FUSSSPUREN IN DER LAVA

Friedensrituale bei Vulkanausbrüchen in Ost-Flores

Von Urte Undine Frömming

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Die Komplex-Vulkane: Lewotobi laki-laki (links) und Lewotobi perempuan. Foto: U. Frömming, 1998

Was ist in Ost-Flores zu tun, wenn Konflikte oder sogar Krieg den Alltag beherrschen? Das nahe liegendste ist ein Ritual. Man wartet zum Beispiel bis ein Vulkan ausbricht und führt ein Opferritual mit allen verfeindeten Parteien durch. Da die Zwillings- oder Komplexvulkane Lewotobi laki-laki und Lewotobi perempuan in Ost-Flores allerdings recht unregelmäßig ausbrechen, gibt es manchmal jahrelang keine Gelegenheit zum Friedensritual, bis es dann plötzlich wieder so weit ist.

Die Ausbrüche des Lewotobi laki-laki sind berüchtigt, zuletzt zeigte er 1992 und dann erst wieder 11 Jahre später im Jahre 2003 was passiert, wenn er Asche, Lava und Felsbrocken wie Feuerbälle über die Dörfer und Felder wirft. Hunderte von Hektar Mais- und Reisfeldern, Kokosnuss- und Kaffeeplantagen wurden vernichtet, Waldbrände loderten tagelang und gerieten außer Kontrolle, Trinkwasser und Gemüse waren mit Schwefeldioxid und anderen Giften kontaminiert, auch das Vieh fand keine Nahrung mehr. Die am meisten der Eruption ausgesetzten Dörfer waren die in unmittelbarer Nähe des Vulkans. Besonders stark betroffen war das Dorf Hokeng Jaya (2300 Bewohner), wo ich während meiner Forschung 1998 wohnte. Das gesamte Dorf wurde bei dem Ausbruch 2003 von einer bis zu fünf Zentimeter hohen Ascheschicht bedeckt.

Die fünf Klan-Gruppen, die am Fuße der Komplex-Vulkane siedeln, tragen seit Generationen folgenden Ursprungsmythos mündlich weiter: Die Berge Lewotobi laki-laki ( laki =männlich) und Lewotobi perempuan ( perempuan =weiblich) kamen von weit her und siedelten sich in dem Gebiet des jetzigen Lamaholot an. Sie bekamen ein Kind mit dem Namen Ile Muda. Ile Muda ist ein Vulkan, der nicht weit von den Lewotobi-Vulkanen entfernt, in der Nähe des Dorfes Nobo liegt. Die Lewotobi Vulkane sind der Sitz der Vorfahren.

Ausbrüche der Vulkane werden als Unmut der Ahnen über Streitigkeiten zwischen einzelnen Klan-Gruppen gedeutet. Auch eine Vernachlässigung der rituellen Pflichten gegenüber den Ahnen, sowie Verstöße gegen bestehende gesellschaftliche und religiöse Werte und Normen werden als Gründe für einen Vulkanausbruch genannt. Der Zorn der Ahnen kann nur durch traditionelle Opferzeremonien besänftigt werden, und diese müssen unter allen Umständen unmittelbar am Hang des Vulkans durchgeführt werden, auch wenn es sich dabei um ein sehr gefährliches Unternehmen handelt. Beim Vulkanausbruch 1992 verweigerten die Dorfältesten und religiösen Oberhäupter der am Vulkan lebenden Klan-Gruppen ihre zwangsweise Evakuierung durch die Regierung mit der Begründung, sie hätten „ihre Pflicht den Ahnen gegenüber zu erfüllen“. Die Zeremonie konnte in einer Eruptionspause durchgeführt werden, ohne dass es Todesopfer gab.

