RAMLILA IM GROSSFORMAT

Zum Ritualtheater im Kontext einer indischen Megastadt

Von Beatrix Hauser

Hauser Ramlila 1
Papier-Effigie von Ravana,
Delhi 2006. Foto: B. Hauser

Keiner weiß genau, wie viele Bühnen es in Delhi gibt, auf denen die Ramlila inszeniert wird. Glaubt man der indischen Tagespresse, sollen es im Jahr 2006 zwischen 250 und 800 Spielorte gewesen sein, an denen das Epos des Gottkönigs Ram zu sehen war. Jedes Jahr - über zehn Abende verteilt - wird so an die wesentlichen Ereignisse im legendären Leben Rams erinnert. Die Ramlila-Aufführungen enden zeitgleich mit der spektakulären Vernichtung des Dämonenkönigs Ravana, der in Gestalt riesiger Papierfiguren verbrannt wird, begleitet von einem ohrenbetäubenden Stakkato an Knallkörpern.

Aufwändige Rituale, religiöse Spiele und Prozessionen stehen immer wieder im Mittelpunkt ethnologischer Forschung. Oft geht es dabei um besonders geschätzte, traditionelle Formen oder um Ereignisse in einem für charakteristisch erachteten sozialen Kontext. Auch die weit über Nordindien verbreitete Ramlila ist inzwischen mehrfach untersucht worden, etwa durch den Performance-Spezialisten Richard Schechner, die Theaterwissenschaftlerin Anuradha Kapur oder den Indologen Philip Lutgendorf. Dabei ging es fast ausschließlich um die Ramlila von Ramnagar, einem Dorf in unmittelbarer Nachbarschaft des Pilgerortes Benares. Die dortige Inszenierung ist in der Tat ebenso spektakulär wie kodifiziert, so dass Ramnagar eine Art „Oberammergau“ der Ramlila bildet. Gleichwohl gibt es im regionalen Vergleich ganz verschiedene Weisen, dieses religiöse Spiel aufzuführen. Verbindend ist hierbei der Gedanke, dass die theatrale Form nicht bloß dazu dient, das göttliche Wirken darzustellen. Vielmehr gilt das Schauspielen als eine Handlungsweise, in der sich der göttliche Gestaltungswille manifestiert. Die Götter werden im und durch das Spiel real (spürbar). Dieser als „ lila “ klassifizierte Modus des (dramatischen=göttlichen) Spiels impliziert also die Möglichkeit einer liminalen Erfahrung, nämlich die göttlicher Präsenz. Entsprechend gelten die Inszenierung und die Teilnahme an einer Ramlila als ein frommer Dienst, begleitende Regeln unterstreichen den Ritualcharakter. So ist die Übernahme der Hauptrollen oft erblich und meist den privilegierten Kasten vorbehalten (zum Beispiel den Brahmanen), mancher „Ram“ oder „Ravana“ blickt auf dreißig Jahre Erfahrung zurück.

Von diesem Ideal scheinen sich die Ramlila-Aufführungen in Delhi weit entfernt zu haben. Am augenfälligsten sind hier Inszenierungen, die in ihrer technischen Raffinesse multimedialen Großereignisse gleichen: mit extravaganten Licht- und Soundeffekten, durch die technische Simulation göttlicher Wunder oder mit riesigen Bildschirmen, auf denen der unmittelbare Augenkontakt mit Ram möglich erscheint. Attraktionen wie diese ziehen pro Abend ohne weiteres 20.000 Besucher und mehr an, zum Beispiel in Pitampur, einer Ramlila-Bühne in Delhis Nordwesten.

