GÄSTEEMPFANG IM NÖRDLICHEN JEMEN

Ein Übergangsritual

Von Ulrike Stohrer

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Die Sirah-Prozession. Foto: U. Stohrer

Ritualen liegen zumeist allgemeine menschliche Erfahrungen zugrunde wie Geburt, Hochzeit und Tod oder der Wechsel der Jahreszeiten. Rituale begleiten solche kritische Situationen und sorgen dafür, dass das Individuum sicher von einem Status in den anderen gelangt (etwa vom Kind zum Erwachsenen oder vom Ledigen zum Verheirateten), ohne dass dabei die Gesellschaft als Ganze Schaden nimmt. Daher haben viele Rituale des Übergangs weltweit eine einheitliche Struktur. Hochreligionen wie Christentum oder Islam sind hier nicht so stark prägend, ja häufig werden solche Rituale kaum noch bewußt als magisch-religiöse Handlungen wahrgenommen. Im Folgenden wird ein eher profanes Ritual vorgestellt, das sowohl konkret räumlich als auch sozial einen Übergang markiert: Das Verlassen des eigenen Territoriums und der Kontakt mit Fremden. Grenzen sind - sichtbar oder unsichtbar – allgegenwärtig: Unsere Wohnung, unsere Straße, unser Stadtviertel sind uns vertraut. Hier fühlen wir uns sicher. Verlassen wir jedoch unsere vertraute Umgebung und unternehmen eine weitere Reise, verlieren wir die Orientierung und fühlen uns unsicher. Umgekehrt ist auch der Empfang fremder Gäste - sei es eine große Familienfeier oder ein Staatsbesuch – stets formalisiert, vom roten Teppich bis zum Festbankett. Reisen und der Kontakt mit Fremden sind Übergänge, die ein Konfliktpotenzial bergen und daher häufig von Ritualen begleitet werden, die den Reisenden ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und Konflikte vermeiden helfen.

Auch in den ländlichen Bergregionen des Jemen ist das Reisen und der Empfang offizieller Gäste, zum Beispiel Stammesdelegationen anlässlich von Vertragsverhandlungen zwischen zwei Stämmen, durch ein Zeremoniell geregelt, das sich in drei Komplexe gliedert: die Reise als Prozession ( sirah ), das Aufeinandertreffen der Gäste und Gastgeber, also den eigentlichen Empfang ( istiqbal ) und die offizielle, öffentliche abendliche Geselligkeit ( samrah ).

Die Prozession ( sirah )
Die Delegation, die ihr Territorium verlässt, zieht in einer sirah (= Gang, Lauf) genannten Prozession zum Haus des Scheichs, der die Verhandlungen leitet. In gleicher Weise gehen der gastgebende Scheich und seine Gefolgsleute den Gästen zur Begrüßung bis zum Ortseingang oder der Territoriumsgrenze entgegen. Angeführt wird jede Gruppe von zwei Musikern, die die Zeremonialpauken marfa und tasah spielen. Diese Pauken gelten im Jemen nicht als Musikinstrumente, sondern als Kommunikationsmittel, deren verschiedene Rhythmen soziale Ereignisse ankündigen und die Dorfbewohner zusammenrufen, ähnlich wie unsere Kirchenglocken oder Sirenen. Während die Pauken einen speziellen Prozessionsrhythmus spielen, laufen die Prozessionsteilnehmer in lockerer Formation hinter den Paukisten her und singen dabei Verse der profanen Poesiegattung Zamil, die Gruppenwerte wie Kooperation und Gastfreundschaft, aber auch ihre Bereitschaft zur Verteidigung bei Bedrohung ausdrücken. Die Männer laufen in ihrem individuellen Schritt, es ist kein formalisierter Marsch. Auch der Gesang ist nicht auf den Paukenrhythmus abgestimmt. Nach einer Weile hält die Gruppe an und der Gesang verstummt. Die beiden Pauken spielen nun einen anderen Rhythmus und die Männer formieren sich zu einer Performance, die nur in diesem rituellen Kontext stattfindet und nicht mit dem arabischen Begriff für Tanz ( raqs ) bezeichnet wird. Diese rituelle Gruppenaktivität mit dem Namen bar'a besteht aus vier Teilen, die langsam und formalisiert beginnen und dann immer schneller und komplexer werden. Der älteste Teilnehmer leitet die Performance. Die Teilnehmer haben keinen Körperkontakt untereinander. Nach und nach scheiden immer mehr Teilnehmer aus, bis zum Schluss die beiden virtuosesten übrig bleiben und ein dramatisches pantomimisches Duett ausführen. Während der gesamten sirah -Prozession wechseln sich je nach der Stimmung der Teilnehmer bar'a und zamil immer wieder ab. So vermittelt das Ritual den Reisenden ein Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit ohne ihre Individualität aufzuheben.

