DIE STRAFE DER GÖTTER UND DÄMONEN

Sri Lanka und die Tsunami-Katastrophe

Von Wolfgang Mey

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Das Meer vor Sri Lanka. Foto: W. Mey

Die Flutwelle traf am 26.12.2004 auf die östliche, die südliche und südwestliche Küstenlinie Sri Lankas. Die gesamte Küstenregion bis in die Gegend von Kalutara südlich von Colombo war betroffen. Die Strandsiedlungen der Fischer wurden bis auf wenige Ausnahmen vernichtet. Die Fischer mussten flüchten - wenn sie noch Zeit dazu fanden -, ihre Boote, Kutter und Netze wurden weitgehend zerstört. Die touristische Infrastruktur an diesen Küstenstreifen wurde ebenfalls zum großen Teil zerstört. Die offizielle Zahl der Toten liegt (bisher) bei 38.195, davon sind 12.000 Kinder.

Sri Lanka ist als „Urlaubsland“ sehr beliebt. Einen großen Teil der Besucher, die diese Insel jährlich besuchen, stellen deutsche Reisende. Doch nicht nur für heutige Touristen hat diese Insel mit ihrer Jahrtausende alten Kultur eine große Anziehungskraft. Zu allen Zeiten priesen Reisende überschwänglich dieses „tropische Paradies“.

Neben Sri Lanka, dem so genannten königlich-leuchtenden Land, üben nur noch die Inseln Bali und Tahiti eine ähnliche Faszination auf westliche Besucher aus. Sri Lanka eignet sich hervorragend als Projektionsfläche für europäische Phantasien über tropische Paradiese. Die Menschen sind freundlich und duldsam, das Land weist eine Vielzahl von Klimazonen auf, es ist immergrün, hat im Zentrum Hochgebirgscharakter und weite, weiße Strände. Ein allgegenwärtiger Buddhismus, in dem schon Schopenhauer eine Alternative zum Christentum des Abendlandes sah, verleiht dem Land eine eindrucksvolle Abgeklärtheit.

Viele dieser wirklichen und imaginierten Eigenschaften stehen im europäischen Denken für eine bessere Welt. So hat die Katastrophe, die über die Insel hereinbrach, auch im westlichen Denken Erschütterungen verursacht, denn Paradiese werden nicht von Naturkatastrophen heimgesucht. Die Brüchigkeit der Konstruktion einer tropischer Gegenwelt wurde deutlich, und an den Bruchkanten wurde unvorstellbares Leid sichtbar.

Sri Lanka hat - wie auch die angrenzenden Staaten - eine viele Jahrhunderte währende Kulturgeschichte, und diese Geschichte verlief selten friedlich. Sie ist gekennzeichnet durch eine höchst wechselvolle Beziehungsgeschichte zwischen Tamilen und Singhalesen und später zwischen den Einheimischen und den Kolonialmächten. Krieg, Not und Gewalt sind mithin bis auf den heutigen Tag immer wiederkehrende Erfahrungen in der Geschichte des Landes. Die Verursacher dieser Not sind identifizierbar und allen bekannt. Es waren und sind Herrscher und Feldherren, Politiker, lokale Machthaber und deren Fackelträger und Steigbügelhalter. Diese Erfahrungen haben also ein Gesicht. Die davon betroffenen Menschen wehrten und wehren sich dagegen, oft mit Gewalt und wechselnden Erfolgen.

Bis zum letzten Jahr war Sri Lanka von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüchen über einen langen Zeitraum hinweg verschont geblieben. Die Flutwelle und die Katastrophe, die sie in Sri Lanka anrichtete, und das unermessliche Leid, das sie hinterließ, sind in ihrem Ausmaß für Sri Lanka ohne Beispiel und können nicht mit menschengemachten Katastrophen, von denen die Geschichte der Insel berichtet, verglichen werden. Von einem Moment zum anderen verloren Zigtausende von Menschen ihre Familien, ihre Existenzgrundlagen, ihre Zukunft. "So können nur Dämonen töten," sagt man auf Sri Lanka, "willkürlich, grausam, unaufhaltsam".

