NATION BUILDING IN NUNAVUT

Kulturelle Identität und politische Symbolik

Von Torsten Diesel

Mit der Gründung des neuen Territoriums Nunavut in Kanada vor neun Jahren haben Inuit der ostkanadischen Arktis einen regionalen und politischen Raum erhalten, in dem sie aufgrund demographischer Faktoren (sie stellen mit 85% die Bevölkerungsmehrheit der Region) weitestgehend über politische, gesellschaftliche und kulturelle Interessen bestimmen können. Da es in Nunavut neben Inuit verschiedener Stämme und sprachlicher Dialekte ebenso Angehörige anderer Ethnien (Euro-Kanadier, athapaskischsprachige Indianer) gibt, ergeben sich viele Spannungen zwischen den einzelnen Inuitgruppen und den unterschiedlichen Ethnien, vor allem um politische Partizipation, ökonomische Entwicklung und Kulturerhalt.

Grundsätzlich kann zwischen einer politischen und einer gesellschaftlichen Ebene unterschieden werden, auf der jeweils Konflikte um Macht, Status und politische Teilhabe ausgetragen werden. Die gesellschaftliche Ebene bezieht sich auf die individuellen Interessen der Einwohner Nunavuts und auf ihre Einbettung in die entsprechenden identitätsstiftenden Gruppen. Diese Gruppen bestehen in erster Linie aus Ethnien und regionale, sich sprachlich voneinander abgrenzende Einheiten. Die politische Ebene bezieht sich auf die Arbeit des Territorialparlamentes Nunavut und den Versuch, nach außen wie nach innen eine einheitliche kulturelle und somit auch politische Identität zu geben. Hierdurch sollen interne ethnische Konflikte beigelegt werden und das Territorium eine stabile Grundlage erhalten, um bei Verhandlungen mit anderen nationalen wie internationalen politischen Repräsentanten selbstbewusster auftreten zu können. Üblicherweise wir dieser gesellschaftliche und politische identifikatorische Prozess als "Nation-Building" bezeichnet.

Im Folgenden soll näher beschrieben werden, auf welche Art und Weise die politische Elite Nunavuts, die zum Teil noch persönlich in die Landrechtsverhandlungen um die Bildung des Territoriums involviert war, versucht, eine kollektive Identität aller Bewohner des Territoriums zu erreichen und zu bestimmen auf welcher kulturellen Basis dieses Selbstverständnis liegen soll. Dabei stützt sich der Autor vor allem auf eigene Daten, die er bei zwei Feldforschungsaufenthalten, 2004 und 2007 in Iqaluit, der Hauptstadt Nunavuts, gesammelt hat.

Politische Ebene
Im Bereich des Nation Building verfolgt die politische Elite Nunavuts ein monokulturelles Konzept. Das bedeutet, dass sich die identitätsstiftende Kultur an der der Inuit orientiert, genau genommen sogar an Kulturmerkmalen, die primär Baffin Island-Inuit betreffen. So verweist bereits der Abgeordneteneid der gesetzgebenden Versammlung von Nunavut auf einige indigen hergeleitete Grundprinzipien, denen im politischen Geschäft zu folgen sei (17 von 19 Parlamentariern MLAs sind Inuit und die beiden Weißen MLAs wohnen und arbeiten schon lange im Norden). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Ziel, traditionellem Inuitwissen, Inuit Qaujimajatuqangit (IQ), in Nunavut mehr Bedeutung zukommen zu lassen. Die Regierung versucht IQ an so vielen Stellen wie möglich zu etablieren und damit einen engen Bezug zwischen sich, der Inuitbevölkerung und der durch die Inuit geprägten Kulturgeschichte des Landes herzustellen.