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Bar'a vor den Gastgebern. Foto: U. Stohrer

Das Empfangszeremoniell ( istiqbal )
Am Ortseingang treffen die beiden Prozessionen der Gastgeber und der Gäste aufeinander. Normalerweise sind die Gastgeber zuerst da und erwarten die Gäste. Treffen jedoch die Gäste zuerst ein, so müssen sie an der Grenze warten und sich durch die Paukenrhythmen bemerkbar machen, auf die die Gastgeber antworten. Es erfolgt nun eine formalisierte und schrittweise Kontaktaufnahme: Die Gastgeber stellen sich in einer Reihe nebeneinander auf. Ebenso formieren sich die Gäste und gehen langsam auf die Gastgeber zu. Die Pauken stimmen den Empfangsrhythmus an und aus jeder Gruppe tritt der Wortführer vor. Diese beiden Männer begrüßen einander in einer förmlichen Wechselrede, die sowohl religiöse Segensformeln und den islamischen Gruß al-salamu 'alaikum (der Freide sei mit euch) als auch weitere rhetorische Wendungen beinhaltet, die die friedliche Absicht der beiden Gruppen und gegenseitigen Respekt bekunden. Nach dieser förmlichen Begrüßung begrüßen alle Teilnehmer einander individuell mit Handschlag. Nach dem verbalen Grußaustausch beginnen die Gastgeber mit einem bar'a . Haben die Gäste die selbe bar'a –Version, können sie sich in den Kreis einreihen. Haben sie eine eigene lokale Version, so führen sie diese entweder gleichzeitig oder nach den Gastgebern aus. So wird die verbale Begrüßung körperlich bekräftigt und im wahresten Sinne des Wortes der erste Schritt zur Integration der Gäste getan. Nun gehen alle gemeinsam in einer sirah -Prozession in den Ort hinein zum Haus des Scheichs.

Anders als in manchen nordarabischen Ländern (etwa Syrien oder Irak) gibt es im Jemen keine separaten Gästehäuser, sondern die Gäste werden im Haus des Scheichs beherbergt, das zu diesem Anlass ein öffentlicher Raum wird. Beim Eintritt in das Haus vollziehen die Gäste an der Türschwelle Übergangs- und Reinigungsriten: Sie legen die Waffen, Schuhe und das Jackett ab, zu manchen Gelegenheiten wird auf der Schwelle auch ein Tier geopfert. Sind die Gäste dann eingetreten, werden sie gereinigt durch Händewaschen sowie Beweihräuchern oder Parfümieren. Das nun folgende Gastmahl schließt die Angliederung der Gäste an die Gastgebergruppe ab und definiert auch rechtlich ihren Gaststatus. Je nach dem Anlass ist das Gastmahl mehr oder weniger reichhaltig. Die gereichten Speisen signalisieren dem Gast auch, für wie lange der Aufenthalt gewährt wird (in der Regel drei Tage). Nachdem so die rechtliche Situation der Gäste gesichert ist, kann der gesellige Teil des Empfangs folgen.