Die naturwissenschaftliche Erklärung der Katastrophe ist bekannt. Die ethnologische Interpretation beginnt erst, deshalb kann ich auch nur vorläufige Aussagen treffen. Erste Gespräche mit Freunden in Ambalangoda, einer Kleinstadt etwa 85 km südlich von Colombo, lassen jedoch erkennen, in welche Richtung die Interpretationen über die Ursache des Tsunami gehen. Der Kontext der Deutungen dieser Katastrophe findet sich in der Kosmologie der singhalesisch-buddhistischen Kultur.

Einige meiner Gewährsleute in Ambalangoda, insbesondere Bandu Wijesooriya, der Direktor des Masken-Museums und der Schule für traditionelle Tänze in Ambalangoda, begreifen die Katastrophe als eine Vergeltungsmaßnahme der den Menschen übergeordneten Mächte. Ein Kennzeichen der Katastrophe war ihre Unvorhersehbarkeit, ihre Unkontrollierbarkeit und totale Gewalt, ihre Willkür. Die Welle tötete und vernichtete, brutal und unverhofft. Es gibt nur eine Macht, die ein solches Ereignis verursachen kann, das sind Götter und/oder Dämonen. Nur von ihnen kann eine solche Gewalt ausgehen.

Beide Gruppen - die der Götter und der Dämonen - müssen die ihnen im Kosmos zugewiesenen Aufgaben erfüllen, jeweils in ihrer Position. Diese Aufgaben sind äußerst vielfältig und dienen letztendlich dazu, den ganzen Kosmos - alle Himmelsrichtungen, oben und unten - gegen unheilsame Einflüsse zu beschützen. Diese kosmische Ordnung ist älter als die Menschheit, von göttlicher Legitimation und unantastbar. Götter und Dämonen sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben geradlinig und rücksichtslos. Sie bestrafen mitleidlos Haltungen und Handlungen, die geeignet sind, die gegebene kosmische Ordnung zu erschüttern.

Die Beziehung zwischen den Menschen und diesen übernatürlichen Wesen wird durch kollektive Rituale gestaltet. In traditionell festgelegten rituellen Handlungen und Gaben erweisen die Menschen diesen Mächten Achtung und den ihnen zukommenden Respekt. Werden diese Rituale nicht durchgeführt, verlieren die Menschen ihre Zugehörigkeit zu dieser Ordnung, die sich auch im Schutz des Einzelnen manifestiert, und sind damit anfällig für dämonische Angriffe.

Nun gibt es verschiedene Ursachen für eine Störung dieser Ordnung. Menschen können bewusst gegen die gesetzte Ordnung handeln, sie können sie mutwillig durch falsche Ansichten und Haltungen stören. Oder sie missachten diese Ordnung aus Unglauben oder Nachlässigkeit. In jedem Fall aber bestrafen Götter oder Dämonen eine Störung des Gleichgewichts. Ich will dafür einige Beispiele, die mir aus Ambalangoda berichtet wurden, nennen.

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Sri Lanka, Koralleninsel Sinigama. Foto: W. Mey

Etwa 12 km südlich von Ambalangoda liegt, der Küste vorgelagert, die kleine, sehr flache Koralleninsel Sinigama. Der Schrein auf dieser Insel ist dem Regionalgott Devol gewidmet. Menschen, die die Hilfe dieses Gottes benötigen, suchen diesen Schrein auf und bringen dort ihre Opfer dar. In den letzten 15 Jahren hat dieser Ort eine zunehmend größere Bedeutung erlangt, er wurde zu einem lokalen religiösen Zentrum, Pilgerquartiere wurden gebaut und die Macht des Gottes nahm zu. Diese kleine Insel, die nur etwa einen Meter die Wasseroberfläche überragt, wurde nicht getroffen, der Schrein blieb unbeschädigt. Die Menschen sagen, dass die kleine Insel ein Ort sei, an dem die Macht des Gottes gegenwärtig ist, und das habe sie vor der Zerstörung bewahrt. Die der Insel gegenüberliegenden Strandsiedlungen dagegen, deren Bewohner pauschal der Kriminalität und des Drogenhandels verdächtigt werden, wurden von der Flutwelle niedergerissen und weggespült.