Die Dorfoberhäupter, Ältesten und HeilerInnen aus dem Dorf Duang (Boru, Region Lewolema), die am Fuße des Lewotobi laki-laki leben, schilderten mir den Ablauf des Opferrituals. Der Clou dieses Rituals ist, dass immer zwei Angehörige unterschiedlicher Klan-Gruppen gemeinsam einen Sack Reis oder eine Ziege oder ein Schwein tragen müssen. Diese simple aber effektive Idee stammt aus der Zeit als die unterschiedlichen Gruppen der Region Lamaholot noch auf Kopfjagd gingen und sich regelmäßig gegenseitig bekriegten. Der Vulkanausbruch wurde zum Anlass genommen, Frieden zu schließen. Mir wurde erzählt, dass die Leitung der Zeremonie beim Ausbruch des Lewotobi laki-laki im Jahre 1992 eine der dorfältesten Frauen innehatte.

Der Glaube, dass die Ahnen und Götter durch die Natur mit den Menschen reden, ist auf ganz Flors verbreitet, und selbst die obligatorische naturwissenschaftliche Aufklärung in der Schule ändert an diesem Glauben nicht sehr viel. Nach wie vor ist der Vulkan Orientierungsinstanz und moralische Instanz im Umgang mit den anderen und der eigenen Gruppe. Er ist das verbindende Element zwischen den Klanen, die verstreut in seiner Nähe siedeln, er „ersetzt“, wenn man so will, die Kirche, das Gerichtsgebäude, die Psychologen oder Anwälte. Wenn er ausbricht, sind alle betroffen und das nicht selten über mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre, denn so lange dauert mitunter ein Vulkanausbruch. Dann werden Freundschaft und Zugehörigkeit überlebenswichtig. Alle Kräfte müssen gebündelt werden, um gemeinsam die Asche zu beseitigen, die Felder neu zu bestellen, die Häuser wieder aufzubauen. Ein unversehrtes Feld der Nachbarn kann mir selbst über meine verbrannte Ernte hinweghelfen. Wenn mit Lava und Asche überschüttete Häuser aufgegeben werden müssen, muss ich Unterschlupf in Nachbardörfern (neuerdings in Evakuierungslagern) finden können. Daher heißt es in dieser Not zusammenzufinden. Aber wie macht man das, wenn man jahrelange Streitigkeiten gepflegt hat, wie sie unter Nachbarn nur zu gerne üblich sind? Ein Treffen mit ritualisiertem Ablauf und eine Persönlichkeit, die es anleitet, können da sehr hilfreich sein. So versammeln sich bei Vulkanausbrüchen des Lewotobi laki-laki die Dorfältesten, die politischen Oberhäupter der Lokalgruppen sowie die traditionellen HeilerInnen ( ukun ) aller am Vulkan siedelnden Lokalgruppen, um gemeinsam die entsprechenden Kulthandlungen durchzuführen.

Der Stamm der Puka, die ersten Siedler in der Region, nennen sich selbst Bubu Beko, was soviel heißt wie „gewachsen oder entstanden aus der Erde“. Sie leben am Fuße des Lewotobi laki-laki. Als Grundbesitzer übernehmen sie die Leitung der Opferzeremonie, die tuba ile , „dem Berg Einhalt gebieten“ genannt wird. An dieser Zeremonie müssen alle benachbarten Klan-Gruppen ( suku ) teilnehmen. Insgesamt sind es sechs Gruppen. Da der Vulkan mit den Ahnen gleichgesetzt wird, handelt es sich vor allem um eine Kommunikation mit den Ahnengeistern, die durch die Opfergaben günstig gestimmt werden sollen. Als weiterer Grund für die Zeremonie werden von den Puka soziale Probleme genannt. Denn auch wenn es Konflikte oder Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Klan-Gruppen gibt, und früher häufig Krieg deswegen geführt wurde, muss die Zeremonie doch von allen Gruppen gemeinsam durchgeführt werden. Auf keinen Fall darf ein Klan fehlen. Bei häufig wiederkehrenden Ausbrüchen weist der Vulkan darauf hin, „dass es etwas gibt, was nicht in Ordnung ist“ ( ada sesuatu yang tidak beres ).

Wichtiger Bestandteil des Rituals sind verschiedene Opfergaben, wie ein kleiner Ziegenbock als Gabe an die Vorfahren (den Berg); ein großer Ziegenbock als gemeinsame Nahrung für alle Anwesenden, sowie ein Hühnerei, Baumwolle, ein roter Faden, ein Fischschwanz, Mais und Rohr der Rohrpalme.