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Die Samrah im Diwan. Foto: U. Stohrer

Die abendliche Geselligkeit ( samrah )
Am Abend kündigt ein spezieller Einladungsrhythmus der Pauken die gesellige Zusammenkunft samrah (Nachtwache, Soirée) an. Dieser Rhythmus erklingt auf dem Dach des Hauses und definiert das Gebäude als öffentlichen Raum. Jeder Mann, der die Pauken hört, kann teilnehmen, auch wenn er nicht zu den geladenen Gästen gehört. An einer samrah soll möglichst ein Vertreter eines jeden Haushaltes des Ortes teilnehmen. So präsentiert sich die Gemeinde den Gästen als Einheit. Durch ihre gesellige Atmosphäre ermöglicht die Samrah aber auch individuelle Kontakte zwischen Gastgebern und Gästen. Sie findet im größten und repräsentativsten Raum des Hauses, dem diwan , statt. Dort herrscht - ähnlich wie bei uns an einer festlichen Tafel - eine Sitzordnung. Die Gäste sitzen „oben“ an der am weitesten von der Tür entfernten Schmalseite des Raumes. An den Wänden entlang zu ihrer Rechten und Linken plazieren sich dann entsprechend ihrem sozialen Rang und Alter alle übrigen Teilnehmer bis schließlich „unten“ diejenigen mit dem niedrigsten Alter und Sozialstatus sitzen. Wenn der Gastgeber den Versammlungsraum betritt, spielen die Pauken an der Tür einen speziellen Rhythmus, der den Beginn der samrah markiert. Im Laufe des Abends werden dann gleichzeitig oder abwechselnd verschiede Poesieformen, Gesänge und Tänze ausgeführt. Es beginnt zunächst mit formalisierten und kollektiven Gattungen wie zamil und bar'a , später folgen die mehr spielerischen und individuellen wie der satirische Dichterwettstreit balah und gelegentlich auch die Tanzform raqs . So werden die Gäste nun auch auf individueller Ebene in die Gastgebergruppe integriert. Die samrah schließt das Empfangszeremoniell ab und ist gleichzeitig der Beginn der eigentlichen Zusammenkunft. Nun sind die Gäste neutralisiert, die Teilnehmerschaft ist homogen und der friedliche Ablauf der folgenden Verhandlungen ist gewährleistet.

Das ausgefeilte Empfangszeremoniell im jemenitischen Hochland dient der Entschärfung von Kontaktsituationen zwischen sozialen Gruppen und damit der Konfliktvermeidung und der Integration Fremder. Charakteristisch für die jemenitische Praxis ist das Nebeneinander verschiedener Gattungen wie Paukenrhythmus, Poesie, Gesang und Tanz, das alle Phasen des Rituals durchzieht. Es spiegelt die sozialen Werte der Gesellschaft: Das Verhältnis der Individuen wie auch der lokalen Gruppen zueinander beruht auf dem Bewahren ihrer Individualität und Autonomie, während sie gleichzeitig kooperieren und in Allianz miteinander verbunden sind. So integriert das Ritual soziale Gruppen ohne ihre differenzierenden Aspekte zu vernachlässigen und kann daher auch flexibel auf sozialen Wandel in der Gesellschaft reagieren.

Weiterführende Literatur
Caton, Steven (1986): Salam tahiyah: Greetings from the Highlands of Yemen. In: American Ethnologist 13 (2) 1986. S. 290-308
Firth, Raymond (1973): Bodily Symbols of Greeting and Parting. In: Raymond Firth: Symbols public and private. Oxford. S. 299-327
Gingrich, André (1986): ‘Ish wa milh: Brot und Salz. Vom Gastmahl bei den Hawlan Bin ‘Amir im Jemen. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Bd.116. S. 41-69
Van Gennep, Arnold (1986): Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt/Main

Zur Autorin
Dr. Ulrike Stohrer, Institut für Historische Ethnologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, Feldforschung im Jemen und in Syrien, Publikation: Ulrike Stohrer (2007): Bar'a: Rituelle Performance und Identität im jemenitischen Hochland, in: Marianne Bröcker (Hg.). Berichte aus dem ICTM-Nationalkomitee Deutschland (UNESCO), Bd. XIV-XV, Bamberg: Universitätsbibliothek. S. 147-158

Stohrer Jemen
Jemen. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008