Auffallend ist, dass Kulturförderung hauptsächlich im östlichsten Verwaltungsbezirk Nunavuts betrieben wird - wie etwa die geplante Errichtung eines neuen Museums, einer an der Inuitkultur orientierten Schule oder die Etablierung der ersten inuiteigenen Filmproduktionsfirma isuma productions. Die infrastrukturelle Entwicklung der Gebiete westlich der Hudson Bay und entlang der Nordwestpassage, sowie Interessen anderer Ethnien - zum Beispiel Euro-Kanadier oder Indianer - werden selten bei entsprechenden Projekten berücksichtigt. Da die Euro-Kanadier quantitativ und wirtschaftlich relativ stark in Nunavut vertreten sind, können sie durch eine entsprechende Lobbyarbeit ihre Belange einfordern. Die indianische Minderheit der Athapasken dagegen, die überwiegend im westlichen Teil Nunavuts lebt, hatte bisher keine Möglichkeit ihre eigene Sprache im Schulunterricht zu fördern oder ein Kulturzentrum zu unterhalten und so ihre spezifische Identität zu pflegen. Hierzu sollten allerdings auch die Bevölkerungsdimensionen beachtet werden. Genaue Zahlen über den Anteil der Athapasken in Nunavut konnte der Autor zwar nicht sammeln, doch ergeben die Angaben aus Interviews des Autors mit politischen Vertretern Westnunavuts und Einheimischen aus dieser Region eine Schätzung von nicht mehr als 100 Athapasken, die dauerhaft in den westlichen Gemeinden des Territoriums wohnen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 30.000 Einwohnern, ist es entsprechend aufwendig eine solch kleine Minderheit mit denselben Möglichkeiten zur Kulturförderung auszustatten wie die etwa 27.000 Inuit des Territoriums.

Neben konkreten politischen Maßnahmen zur Förderung bestimmter kultureller Ausprägungen in Nunavut lässt sich im öffentlichen und politischen Raum eine identitätsstiftende Symbolik mit Bezug zur Inuitkultur finden. Der Haupteingang des Parlamentsgebäudes symbolisiert zum Beispiel einen Hundeschlitten und die Sektionen der Außenwand stehen für Schneeblöcke wie sie beim Iglubau verwendet werden (s. Abb 1).

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(Abb. 1) Rückansicht des Parlamentsgebäudes von Nunavut in Iqaluit. Foto T. Diesel

Die Sitzmöbel (s. Abb.3) des Parlamentssaales sind mit Seehundfellen überzogen, was auf die Tradition der Inuit als Seesäugerjäger verweisen soll. Auch Amtsstab (s. Abb.2) und Landeswappen sind über und über mit Symbolen der Inuitkultur versehen. So wurde der Amtsstab von einem lokalen Künstler ausschließlich aus einheimischen Materialien wie Narwalstoßzahn, Elfenbein und Mineralien aus Nunavut hergestellt. Verziert ist er mit Seehundminiaturen, die die drei klassischen Seehundtypen darstellen, die in dem Territorium gejagt werden. Auf dem Stab sitzt eine Krone, welche vier aneinander geschmolzene Haubentaucher, die zu den Wappentieren Nunavuts gehören, darstellt. Aufbewahrt wird er in der Eingangshalle des Parlamentsgebäudes, wo er von einer Inuitfamilie, vier Figuren aus Speckstein, auf Schultern und Händen getragen wird.

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(Abb. 2) Amtsstab im Innern des Parlamentsgebäudes. Foto: T. Diesel

Narwal und Karibu auf dem Wappen (s. Abb. 3) repräsentieren die einheimische Fauna, die die Subsistenzgrundlage der Inuit war und zum Teil noch immer ist. Der Schriftzug am unteren Rand des Wappens heißt in etwa „Unser Land ist unsere Stärke“. Doch auch die restlichen auf dem Wappen abgebildeten Attribute verweisen auf die Inuittradition. Im Zentrum sind ein Inuksuk und ein Tranlampe dargestellt, die sich auf das mobile Leben und den Haushalt der Inuit beziehen. Gekrönt wird das Wappen durch eine Fellmützennachbildung, deren Hauptteil aus einer Igluminiatur geformt wird. Die darauf sitzende Quaste schließlich zeigt die britische Königskrone, was für die Mitgliedschaft Nunavuts beziehungsweise Kanadas im britischen Commonwealth steht.

Genauso verhält es sich mit der Flagge des Territoriums. In der Mitte ist ein Inuksuk abgebildet, der für eben diese Steinfiguren steht, die man häufig in der Tundra als Wegweiser finden kann. In der rechten oberen Ecke befindet sich außerdem noch ein Stern als Abbild des Polarsterns. Er symbolisiert die Weisheit und die Führungsqualitäten der Elders .

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(Abb. 3) Parlamentssaal: Drei Stühle für MLAs, erhöhter Sitz des Premierministers, darüber das Wappen Nunavuts, links Territorium-Flagge. Foto: T. Diesel

Auf der politischen Ebene lassen sich trotz der Fokussierung auf die Inuitkultur (oder auf das, was die heutige Elite darunter als zentrales identifikatorisches Element versteht) auch multiethnische Ansätze finden. Beispielsweise existieren in Nunavut vier Amtssprachen, denen sowohl bei politischen Debatten als auch bei den anschließenden Transkribten genüge getan werden muss. Die vier Sprachen sind Englisch, Französisch, Inuktitut (der Inuitdialekt der Osthälfte Nunavuts) und der entsprechende Dialekt der Westhälfte, Inuinnaqtun. Die Beschilderung von Straßen, öffentlichen Gebäuden und Verkehrsschildern ist meist zweisprachig gehalten: Englisch und Inuktitut-Silbenschrift, wobei dem Autor nicht bekannt ist, wie die Beschilderung in Westnunavut aussieht.

