnen zwischen Buhonero-Taschen und Notizen. Foto: F. Calzadilla

Die Arbeit von Hernández und Calzadilla, dargestellt in einem Aufsatz von George Marcus und Fernando Calzadilla, stellt meines Erachtens eines der anregendsten Beispiele, in dem von Arnd Schneider und Christopher Wright herausgegebenen Band, dar, dessen Anliegen es ist, neue und produktive Dialoge zwischen Kunst und Ethnologie zu stimulieren und die Entwicklung alternativer Strategien auf beiden Seiten zu fördern. In den 1980er Jahren hatte in der Ethnologie im Zuge der sogenannten Writing Culture -Debatte eine erkenntniskritische Besinnung auf Voraussetzungen und Methoden der Gewinnung und Darstellung ethnographischer Erkenntnisse stattgefunden, die unter anderem zu experimentellen Formen ethnographischen Schreibens geführt hatte. Doch waren den Möglichkeiten des Experimentierens durch den institutionellen Rahmen der akademischen Disziplin enge Grenzen gesetzt. Insbesondere eine Öffnung für nicht-textuelle Ausdrucksformen hatte kaum stattgefunden. Zwar nahm die Bedeutung von Bildmedien in der Ethnologie mit der Entwicklung der digitalen Technologie zu, doch blieb die Autorität des Textes über das Bild, realisiert durch die narrative Struktur der meisten ethnographischen Filme, bestehen. Eine Auseinandersetzung mit den Praktiken der Gegenwartskunst könne der Ethnologie, so eine der Hauptthesen von Schneider und Wright, helfen, die Angst vor einem Widerspruch von Kreativität und Ästhetik auf der einen und wissenschaftlicher Erkenntnis auf der anderen Seite zu überwinden.

Dass künstlerische Ausdrucksformen sich zumindest für die hard sciences bereits in der Vergangenheit als inspirierend erwiesen, belegt Susanne Küchler mit einem Beitrag über Knotenskulpturen und ihren Einfluss auf die Mathematik. Bislang, und dies veranschaulichen die meisten Beiträge des Bandes, waren es überwiegend Künstler, welche sich ethnologische Fragestellungen und Methoden aneigneten. Nicht immer gelingt dies in innovativer Weise. Die Anlehnung des italienischen Malers Francesco Clemente an den Stil der populären Malerei in Indien etwa lässt sich in einem in der romantischen Tradition wurzelnden Orientdiskurs verankern.

Ein Aufsatz von Arnd Schneider liefert einen Überblick über künstlerische Formen der Aneignung ethnographischen Wissens im 20. Jahrhundert. Die Umsetzung der Erfahrungen mit fremdkulturellen Phänomenen versteht Schneider als hermeneutischen Prozess, durch den der Zugang zu und der Umgang mit kulturellen Unterschieden verhandelt wird. Die verschiedenen Aneignungsformen reichen von einer Orientierung an formalästhetischen Kriterien außereuropäischer Kunst im Primitivismus des frühen 20. Jahrhunderts bis zur Konversion, wie im Falle des argentinischen Künstler Alfredo Portillos, der im brasilianischen Exil zum Mitglied des Candomblé -Kultes wurde und diese spirituellen Erfahrungen in seiner Kunst umsetzt. Portillos mag einen Extremfall der Tendenz von Gegenwartskünstlern darstellen, sich in einer als ethnographic turn bezeichneten Strömung verstärkt der ethnographischen Feldforschungspraxis zuzuwenden.

Daneben findet aber auch eine künstlerische Reflektion auf die ethnographischen Praktiken des Sammelns und Ausstellens statt. Einige Künstler versuchen bewusst, Alternativen zu den akademischen Konventionen der ethnographischen Repräsentation zu schaffen. Dies ist etwa der Fall im Werk von Susan Hiller, einer ausgebildeten Ethnologin, die sich zu Beginn der 1970er-Jahre der Kunst zuwandte, weil sie die Ethnologie als Komplizenschaft im Programm einer intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Kolonisierung „anderer“ Kulturen verstand. Im Zentrum ihrer Arbeiten stehen jedoch weniger „fremde Kulturen“ als das Befremdende im eigenen Erleben: Erfahrungen mit veränderten Bewusstseinszuständen wie dem Traum, Nahtoderlebnissen oder Kontakten mit Außerirdischen. Witness , eine Audioskulptur aus dem Jahr 2000, die letzteres thematisiert, besteht aus 400 Kopfhörern, die in einer dunkelblau beleuchteten Halle von der Decke hängen und im Originalton und verschiedenen Sprachen die Stimmen derjenigen vernehmbar machen, die solche Erfahrungen hatten. Relativiert wird die Unmittelbarkeit der polyphonen Reproduktion durch die häufigen Wiederholungen im Inhalt des von verschiedenen Stimmen Berichteten, die auf die Anpassung menschlicher Wahrnehmung und Sprechweise an moderne Technologien und die globale Verbreitung von Vorstellungen aus der westlichen Fiktion hinweisen.