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Die Ramlila von Pitampur. Der Bildschirm zeigt Ravana in Großaufnahme, Delhi 2006. Foto: B. Hauser

Doch abgesehen von stilistischen Unterschieden, wie anders- oder neuartig ist eigentlich der Umgang mit der Ramlila in Delhi? Inwieweit sind moderne Verfahren der Repräsentation oder auch die sozialen Umstände einer Aufführung für die Rezeptionsweise verantwortlich? Vermag eine Ramlila auch in Delhi besondere Formen des religiösen Erlebens hervorzubringen? Auf welcher Grundlage wird die Ramlila hier wahrgenommen? Solche und ähnliche Fragen stellten sich im Laufe eines an der FU Berlin durchgeführten Forschungsprojekts über verschiedene Modi liminaler Erfahrung, wie sie Rituale und in ähnlicher Weise auch die Künste hervorbringen. Dabei wurden Ramlila-Aufführungen in verschiedenen geographischen und sozialen Räumen untersucht: am bereits erwähnten Pilgerort, in der dörflichen Peripherie sowie in der Metropole Delhi (Feldforschung 2005 und 2006). Hier soll nun ein kleiner Ausschnitt aus dieser Arbeit vorgestellt werden, der veranschaulicht, wie sich die Ramlila im megastädtischen Kontext gestaltet. Entsprechend rudimentär bleiben dabei Ausführungen zum traditionalistischen Pendant, die jedoch anderswo leicht nachzulesen sind.

Auch innerhalb einer 11-Millionenstadt wie Delhi (2006, mit Vororten: 16 Mill.) gibt es natürlich große Unterschiede zwischen den einzelnen Ramlila-Spielorten. Im Wesentlichen lassen sich drei Typen von temporären Bühnen unterscheiden:

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Ramlila vor der Nachbarschaft: der Weise Vishvamitra (Mitte) bringt Ram (links) und Lakshman (rechts) nach Janakpur, Delhi 2006. Foto: B. Hauser

Nachbarschaftsbühnen
Die Mehrheit der Bühnen sind zweifellos „Nachbarschaftsbühnen“, die auf freien Flächen zwischen Häuserreihen errichtet werden. Die Akteure und die Zuschauer stammen aus den umliegenden Straßen. Man kennt sich untereinander, nicht zuletzt durch das Sammeln der erforderlichen Spendengelder, um eine eigene Ramlila aufzuführen. Gespielt wird auf einer durch Vorhänge abgeteilten Guckkastenbühne mit wechselnden Szenenbildern. Für die Organisation, die Dramaturgie und auch die Proben sind die Laienschauspieler selbst verantwortlich. Im Basar der Altstadt können Kostüme, aber auch gedruckte Dramentexte zur Ramlila erworben werden, aus denen die Akteure geeignete Passagen auswählen. Da viele Männer keine weibliche Rolle übernehmen wollen (wie es anderswo üblich ist) und es für Frauen nach wie vor als unschicklich gilt, als Schauspielerin aufzutreten, werden die weiblichen Rollen gegen Honorar an Laiendarstellerinnen aus entfernten Bezirken vergeben.

Professionell organisierte Ramlila-Bühnen
Außerdem glänzt fast jeder Stadtteil von Delhi mit großen, professionell organisierten Ramlila-Bühnen (wie in Pitampur). Diese sind oft gute hundert Meter breit, teils auf zwei oder drei Ebenen, teils mit Seitenbühnen arrangiert. Der Zuschauerbereich ist in verschiedene Zonen geteilt, die nur mit entsprechenden VIP-Einladungen zugänglich sind und das Publikum in sozialer Hinsicht gliedern. Die Finanzierung dieser großen „Stadtteilbühnen“ geschieht durch ortsansässige Unternehmen, für die auf dem Gelände Werbung gemacht wird (bei keiner Ramlila wird Eintritt verlangt). Die Ramlila wird durch ein Gremium organisiert, das nicht nur den Aufbau der Bühne(n), das Sponsoring und die Verteilung der VIP-Karten regelt, sondern auch einen Dramaturgen und die Akteure verpflichtet. Letztere bestehen überwiegend aus professionellen (Fernseh-) Schauspielern, wobei auch einflussreiche Laiendarsteller eine Rolle übernehmen können. Jungen aus der Nachbarschaft bilden die Affenarmee, die unter der Führung von Hanuman dabei hilft, den Dämonen Ravana zu besiegen. Die Inszenierung wird von Privatsendern life übertragen. Bei einigen der großen Ramlila-Bühnen gibt es außerdem einen Jahrmarkt.