Die vorgestellten Beispiele beziehen sich auf den politischen Bereich, der nicht zwingend die private Meinung vieler Inuks in Nunavut wiedergibt. Viel mehr stehen sie für den Versuch der politischen Führung entweder einer kollektiven Identität des Territoriums Ausdruck zu verleihen oder eine entsprechende kollektive Identität über gemeinschaftsstiftende Symbole zu formen. Die Gemeinschaft, die den kulturellen Hintergrund, aus dem diese Symbole kommen, lieferte, ist von den Politikern bewusst gewählt worden. Sie steht im Zusammenhang mit dem politischen Interesse an einer starken Gruppe, die sich Nunavut verbunden fühlt. Wie auch Légaré beschreibt, richten sich identitätsstiftende Symbole nach dem Ziel, das mit ihrer Verwendung verfolgt wird. Im Falle von Nunavut wäre dies, die traditionelle Kultur der Inuit als wesentlich für die Gemeinschaft sichtbar zu machen. Nach außen hin sollen die zentralen politischen Aussagen verdeutlicht werden, also die Forderung nach indigener Selbstverwaltung und einem Rechtsanspruch auf das Gebiet der Ostarktis.

Um all diese Anforderungen an die Symbole erfüllen zu können, bedient man sich in der Regel Klischees, die sowohl von der Außenwelt als auch von der einheimischen Bevölkerung als typisch akzeptiert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Inuksuk, der von seiner ursprünglichen Bedeutung als Landmarker in der Tundra zum zentralen Symbol für Inuit und Inuitkultur geworden ist. Er wird in Nunavut als politisches Symbol nicht nur in der Flagge oder dem Landeswappen verwendet, sondern taucht genauso in Emblemen vieler Inuit NGOs auf. Ja sogar eine weiterführende Schule in Iqaluit, die Inuksuk High School, trägt dies Symbol in ihrem offiziellen Namen.

Bisher konnte sich noch keine kollektive Identität in Nunavut konsolidieren wie die anhaltenden Konflikte zeigen, die besonders auf der Identitätsebene sichtbar werden. Dazu gehören Proteste aus Westnunavut gegen dessen politische und wirtschaftliche Marginalisierung, gewaltsame Auseinandersetzungen unter Bewohnern verschiedener Landesteile Nunavuts oder öffentliche Diskriminierung von Inuit, die ihre indigene Sprache nicht sprechen können. Insofern bleibt abzuwarten ob sich die unterschiedlichen Ethnien und kulturellen Gruppen zu einer Einheit zusammen finden können oder ob Nunavut eine Balkanisierung droht, sprich die Zersplitterung in lokale oder regionale politische und kulturelle Einheiten, die nur unter größten Mühen eine gemeinsame Diskussionsbasis finden können. Wesentliche politische Ämter haben zurzeit Politiker aus Ostnunavut inne und unterstützen in ihrer Arbeit tendenziell die Dominanz der Baffin Region gegenüber Rest-Nunavut. Das trägt eher zu einer Verhärtung der Fronten statt zu einer fruchtbaren Diskussion über multiple Identitätsmuster und Kulturerhalt in Nunavut bei.

Weiterführende Literatur
Cameron, K.; White, G. (1995): Northern Governments in Transition: Political and Constitutional development in the Yukon, Nunavut, and the Western Northwest Territories. Montréal
Dahl, J.; Hicks, J./ Jull. P. (2000): Inuit regain control on their lands and lives, iwgia document no. 102. Kopenhagn
Diesel, T. (2004): Kanadas Norden im Wandel: Indigene Selbstbestimmung am Beispiel Nunavut. Frankfurt/M. (Magisterarbeit)
Légaré, A. (2001): The spacial and symbolic construction of Nunavut: towards the emergence of a regional collective identity in: Études Inuit Studies, Identités iniut, Inuit identities, Vol. 25 1-2. Montréal
Rocher F.; Smith, M. (Hrsg.) (2003): New Trends in Canadian Federalism, 2nd Edition. Canada

Zum Autor
Torsten Diesel, M.A. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Feldforschung in Nunavut.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008