GERETTET!? – UND WAS NUN?

Navajo Zeremoniallieder der 1930er-Jahre zwischen dynamischer Tradition, Kulturerbepolitik und Political Correctness

Von Rainer Hatoum

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Hosteen Klah. Undatiertes Bild, ohne Quellenangaben, 1964 in Newcomb erschienen, wohl einige Jahre vor Klahs Tod, 1937, aufgenommen.

Der Klimawandel, die Tsunamis, all die Katastrophen der Welt seien Ausdruck eines universalen Ungleichgewichts und maßgeblich darauf zurückzuführen, dass den „Holy People“ nicht der entsprechende Respekt gezollt würde – so der Präsident der Navajo Medicine Men’s Association, einer Vereinigung von Zeremonialexperten der in New Mexico und Arizona lebenden „Tribal Nation“. Seine Worte waren Teil eines jener Gespräche, die ich im November 2007 mit dem Ziel führte, um gemeinsame Wege im Umgang mit Zeremonialmaterial der Navajo in deutschen Museen auszuloten. Ein Hauptgesprächsthema war eine rund 1300 Wachswalzen umfassende Sammlung von Heilgesängen, die im Berliner Phonogramm-Archiv aufbewahrt wird. Diese Aufnahmen sollten nach einer wissenschaftlichen Bearbeitung der Source Community der Navajo wieder zur Verfügung gestellt werden. Das Bestreben, diese Aufnahmen der Source Community der Navajo wieder zur Verfügung zu stellen, hinsichtlich einer Optimierung des Umgangs einen besseren inhaltlichen Überblick zu erlangen und Vorschläge von Navajo-Zeremonialexperten einzuholen sowie einige der theoretischen Implikationen der Problematik näher zu beleuchten – sind Aspekte meines von der VolkswagenStiftung finanzierten Forschungsprojekts.

Eine Kulturerbe-Biographie
Bei den 1300 Wachswalzen handelt es sich um Aufnahmen verschiedener Heilgesänge des bekannten Zeremonialspezialisten Hosteen Klah, die in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren aufgenommen wurden. Aufgrund der kurzen Lebenserwartung der frühen Walzenaufnahmen wurden diese nach Berlin geschickt, um dort von ihnen kupferne Negativkopien herzustellen. Auf der Grundlage von Vereinbahrungen der beteiligten Parteien verblieben sie dort als Eigentum des Phonogramm-Archivs, das heute Teil des Ethnologischen Museums zu Berlin ist. Im Gegenzug erhielten einige amerikanische Institutionen Kopien. Da die Walzensammlungen des Archivs weltweit zu den größten ihrer Art gehört, wurde es in die UNESCO-Liste “Memory of the World” eingetragen und erhielt 1999 den Status des „Weltdokumentenerbes“. So wurden die Lieder von Hosteen Klah Teil des geschützten „Kulturerbes der Menschheit“. Die Vergabe dieses Status’ hatte wiederum einen Anstieg des öffentlichen Interesses zur Folge und war ein entscheidender Impuls für das Vorantreiben des Digitalisierungsprozesses der Sammlungen. Eine der Maßgaben war die Gesänge im Rahmen der CD-Reihe des Archivs einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.

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R. Hatoum (l.) und Tontechniker Albrecht Wiedmann bei der Auswahl der zu digitalisierenden Galvanos (kupferne Negative der ursprünglichen Walzen) und bereits hergestellten Wachskopien der Klah-Sammlung. Foto: M. Fuhrmann, 2007

