DER TSUNAMI IN DER PROVINZ ACEH/NORDSUMATRA, INDONESIEN

Von Achim Sibeth

Der Tsunami in der Provinz Aceh 1
Historisches Holzgebäude im Aceh-Museum, Banda Aceh, Nordsumatra. Foto A. Sibeth, 1992

Das Erdbeben und der Tsunami vom 26.12.2004 haben in der Provinz Aceh bislang unvorstellbare Schäden verursacht. Die Weltöffentlichkeit erfuhr im Vergleich zu den ebenfalls betroffenen Regionen Sri Lanka, Indien und Thailand erst mit Verzögerung das Ausmaß der Katastrophe in Aceh. Von den westlich vorgelagerten Inseln und den Küstenregionen West- und Südacehs wissen wir auch heute (Anfang März 2005) vergleichsweise wenig. Während in den anderen Ländern auch zahlreiche ausländische Touristen betroffen waren, war Aceh in den letzten Jahren nahezu komplett von der Außenwelt und damit auch vom Tourismus abgeschottet. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem indonesischen Militär und der Freiheitsbewegung „Freies Aceh“ sind der Grund dieser Isolation. Doch auch vor dem kriegsbedingten Ausnahmezustand war Aceh nur eine selten von Ausländern besuchte Region Indonesiens. Der Grund dafür ist in der nur rudimentär vorhandenen touristischen Infrastruktur und im Fehlen touristischer "Highlights" für Pauschaltouristen zu sehen.

Geschichte von Aceh

Das erste islamische Reich hieß Perlak und wurde bereits Anfang des 9. Jahrhunderts gegründet. Auf diesem baute das spätere Sultanat Aceh auf. Der Islam verbreitete sich schnell in den Küstenstädten, zumal dort viele Kaufleute aus fremden Ländern und ihre Nachkommen lebten. Der berühmte italienische Reisende Marco Polo gelangte angeblich 1292 nach Aceh, das er Pasai nannte. Er berichtete von der islamischen Bevölkerung in den Städten an der Küste und von heidnischen, menschenfressenden Stämmen in den Bergen. Von Aceh aus erreichte Anfang des 15. Jahrhunderts der Islam Malakka und breitete sich weiter auf der ganzen malaiischen Halbinsel aus. Der Einfluss des Islam in Aceh selbst beschränkte sich auf die Küste und blieb gering, bis Anfang des 16. Jahrhunderts durch Zusammenlegung kleinerer Staaten das mächtige Königreich Dar as-Salam entstand, mit seinem Sitz im heutigen Banda Aceh. Das islamische Reich Aceh Dar as-Salam wehrte sich sehr lange und heftig gegen die Einverleibung in das holländische Kolonialreich. Erst ein brutaler Kriegszug um 1904 brach die Macht des Sultanats.

Aceh leistete in den 1940er-Jahren massiven Widerstand gegen die japanische Besatzung und schloss sich nach dem Zweiten Weltkrieg der 1945 von Soekarno und Hatta ausgerufenen Republik Indonesien an. Allerdings unter der Bedingung, im künftigen Staat eine weitreichende Autonomie zu erhalten. Die Zusagen wurden jedoch nicht eingehalten, und so formierte sich erneut eine Widerstandsbewegung, die sich nun für ein unabhängiges freies Aceh stark machte. Die Unabhängigkeit von Indonesien ist aus der Sicht der indonesischen Regierung jedoch keine akzeptable Konfliktlösung, denn sie will auf den Reichtum Acehs an Erdgas und Petroleum sowie die Einkünfte aus den verschiedenen Industriezweigen nicht verzichten. Bis heute fließt nur ein sehr kleiner Teil der Einkünfte aus diesen Wirtschaftsbereichen zurück nach Aceh. Nach mehreren Phasen von "Frieden" bzw. Waffenstillstand sind vor einigen Jahren wieder heftige Kämpfe ausgebrochen, die im Frühjahr 2003 zur Ausrufung des Ausnahmezustandes und zur Abschottung der Provinz Aceh führten. Zeitweise waren über 50.000 indonesische Soldaten und paramilitärisch ausgebildete Polizeitruppen in Aceh stationiert, denen von Bürgerrechtsorganisationen und Presseorganen massenhafte Verstöße gegen die Menschenrechte (Folter, Vergewaltigung, Körperverletzungen, Mordanschläge etc.) nachgesagt werden.