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Sri Lanka, Korallenabbau auf Sinigama. Foto: W. Mey

Entlang der nun zerstörten Küste haben die Anwohner seit Jahrzehnten die Korallenriffe abgebaut, um Kalk zu gewinnen, der an Ort und Stelle in großen Meilern gebrannt wurde. Wo immer kalkführende Schichten gefunden wurden, wurde der Kalk in großen Gruben gefördert. Die Natur, das Riff und das Land wurden damit zerstört und verschmutzt.

Der gesamte Küstenstreifen südlich von Ambalangoda bis Hikkaduwa ist auf einer Länge von etwa 15 km durch die Folgen des Seebebens schwer verwüstet. Die Welle hat sich zum Teil weit in das Landesinnere hineingefressen und dabei auch einen ganzen Eisenbahnzug mit über 1000 Passagieren aus den Gleisen gehoben und weggespült. Fast alle Passagiere kamen um. Dieser Küstenstreifen war durch die Zerstörung des Riffs, also durch die Eingriffe der Menschen, zerstört und verunreinigt worden.

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Sri Lanka. Foto: W. Mey

In Sri Lanka sagt man, der Anblick des wogenden Meeres und eines sauberen Strandes soll eine ausgleichende Wirkung auf das menschliche Gemüt haben. Früher gab es einen „Welle-Arachchi“, einen Aufseher, der für die Sauberkeit der Strände verantwortlich war. Doch diese alte Ordnung ist mit den touristischen Strandsiedlungen und dem Korallenabbau zerstört worden. Folgerichtig würden jetzt Götter und Dämonen die Verursacher bestrafen. Die große Welle habe alle Unreinheiten fortgespült.


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Sri Lanka. Foto: W. Mey

Ähnlich verwerflich verhalten sich die Menschen auf See. Sie fischen mit Dynamit und töten nicht nur die Fische, die sie tatsächlich benötigen, sondern sie rotten auch die Brut aus. Die Fischer zerstören dadurch ihre Lebensgrundlagen. Auch diese Missachtung habe den Gott Gara derartig erzürnt, dass er die Fischer entlang der gesamten Küste vernichtete.

Im Verhältnis zu den Zerstörungen in anderen Orten sind die Menschen in Ambalangoda jedoch noch glimpflich davongekommen. Meine Freunde dort führten das auf die Tatsache zurück, dass die meisten Bewohner dieses Ortes, der für seine buddhistische Gelehrsamkeit bekannt ist, den Buddhismus in Ehren halten. Nur wenige Menschen ertranken dort. Unter ihnen war eine alte Frau, die Mutter eines wohlhabenden Hoteleigentümers. Sie war auch angesichts der drohenden Welle nicht zu bewegen, ihr Haus zu verlassen, bevor sie nicht all ihren Schmuck zusammengerafft hatte. Vor dem Tor wartete der Fahrer ihres Autos. Die Frau verlor zu viel Zeit, die Welle begrub ihren Fahrer und tötete auch sie. Ihre Gier brachte sie um.

Auch ganz im Süden, an der Küste von Hambantota, wurden Tausende Fischer getötet. Sie sind Muslime. Die Götter haben sie bestraft, so heißt es, weil sie gegenüber anderen Religionen intolerant sind, den Islam als einzige wahre Religion darstellen und sogar Buddhastatuen zerstört haben.

Weiterführende Literatur

Kapferer, Bruce (1983): A Celebration of Demons. Exorcism and the Aesthetics of Healing in Sri Lanka. Indiana University Press: Bloomington
Mey, Wolfgang (1995): Getanzte Auslegung des Buddhismus. Heilrituale in Sri Lanka. In: Frank B. Keller (Hg.): Krank warum? Vorstellungen der Völker, Heiler, Mediziner. Stuttgart: Cantz
Wijayaratna, Mohan (1987): Le culte des dieux chez les bouddhistes singhalais. Le religion populaire de Ceylan face au boudhisme Theravāda. Ed. du Cerf
Wirz, Paul (1954): Exorcism and the Art of Healing in Ceylon. R.J. Leiden: Brill

Zum Autor

Dr. Wolfgang Mey, Stellv. Leiter, Museumsdienst Hamburg. Feldforschungen in Frankreich, Bangladesh, Sri Lanka (ab 1984)


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008