Hieran knüpft zunächst die Zielsetzung an, eine digitale Version der Klah-Sammlung in bestmöglicher Qualität zu produzieren. Dazu sollte der Versuch unternommen werden, die bislang in keiner Weise in das Projekt involvierten Navajo mit einzubeziehen. Bereits die erste Zielsetzung ist nicht unproblematisch, da die Klah-Sammlung in Berlin Lücken und qualitative Schwächen aufweist. In dem Bestreben, eine möglichst gute und vollständige digitale Masterversion der Sammlung zu rekonstruieren, wurden daher zunächst jene amerikanischen Institutionen kontaktiert, die einst Kopien erhielten. Da auch deren Sammlungen inzwischen Verluste, Schaden und Unordnung erfahren haben, stellt sich die Ausgangslage wie ein großes Puzzle dar. Allerdings stößt der Gedanke des Zusammenführens der vorhandenen, weit verstreuten Ressourcen bislang auf wenig Gegenliebe. Besagte Institutionen verweigern mittlerweile inhaltlich „heiklen“ Projekten die Unterstützung, wenn sie nicht die offizielle Genehmigungen der Navajo Source Communities haben. Das Erlangen einer Genehmigung stellt sich jedoch als grundlegendes Problem dar. So haben die Bemühungen um eine offizielle Genehmigung der digitalen Rückführung der Klah-Sammlung in Verbindung mit Konsultationen bis zum mittlerweile erteilten positiven Bescheid insgesamt über anderthalb Jahre in Anspruch genommen. Dreh- und Angelpunkt der Problematik sind die konkreten Inhalte der Klah-Sammlung: „Zeremoniallieder“. Über den symbolträchtigen Terminus „sacred“ erhält der Umgang mit den Aufnahmen im interkulturellen Diskurs mit den USA eine gewisse Brisanz. Es ist diese politische Dimension der Klah-Sammlung, die ein direktes Einbeziehen der Navajo in zukünftige Belange der Sammlung umso wünschenswerter macht.

Auf dem Hintergrund des unterbreiteten Kooperationsangebots, das aus deutscher Perspektive Befindlichkeiten der Navajo deutlichen Vorzug einräumte, war die Bandbreite der Reaktionen der Navajo letztlich doch etwas überraschend: Neben Begeisterung und Interesse wurden auch Argwohn, ausgesprochenes Desinteresse, vehemente Ablehnung, sowie Diebstahlvorwürfe gepaart mit Rückgabeforderungen geäußert. Teilweise sind diese negativen Reaktionen durch den Umstand zu erklären, dass „die Navajo“ lange Zeit ein äußerst beliebter „Gegenstand“ ethnologischer Forschung waren. Zudem wurde deutlich, dass eine Neueinbettung des „geretteten“ Materials auch aus anderen Gründen nicht ohne weiteres möglich sein würde: Weite Teile der Klah-Sammlung wurden aus „Navajo-Perspektive“ nicht nur im Hinblick auf ihre Nutzbarkeit als „wertlos“ betrachtet, sondern von einer Reihe von Gesprächspartnern als geradezu „gefährlich“.

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Musikethnologe Tobias Weber beim Vorbereiten eines Galvanos vor dem Gießen einer Kopie. Foto: M. Fuhrmann, 2007

Wenn Logik auf Logik trifft
Bedenkt man, dass der Glaube an die Macht von Liedern mitunter so stark ist, dass sie auch schon mal über das Telefon gesungen als Erste Hilfe zum Einsatz kommen, kann man die Gründe solcher Reaktionen erahnen. Für strenggläubige Navajo handelt es sich bei den Klah-Aufnahmen um ein Gut, das überhaupt nicht existieren dürfte und mit dem man in dieser vollkommen unkontrollierten Form nichts zu tun haben möchte. Für diese Gruppe von Gesprächspartnern ist „Wissen“ im wahrsten Sinne des Wortes „Macht“. Als Manifestation der Kräfte des Universums durchdringt dieses „Wissen“ zwar alle Bereiche des Lebens, sollte jedoch nicht auf Dauer eingefangen werden. Diese grundlegende Idee ist in allen Bereichen der traditionellen Kultur zu finden. Das Wissensverständnis der Ethnologie steht dem diametral entgegen: Gerade in der musealen Ethnologie dreht sich alles um den Gedanken des rettenden „Bewahrens“ materialisierter oder fixierter „Wissensformen“. Der im Rahmen des Projektes gesuchte Dialog führte somit zu einem Aufeinanderprallen zweier vollkommen inkompatibler Erkenntnistheorien.