Der „Ramlila Maidan“
Einen besonderen Status unter diesen Stadtteilbühnen genießen jene in der Altstadt. Es handelt sich hierbei um die ältesten Spielorte der Ramlila von Delhi. Der als „Ramlila Maidan“ ausgewiesene Platz nahe der historischen Stadtgrenzen wird seit den 1840er-Jahren bespielt, eine weitere Bühne im Herzen der Altstadt besteht seit den 1930er-Jahren. So wie es im ländlichen Raum üblich ist, finden auch hier Prozessionen statt bei denen die als Götter gekleideten Schauspieler durch die engen Gassen ziehen (obwohl diese seit vielen Generationen überwiegend von Muslimen bewohnt sind). Viele dieser zentralen Ramlila-Aufführungen werden von den politischen Parteien zur Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Jede Bühne hat ihre Ehrengäste (zum Beispiel Sonia Gandhi oder den ehemaligen Premierminister Atal Bihari Vajpayee); entsprechend aufwändig sind die jeweiligen Sicherheitsvorkehrungen.

Konkurrenz der Bühnen
Doch auch ungeachtet der politischen Ausrichtung sorgen allein die städtische Struktur und die erhöhte Mobilität der Bevölkerung für eine Konkurrenz der Bühnen. Diese wetteifern zum einen um gelungene Dialoge, die sowohl originelle Reime, bewegende Melodien als auch berühmte Passagen der Ram-Dichtung enthalten (insbesondere dem Ramcaritmanas ). Zum anderen werben spektakuläre Szenen und Innovationen um die Gunst des Publikums. Dabei zählen nicht allein kostspielige technische Effekte. Auf einer kleinen Bühne etwa, reiste ein königlicher Protagonist per Motorrad an, mit dem er sich zuvor unter lautem Gejohle einen Weg durch die gedrängt am Boden hockende Zuschauermenge gebahnt hatte.

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Ram, hier von einem frommen Laiendarsteller verkörpert, Delhi 2006. Foto: B. Hauser

Zum Ritualcharakter der Aufführungen
Welchen Stellenwert haben die dramaturgischen Aspekte nun im Hinblick auf die Art und Weise, wie eine Ramlila in Delhi erlebt wird? Es wäre sicher vermessen, an dieser Stelle pauschale Aussagen treffen zu wollen. Dennoch lassen sich einige Merkmale identifizieren, die den Ritualcharakter dieser Aufführungen und eine gottergebene emotionale Haltung der Beteiligten verdeutlichen. Diese Eigenschaften qualifizieren eine Ramlila gegenüber anderen Formen der Unterhaltung oder der Darstellenden Kunst — die eine Stadt wie Delhi ja durchaus bietet. So fassen einige Schauspieler ihr Engagement als Selbstverpflichtung im religiösen Sinne auf, insbesondere, wenn sie Ram, Lakshman oder Hanuman verkörpern. Das äußert sich etwa darin, dass während der Ramlila eine religiöse Diät befolgt wird. Manche Bühnen haben deshalb ihren eigenen Koch; anderswo steht hinter den Kulissen ein kleiner Altar. Manche Akteure befolgen sogar ein Zölibat. Als Hanuman, der wie kaum ein anderer für sexuelle Enthaltsamkeit steht, „passt es eben nicht“, im Anschluss an die abendliche Vorstellung zuhause zu schlafen. Doch auch die Furcht vor Dieben legitimiert, warum einige Schauspieler bei der Bühne übernachten.