Als ganz anderer Art gestaltete sich die Synthese von Kunst und Ethnologie im James Bay Project , das 1981 von dem Künstler Rainer Wittenborn und dem Publizisten Claus Biegert realisiert wurde. In enger Kooperation mit Vertretern der Action Anthropology strebten Wittenborn und Biegert eine Kunst an, die als politisches Medium wirksam werden sollte. Im James Bay Project geht es um die Auswirkungen des Baus eines Wasserkraftwerks in der kanadischen Provinz Quebec auf die Umwelt und die lokale Cree-Bevölkerung. Mehrere Monate Feldforschung, in deren Verlauf fotografiert und gezeichnet wurde, botanische und ethnographische Sammlungen zustande kamen, Interviews und orale Traditionen aufgezeichnet wurden und Filmaufnahmen entstanden, gingen der Konzeption einer Ausstellung und der Publikation eines Buches voraus. Dass die Ergebnisse ihrer Arbeit der lokalen Bevölkerung ebenso zugänglich gemacht wurden wie einem westlichen Publikum, war Wittenborn und Biegert ein besonderes Anliegen, das jedoch seit der selbstkritischen Wende in den 1980er Jahren auch der konventionellen Ethnologie als moralische Verpflichtung erscheint. Von dem Sendungsbewusstsein der Künstler, sich zu Fürsprechern eines „Naturvolks“ zu machen, wie es der Arbeit offensichtlich zu Grunde liegt, sowie der, soweit aus dem Abgebildeten ersichtlich wird, primitivisierenden Darstellung, dürfte jedoch für die heutige Ethnologie kaum eine Anregung ausgehen.

Mit deren Interessen deckt sich eher die Arbeit der Künstlerin Mohini Chandra über die Diaspora von Fiji-Indern. Chandra verwendet in ihren Arbeiten Travels in a New World I + II und Album Pacifica Photographien, die von der fiji-indischen Gemeinschaft als Medien zur Aufrechterhaltung familiärer Netzwerke in der Diaspora-Situation und zur Artikulation von Identität und Geschichte eingesetzt werden. Chandra bezieht sich auf individuelle Erfahrungen, zeigt aber zugleich deren historische Bedingtheit im Kontext der globalen wirtschaftlichen und politischen Mechanismen auf. Es gelingt ihr so, subjektive Erinnerung in kollektive Geschichte zu transformieren.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Nicholas Thomas, den die Rezensentin als eine Art Kommentar auf die vorangehenden Artikel lesen möchte. Thomas’ Ausgangspunkt ist die Frage, ob eine Kunst, die sich auf ethnologische Themen und Methoden einlässt, Gefahr läuft, eher stereotype Vorstellungen über die „Anderen“ zu popularisieren, als dass sie in dieser Hinsicht eine Alternative zur Ethnologie bereitstelle. Thomas hält dieser Befürchtung eine Ethnologie entgegen, die sich den Wechselbeziehungen in der Wahrnehmung von „Selbst“ und „Anderem“ widmet. So verstanden führt ethnologische Forschung unter anderem zu der Erkenntnis, dass kulturelle Differenzen nicht nur von Europäern thematisiert wurden, sondern eben so sehr von denen, welche im herkömmlichen Sinne als die „Beforschten“ galten. Thomas erläutert dies am Beispiel der Tätowierung. In der Form, wie sie gegenwärtig auf Tahiti existiert, so zeigt er auf, ist sie ein Ergebnis der Interaktion verschiedener pazifischer und europäischer Kulturen. Die exotisierende Darstellung der Tätowierung in populär gewordenen Photographien kontrastiert Thomas mit der Arbeit von vier neuseeländischen Künstlern. Er zeigt, wie die Tätowierung den veränderten sozialen Bedingungen im Einwanderungsland angepasst wird, wie ein neuseeländischer Photograph, im Gegensatz zur Exotik eher den Aspekt der Gewalt, aber auch der Selbstdarstellung der Tätowierten herausarbeitet, und wie exotisierende Praktiken der Repräsentation von einem Photographen samoanischer Abstammung in selbstrepräsentierender Weise aufgegriffen und abgewandelt werden.

Kunst und Ethnographie können also sowohl zu stereotypisierenden als auch zu innovativen Ergebnissen führen. In jedem Fall aber sind Künstler und Ethnologen stets nur Ko-Interpreten. Ihre Ergebnisse stehen im Zusammenhang eines Alteritätsdiskurses, der von den Repräsentierten mitbestimmt wird. Thomas zieht so das Fazit: „Weder die Kunst des Ethnographen, noch die Ethnographie des Künstlers entdecken einen ‚Brauch’, der an der Ethnographie unschuldig wäre“. (Übersetzung S. M.)

Arnd Schneider und Christopher Wright (Hg.) (2006): Contemporary Art and Anthropology. Oxford und New York: Berg. ISBN184520 103 5. £ 19,99

Zur Autorin

Stephanie Maiwald, Institut für Historische Ethnologie, Universität Frankfurt am Main. Feldforschungen in Nigeria; arbeitet zur Zeit an einer Dissertation, die sich am Beispiel der nigerianischen Gegenwartskunst mit europäisch-afrikanischen Rezeptionsprozessen befasst.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008