Für Verwirrung auf beiden Seiten sorgt der eigentliche „Gegenstand“ der Verhandlungen: Offensichtlich hat sich der bis zu seinem Tod gläubige Ritualexperte Hosteen Klah dafür entschieden, Teile seines Wissens zu fixieren. Inwieweit er hierbei auf „entschärfende“ Mechanismen zurückgriff, ist nach wie vor ungeklärt und umstritten. Im Gegenüber der beiden inkompatiblen Gedankenwelten wird der inhärente Widerspruch des ethnologischen Anliegens besonders bewusst. Strebt man einerseits danach, „fremde“ Gedankenwelten aus indigener Perspektive möglichst akkurat zu erfassen, nimmt man andererseits oft in Kauf, dass eben diese Gedankenwelten offen missachtet werden. John Farellas Reflexionen aus seiner langjährigen Forschungstätigkeit unter den Navajo fassen diese Problematik in anschauliche Worte:
“ ... There are two different and opposed ideas – wisdom and control. And in their wisdom they sadly accepted what was inevitable; and in our desire to possess and hold, we understood nothing”. (Farella 1993:50) (Es existieren zwei unterschiedliche und in Opposition zueinander stehende Vorstellungen – Weisheit und Kontrolle. In ihrer Weisheit akzeptieren sie traurig, was unvermeidlich schien; während wir - in unserem Verlangen zu wissen und festzuhalten - nichts verstanden.)

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Tobias Weber während des Gießens einer neuen Walze. Foto: M. Fuhrmann, 2007

Diesen grundlegenden Überlegungen zum Trotz stellt sich vor dem Hintergrund, dass die Aufnahmen von Hosteen Klah nun einmal existieren und dem Umstand, dass sein „gerettetes“ Wissen bestenfalls in einem eingeschränkten Maße unter den heutigen Navajo Verwendung finden wird, die Frage, was hiermit geschehen soll. Nichts? Oder sollten wir den Forderungen einiger strenggläubiger Navajo nachgeben und diese zerstören? Wäre es besser, sie noch ein paar hundert Jahre im Depot versteckt schlummern zu lassen und zu warten, bis ein Umgang mit ihnen politisch weniger brisant scheint? Über den tatsächlichen dokumentarischen Aussagegehalt ethnologischer Sammlungen sollte man sich keine Illusionen machen. Der Wert ethnologischer Forschung kann nicht allein nach dem Grad der „Vollständigkeit“ ihrer Dokumentationsarbeit bemessen werden. Ob man nach der Aufarbeitung der Wachsrollen mit den Ritualgesängen tatsächlich Zeremonien abhalten oder damit zukünftige Generationen indigener Ritualspezialisten ausbilden kann, sollte nicht der Maßstab sein. Vielmehr bemisst sich ihr Wert anhand ihres relativen Erklärwerts im Rahmen der Entfaltung ethnologischer Spielart(en) menschlicher Erkenntnissuche. Dass ein solcher Weg durch „Interpretationsfehler“ gekennzeichnet sein muss, liegt in der Natur der Dinge. Dabei sind es gerade diese „Fehler“, die den besonderen Erkenntniswert ausmachen können.

Und was nun?
Dass hier von „relativen Wahrheiten“ die Rede ist, muss nicht betont werden. Die „perspektivische Problematik“, aufgrund derer es immer eine „andere“, „bessere“ und „involviertere“ Einschätzung geben wird, ist kein Charakteristikum der Ethnologie. Auch für die übrigen Wissenschaften gilt: Verändert man eine Variable, so erhält man ein anderes Ergebnis. Im Zeichen „intellektueller Dekolonisierung“ im Zuge der Postkolonialismus-Debatte ist jedoch gerade in der Ethnologie ein Prozess eingeleitet worden, in dem die Perspektivenfrage an bestimmte Akteure gebunden wird. An diese Überbetonung der so genannten „emischen“ Sichtweise knüpfen auch Tendenzen an, Erkenntnisfähigkeit, essentialistische Kulturbilder und an Blutquantumsgraden bemessene Identitätsvorstellungen zu vermengen. Bei allen Härten der Geschichte „indigener Minoritäten“ und allem Verständnis für ethnologische Bemühungen, vergangene Fehltritte (aus heutiger Perspektive) wieder gut machen zu wollen, dürfen Aussagen wie sinngemäß „Nur Navajo können die Navajo und ihre Kultur richtig verstehen und darstellen“, nicht ohne Widerspruch bleiben.