In regelmäßigen Abständen einer Ramlila verschmelzen die Schauspieler zu einer Art religiösem Standbild. Sie werden als Verkörperung der Götter verehrt. Besonders beliebt ist es, vor Ram, seinem Bruder Lakshman und seiner Ehefrau Sita die arati-Zeremonie durchzuführen, eine typische Form der Gottesverehrung, die mit Hilfe einer brennenden Öllampe geschieht. Bei großen Bühnen ist es meist das Privileg der Ehrengäste, die Flamme zu schwenken; bei kleinen Bühnen drängeln sich dazu die Frauen aus der Nachbarschaft. Bei manchen Ramlila-Inszenierungen ist zuweilen auch die Mitwirkung der Zuschauer gefragt, etwa bei Rams Hochzeit. Es gilt als segenbringend, für kurze Zeit am göttlichen Spiel teilzunehmen und Ram auch auf dieser Ebene zu dienen. Obwohl es in Indien unüblich ist, die Begeisterung über eine gelungene Aufführung durch Klatschen zu bekunden, fungiert das Händeklatschen in einigen sozialen Schichten als Distinktionsmerkmal. An manchen der Ramlila-Spielorte zeigt sich, dass so dennoch nicht die Leistung der Schauspieler honoriert wird, sondern die Taten der verkörperten Gottheit. Geklatscht wird zum Beispiel für Ram, der einen großen schweren Bogen zerbricht (erkennbar aus präpariertem Styropor). Über das Talent und die Fähigkeiten eines Ram-Darstellers darf dagegen überhaupt nicht geurteilt werden. Sein Spiel zu kritisieren hieße, Gottes Spiel selbst an den Pranger zu stellen.

Im Zusammenhang mit Ramlila-Aufführungen im dörflichen Kontext sind die hier beschriebenen Umgangsformen mit diesem Genre nicht neu. Im megastädtischen Kontext zeigt sich jedoch, dass die rituelle Einstellung keine generelle Voraussetzung für die Inszenierung einer Ramlila bildet, so wie die Rezeption derselben vor allem durch die jeweilige Erwartung eines Zuschauers bestimmt wird. In anderen Worten: es gibt eine deutliche Pluralität an Haltungen, die dazu führt, dass ein- und dieselbe Ramlila-Aufführung für die einen primär „Ritual“ und für die anderen primär „Theater“ ist. Von den Umständen einer Inszenierung oder ihrem sozialen Kontext kann nicht darauf geschlossen werden, wie eine Ramlila erfahren wird. Ihre religiöse Bedeutung ist insofern „Ansichtssache“, als es für die emotionale Ergriffenheit eines Zuschauers zweitrangig ist, ob Ram durch einen frommen Hindu verkörpert wird oder Sita von einem Dienstmädchen, das ihr Einkommen aufbessert.

Weiterführende Literatur
Hauser, Beatrix (2006a): Ästhetik im Transit: Indische Konzeptionen der Ramlila-Aufführungspraxis. In: Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 15, Heft 2, Schwerpunkt: Sprachen ästhetischer Erfahrung. Hg. v. Gert Mattenklott und Martin Vöhler. Berlin: Akademie-Verlag. S. 133–148
Hauser, Beatrix (2006b): Durch den Körper sehen: Zur Präsenz der Götter bei der indischen Ramlila. In: Auf der Schwelle: Kunst, Risiken und Nebenwirkungen. Hg. v. Erika Fischer-Lichte et al. München: Fink. S. 143–159
Kapur, Anuradha (1990): Actors, Pilgrims, Kings and God: The Ramlila at Ramnagar. Calcutta: Seagull
Lutgendorf, Philip (1991): The Life of a Text: Performing Ramcaritmanas of Tulsidas. Berkeley: University of California Press
Schechner, Richard (1983): Performative Circumstances: From the Avant Garde to Ramlila. Calcutta: Seagull

Zur Autorin
Dr. Beatrix Hauser war von 2004 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 626: „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der FU Berlin tätig. (Projektleitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte). Zur Zeit schließt sie ihre Habilitation an der Universität Halle ab.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008