Am Berghang des Lewotobi laki-laki gibt es zwei wichtige Opferplätze. Der erste Platz, semaren genannt, ist eine Höhle am Hang des Vulkans. Der zweite Platz, tuba ile genannt, liegt zirka 50 Meter tiefer; dort finden die zweite Opferung und das rituelle Essen statt.

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Opferplätze am Vulkan Lewotobi-laki-laki. Skizze: Nikolaus Sina Puka, Jan. 1998

Von den Dörfern kommend, versammeln sich alle Teilnehmer am Fuße des Vulkans. Hier wird das Tragen der Opfergaben organisiert. Wie anfangs erwähnt, müssen jeweils zwei Personen, die einer unterschiedlichen Lokalgruppe angehören, eine Opfergabe gemeinsam tragen. Die Zusammengehörigkeit aller Klan-Gruppen wird somit betont. An der Opferhöhle ( semaren ) angekommen, werden ein Ei, etwas Tabak, Arak und Betelnuss sowie fünf – entsprechend der Anzahl der Klan-Gruppen – Häufchen Reis und fünf Knäuel Baumwolle (=Rauchwolke aus dem Vulkan), die ein Symbol für Gerechtigkeit darstellen, mit rotem Faden umwickelt und im Eingang der Höhle niedergelegt.

Der rote Faden hat vermutlich mehrere Bedeutungen: Zum einen symbolisiert er Blut als Fruchtbarkeitssymbol, zum anderen deutet der Faden die Verbindung der Klan-Gruppen an. Außerdem ist er als Produkt der Baumwolle ein Symbol für die Webtechnik, die eine Form der indonesischen Kulturentwicklung darstellt. Beide zusammen versinnbildlichen die Mahnung der Ahnen, der Erdgeister ( tanah ekan ) und der Himmelsgottheiten ( lera wulan ) Konflikte zu beseitigen und Gerechtigkeit und Frieden walten zu lassen. Anschließend spricht der Suku-Älteste aus dem Klan der Puka im Dialekt von Lewolema ein Gebet. Daraufhin wird eine kleine Ziege mit bloßen Händen von zwei Männern zerrissen. Stücke von ihrer Lippe, dem Ohr und den Hufen werden an fünf verschiedenen Plätzen in der Höhle niedergelegt. Die Leber und die Lunge werden in ein Bambusrohr gefüllt und später auf dem unteren Zeremonieplatz gekocht und dann im traditionellen Zeremonialhaus ( korke ) aufbewahrt.

Das Zerreißen der Opferziege ist hierbei von besonderer Bedeutung. Zum einen muss die Ziege als „das Geschenk an die Ahnen rein ( murni ) und aufrichtig ( polos)) sein“. Daher ist es streng verboten, Messer oder sonstige Gegenstände zum Töten der Ziege zu verwenden. Da es sich zum anderen um ein Ritual zur Konfliktbewältigung handelt, dürfen Messer, die mit Gewalt assoziiert werden, nicht verwendet werden. Nachdem das Ritual an der Opferhöhle ([k:semaren ) beendet ist, gehen alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen zurück zum zweiten Opferplatz ( tuba ile ). Auf dem Rückweg ist es als eine Geste der Ehrerweisung ( untuk menghormati ) nicht erlaubt, sich zu semaren umzudrehen, weil es sich um einen heiligen Platz ( tempat kudus ) handelt. Marga Puka, die Anführerin oder der Anführer, verlässt als letzte den Opferplatz.

Am zweiten Opferplatz ( tuba ile ) zerbricht die oder der Stammesälteste (aus dem Stamm der Puka) ein Hühnerei. Erneut werden Baumwollknäuel mit rotem Faden und Reis, entsprechend der Anzahl der Klan-Gruppen sowie Palmbranntwein ( moke ) auf einen flachen Stein gelegt. Anschließend spricht der Adat-Älteste noch einmal dasselbe Gebet in bahasa adat (Dialekt von Lewolema). Zum Abschluss der Opferzeremonie wird eine große Ziege geschlachtet, gekocht und dann von allen Anwesenden verspeist, wobei keine Reste übrig bleiben dürfen. Den Kiefer der Ziege erhält der Stamm der Puka als Veranstalter der Adat-Zeremonie, während der Schädel aufgeteilt wird: Den rechten Teil des Schädels erhält der Klan Wolor, den linken Teil erhält der Klan Tapun. Symbolisch wird hiermit erneut die Gemeinschaft der Klane und die Vormachtstellung der Puka betont.