Der internationalen Presse, aber auch den öffentlichen Verlautbarungen des indonesischen Militärs (TNI) ist zu entnehmen, dass die verheerende Flutkatastrophe von TNI genutzt wurde, um ihre Angriffe gegen die Freiheitsbewegung GAM (Gereka Aceh Merdeka) fortzusetzen. Inzwischen wurde jedoch von ernsthaften Bemühungen der beteiligten Konfliktparteien berichtet, den Krieg zu beenden. Verhandlungen zwischen GAM und hochrangigen Regierungsvertretern begannen am 28.1.2005, führten jedoch bislang zu keinem überzeugenden Ergebnis. Derzeit wird seitens der indonesischen Regierung versucht, die Anwesenheit ausländischer Hilfstruppen in Aceh zeitlich zu begrenzen. Ende März sollen alle ausländischen Soldaten (US-Amerikaner, Australier, Neuseeländer, Singapurer, Deutsche, Belgier, Engländer etc.) Indonesien verlassen. Welche Auswirkungen dies haben wird, ist noch unklar.

Von der Katastrophe betroffene Regionen

Der Tsunami in der Provinz Aceh 2
Figurenschmuck an Fassade, Aceh-Museum, Banda Aceh, Nordsumatra. Foto: A. Sibeth, 1992

Betroffen sind die 600 km lange Westküste der Provinz Aceh und die 200 km lange Nord- und Ostküste bis mindestens zur Ortschaft Lhokseumawe. An der Nordküste bei Banda Aceh wurde der Küstenstreifen in einer Tiefe bis zu 4 km verwüstet. Bei der internationalen Berichterstattung werden meist die zahlreichen vorgelagerten Inseln übersehen. Im Norden: Pulau Sabang (auch bekannt als Pulau Weh, „Taucher-Paradies“), Pulau Nasi, Pulau Breueh; im Westen von Nord nach Süd: Pulau Simelue mit rund 20 vorgelagerten Inseln; die Banyak-Inseln (Inselgruppe aus ca. 90 Inseln); Nias mit den westlich vorgelagerten Hinako-Inseln (gehören bereits zur Provinz Nordsumatra) sowie die Batu-Inseln. Ein Großteil dieser Inseln ist permanent oder temporär besiedelt und hatte ebenfalls unter den Seebeben und dem Tsunami zu leiden. Die Zahl der Opfer war hier vergleichsweise gering, da die Bevölkerung die Gefahren und Anzeichen von Seebeben kennt und sich rechtzeitig in höher gelegene Regionen zurückgezogen hatte. Der materielle Schaden war aber auch hier hoch. Zehntausende Häuser und mehrere Hundert Boote, die zum Fischfang und zum Transport zwischen den Inseln verwendet werden, wurden massiv beschädigt und zerstört. Diese Inseln erhielten erst ein, zwei Wochen nach der Katastrophe Hilfslieferungen. Die Bewohner fürchten, dass auch die internationale Wiederaufbauhilfe bei ihnen nicht ankommen wird.

Opferzahlen für die gesamte Provinz Aceh und die vorgelagerten Inseln

500.000 Menschen wurden obdachlos; 120.000 Tote wurden geborgen und beerdigt; 120.000 werden noch vermisst. Die Vermissten müssen inzwischen den Toten zugerechnet werden, sodass sich die Zahl der Toten auf 240.000 erhöht. Damit sind 5,1 Prozent der Bevölkerung tot. 10,6 Prozent der Bevölkerung von Aceh wurden obdachlos. Und noch heute werden täglich in den Trümmern und Schuttbergen Leichen geborgen.

Aufgaben für die Zukunft
Auf die indonesische Regierung und alle Hilfsorganisationen warten ungeheure Aufgaben, um die Lebensverhältnisse in ganz Aceh und auf den vorgelagerten Inseln zu normalisieren und die gewohnten Lebensverhältnisse wiederherzustellen. Dazu gehören:
Sicherstellung der Ernährung bis zur nächsten ausreichenden Ernte;
Aufbau der Versorgung mit Trinkwasser und Strom;
Registrierung aller elternloser Kinder; Vermittlung an Verwandte; Unterbringung in wohnortnahe Waisenhäuser (in SOS-Kinderdörfer zum Beispiel);
Verhinderung von Menschenhandel und Zwangsprostitution;
Errichtung von Beratungsstellen zur Bewältigung traumatischer Erlebnisse;
Wiederherstellung der Infrastruktur: Krankenhäuser, Schulen Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude, Telekommunikation, Hafenanlagen;
Wiederaufbau zerstörter Städte und Wohnhäuser;
Rekultivierung zerstörter Agrarflächen.

Gefahrenpotentiale
All diese anstehenden Arbeiten bergen jedoch auch Gefahren für die lokale Bevölkerung, für die Helfer, für die Umwelt, aber auch für die nationale Wirtschaft:
- erneutes Aufflammen der kriegerischen Auseinandersetzungen GAM versus TNI
- geheimdienstliche Kontrolle aller Acehnesen, vor allem in den abgeschotteten und von Soldaten bewachten Flüchtlingslagern
- massiver Druck auf die letzten Waldbestände (der WWF hat mit der indonesischer Regierung berechnet, dass für den Wiederaufbau von Gebäuden ein Bedarf von 6,5 bis 8 Millionen m³ an Schnittholz besteht)
- die Versalzung der überschwemmten Böden führt zum Absterben von Bäumen, Büschen und Pflanzen und reduziert den Ertrag der Felder und Nutzbäume in noch unbekanntem Umfang, Verluste an Arbeitsplätzen durch Geschäftspleiten - Fisch war der wichtigste Protein-Lieferant in der Ernährung, die fast vollständige Vernichtung der privaten Fisch-Fangboote führt zur Abhängigkeit von Importen aus anderen Landesteilen, dadurch Gefahr der Mangelernährung
- erhebliche Preissteigerungen, erhöhte Inflationsgefahr für indonesische Währung Rupiah, Landflucht in die Regionen, wo Hilfsgüter zu erhalten sind, damit einhergehend die Gefahr der Überbevölkerung in städtischen Gebieten.