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Wie ist die Qualität der digitalisierten Aufnahme (Gerät zum Abspielen der Walze im Hintergrund)? Foto: M. Fuhrmann, 2007

Bezogen auf die Aufnahmen von Hosteen Klah vertrete ich daher die Meinung, dass durchaus aussagekräftige Einschätzungen von deutscher Seite aus zu einigen der verschiedenen Bedeutungsebenen der Sammlung getroffen werden können. Darüber hinaus würde ich es begrüßen – gegebenenfalls auch ohne der zweifellos bevorzugten offiziellen Zustimmung der heutigen Navajo und einer Zusammenarbeit mit ihnen -, wenn dieses wichtige Dokumentationsgut des „Kulturerbes der Menschheit“ mit einer eigenen CD in der Reihe des Archivs einer allgemeinen Öffentlichkeit vorgestellt würde. Dass Hosteen Klah einige „seiner“ Lieder freiwillig und ohne (überlieferte) Auflagen für die Nachwelt aufgezeichnet hat, steht außer Frage. Es war sein Recht und er tat es offenkundig in einer aus seiner Sicht, auch für ihn und seine Familie, „sicheren“ Form. Da seine Sammlung inhaltlich weiter aufgefächert werden kann – sie enthält Lieder von Segnungszeremonien, von heute noch praktizierten Heilzeremonien und von solchen, die heute nicht mehr durchgeführt werden -, können ihre Teilbestände Kategorien unterschiedlicher Grade an „Sensibilität“ zugeordnet werden. Unter Berücksichtigung dieser versteht sich, dass eine etwaige Liedauswahl den Bereich der immer noch praktizierten Heilrituale aussparen und sich auf die beiden übrigen konzentrieren würde. Erleichtert wird diese Entscheidung durch die Tatsache, dass zumindest einige Lieder der Segnungszeremonien heute manchmal im Schulunterricht gelehrt werden. Darüber hinaus sind gerade auch die Lieder der heute inaktiven Heilrituale von Hosteen Klah direkt im Bewusstsein aufgenommen worden, im Verschwinden begriffenes „Kulturerbe“ festzuhalten – war er doch als der letzte praktizierende Experte für einige von ihnen bekannt.

Somit schließe ich mit der Feststellung, dass man, wenn schon das keineswegs unproblematische Konzept des „Kulturerbes der Menschheit“ einen solch prominenten Stellenwert in der nationalen und internationalen Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts einnehmen soll, auch die brisanten Aspekte dieser Idee nicht aussparen sollte. Die Lieder von Hosteen Klah könnten ein wichtiger Meilenstein dieses Weges sein.

Weiterführende Literatur
Farella, John (1993): The Wind In A Jar. Albuquerque
Frisbie, Charlotte J. (1987): Navajo Medicine Bundles or Jish. Acquisition, Transmission, and Disposition. Albuquerque: University of New Mexico Press
Hatoum, Rainer (2008): Eine Welt voller Heilkraft – Die „Mini-Religionen“ der Navajo. In Schallaburg Kulturbetriebsges. m.b.H. in Kooperation mit dem Museum für Völkerkunde, Wien und dem Kunsthistorischen Museum, Wien (Hg.); Schriftleiter Christian Feest: Indianer. Schallaburg Kulturbetriebsges. m.b.H, S. 175-187
Kluckhohn, Clyde; Wyman, Leland C. (1969): An introduction to Navaho chant practice, with an account of the behaviours observed in four chants. Memoirs, American Anthroplogical Association, No. 53 1940 . New York: Kraus Reprint
McAllester, David (1952): Texts of the Navajo Creation Chants. Cambridge: Peabody Museum, Harvard University
Newcomb, Franc J. (1964): Hosteen Klah: Navajo Medicine Man and Sand Painter. Oklahoma: Oklahoma University Press
Wyman, Leland (1983): Southwest Indian Drypainting. Albuquerque: University of New Mexico Press

Zum Autor
Dr. Rainer Hatoum, Ethnologe und Islamwissenschaftler. Derzeit Leiter eines von drei Teilprojekten des von der VolkswagenStiftung finanzierten Tandemprojekt „Vom Imperialmuseum zum Kommunikationszentrum?“, institutionell an der FU Berlin und dem Ethnologische Museum zu Berlin verankert.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008