Zum Abschluss der Zeremonie muss eine eiserne Lanze in den Opferplatz ( tuba ile ) gesteckt werden. Diese rituelle Handlung wird pole ua-weta genannt, was soviel bedeutet wie „Mais pflanzen als Grenze oder Zaun“ und „Eisenstab als Stütze oder Halt“. Durch diese kraftgeladene Lanze soll verhindert werden, dass durch den Vulkanausbruch die Felder zerstört werden. Zugleich soll die Fruchtbarkeit des Lavabodens rund um den Lewotobi-Vulkan erhalten bleiben.

Lewotobi perempuan, „Die Frau“ des Lewotobi laki-lakis, ist zuletzt 1921 und 1935 ausgebrochen. An den Ausbruch von 1935 erinnern sich im Jahre 1998 noch einige der Ältesten. Er dauerte acht Tage und acht Nächte an. Es wurde das gleiche Opferritual wie es am Lewotobi laki-laki üblich ist, durchgeführt und vom Klan der Puka angeleitet. Als Opfergaben wurden ein weißes Wildhuhn, air buah tuak (weißer gegorener Palmwein) sowie Fischschwänze von Sardinen geopfert.

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Fußabdrücke einer Frau in der Lava vom Ausbruch des Lewotobi perempuan im Jahre 1935. Foto: U. Frömming

Das Dorfoberhaupt von Nuri und einige Bewohner führten mich in den Wald, wo Eukalyptusbäume wachsen. Dort befinden sich - in Lava verewigt - die Fußabdrücke einer Frau Namens Jedo, die vor der Lava davon gelaufen ist. Die Fußspuren zeigen aber in Richtung des Berges. Weil sie ihren ikat (Wickelrock) vergaß, den sie benötigte um an dem Opferritual teilzunehmen, lief sie nochmals zurück zu ihrem Haus am Fuße des Berges, um ihn zu holen.

Dank an: Nikolaus Sina Puka, Rufus Daram Tobi, Michael Dare Wolor, und Paulus Willem Bolerg (Duang, Boru und Hokeng). Hilfe bei der Übersetzung aus dem Lamaholot-Dialekt ins Indonesische: Michael Dare Wolor, Rm. Paulus Wolor, Karl-Heinz Kohl

Weitere Veröffentlichungen zu diesem Thema von Urte Undine Frömming
2006: Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung. Frankfurt am Main: Campus Verlag
2005: Der Zwang zum Geständnis. Friedensrituale und Mythologie im Kontext von Naturkatastrophen auf Flores (Ostindonesien). In: Anthropos 100, 2005: 379-388
2001: Volcanoes: Symbolic Places of Resistance. Political Appropriation of Nature in Flores, Indonesia. In: Wessel, Ingrid; Wimhöfer, Georgia (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg: Abera

Weiterführende Literatur
Kohl, Karl-Heinz (1996): „A Union of Opposites: The Cosmological Meaning of Sacrifice in East Flores Lamaholot Culture“, in: Howell, Signe (ed.): For the Sake of Our Future: Sacrificing in Eastern Indonesia. Leiden: CNWS, Publications No. 42. S. 133-147
Pampus, Karl Heinz (1999): Koda Kiwa - Dreisprachiges Wörterbuch des Lamaholot (Dialekt von Lewolema). Aufgezeichnet 1994-98 im Dorf Belogili-Balukhering, Ostflores, Provinz Nusa Tenggara Timur Lamaholot – Indonesisch – Deutsch

Zur Autorin
Dr. Urte Undine Frömming ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin.

Frömming Flores 1
Flores, Indonesien. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008