Daten zur Provinz Aceh
Die Provinz Nanggroe Aceh Darussalam ist eine von mittlerweile 32 Provinzen Indonesiens. Mit einer Größe von 55.392 km² ist Aceh ungefähr so groß wie die beiden Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg zusammen. Die Bevölkerung von Aceh zählte vor dem Tsunami 4,7 Millionen. Hessen mit ca. 6 Millionen und Baden-Württemberg mit 11 Millionen sind dagegen viel dichter besiedelt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung sind Muslime (98 Prozent); Christen zählen 1,5 Prozent; der Rest sind Hindus und Buddhisten. Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind die Aceh, Gayo, Alas, Malaien, zugewanderte Javaner, Minangkabau und Batak.
Verwaltungsstruktur : Die Provinz Aceh ist in 20 Verwaltungsdistrikte (kabupaten) und 131 Unterbezirke (kecamatan) gegliedert, die alle der Provinz- und Nationalregierung direkt unterstellt sind.
Landschaftsform : Die Westküste hat einen relativ schmalen Küstenstreifen mit steil ansteigendem Bergland, die Nord- und Ostküste einen breiten, flachen Küstenstreifen, teilweise mit Resten von Mangrovenwäldern und ein deutlich flacher ansteigendes Bergland. Der von Nordwest nach Südost verlaufende Barisan-Gebirgszug besitzt 39 sehr hohe Berge vulkanischen Ursprungs, deren höchster der Berg Leuser mit 3166 Meter Höhe ist. Viele der Vulkane sind noch heute aktiv. In der Provinz Aceh fließen 73 größere Flüsse, daneben Hunderte von Bächen, die das Bergland zu den Küsten hin entwässern. Die Küstenstraßen führen daher über eine große Anzahl unterschiedlich breiter Brücken, von denen die meisten durch das Beben und den folgenden Tsunami beschädigt oder zerstört wurden.
Klima : Aceh hat ein tropisches Klima mit hoher Luftfeuchtigkeit (87 Prozent) und ausgeprägter Regenzeit; die Temperatur bewegt sich tagsüber durchschnittlich um 28-33 Grad Celsius, die nachts an den Küsten nur wenig runtergeht. Die durchschnittliche Regenmenge pro Jahr beträgt an Westküste 2000-3000mm, an Nord- und Ostküste 1000-2000mm.
Land- und Forstwirtschaft : Holzeinschlag (oft illegal und exzessiv), darunter Meranti, Eisenholz, Rattan. Reis (bewässerte Nassreisfelder, Trockenfeldbau), Kaffee, Kakao, Nelken, Kautschuk, Muskatnuss, Pfeffer, Sojabohnen, grüne Bohnen, Kapok, Kokospalmen/Kopra, Tabak, Areka-Palmen (Betelnuss), Harze, Sago-Mehl, Bananen, Durian, sonstiges Obst/Gemüse.
Nutztiere : Wasserbüffel, Rinder, Ziegen, Schafe, Fischfang sowie Zucht von Fischen und Shrimps. In küstenfernen Inlandregionen trägt auch noch die Jagd auf Wildtiere zur Ernährung bei (mit allen Fällen von Überjagung und Ausrottung der Bestände (siehe unten: Tierwelt).
Industrie und wichtigste Exportgüter : Aceh fördert, produziert und exportiert Petroleum, Erdgas, Dünger, Zement, Holz und Sperrholz. Dazu gehören auch Produkte wie Palmöl, Palmzucker, Kautschuk, Muskatnüsse, Kaffee und Kopra etc.
Tierwelt : 512 Säugetierarten, 313 Vogelarten, 76 Reptilienarten, 18 Arten v. Amphibien. Darunter Elefant, Nashorn, Bär, Orang-Utan, Gibbon und Tiger. Viele Tierarten sind bereits vom Aussterben bedroht.

Dr. Achim Sibeth ist Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins „Unterstützerkreis Aceh/Bantuan Aceh e. V.“, der sich zum Ziel gesetzt hat, gerade in den weniger bekannten Regionen West- und Südacehs Hilfsprojekte für Kinder und Jugendliche zu initiieren und über mehrere Jahre regelmäßig zu betreuen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008