RITUALE AN ÜBERGANGSORTEN

Events in städtischen Einkaufszentren

Von Gabriele Sorgo

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Die Citypark-Mall in Graz als Burg. Foto: G. Sorgo

Zahlreiche Studien über Prestigekonsum, Markenwaren und Erlebniskauf haben in den letzten drei Jahrzehnten die Symbolik von Waren untersucht, die rituellen Aspekte jedoch vernachlässigt. Dieser Beitrag beruht auf Feldstudien in Einkaufszentren in Graz und Wien im Jahr 2008, die den Fokus auf die Praktiken und die ritualisierten Handlungen der KonsumentInnen legten.

Übergangsorte und Liminalität
Zum Kauf angebotene Objekte befinden sich so lange zwischen den sozialen Strukturen ihres Herstellungsortes und jenen ihres Bestimmungsortes, bis sie in die Lebenswelt ihrer neuen BesitzerInnen integriert worden sind. Diesen Zwischenzustand verglich der Ritualforscher Victor Turner mit der Übergangsphase in Initiationsriten. Turner bezeichnete Konsumsphären in Anlehnung an das lateinische Wort für Schwelle limen als liminoid. Moderne marktorientierte Gesellschaften grenzen seiner Meinung nach Liminalität nicht mehr so deutlich aus dem Alltag aus wie sozial weniger flexible Gesellschaften. Status- und Rollenwechsel finden so häufig statt, dass sie nicht länger von kollektiven Ritualen begleitet werden können. Shopping Malls konzentrieren jedoch mit der Anhäufung von Waren auch liminale Energien und grenzen sie mit ihren Mauern ein. Malls ähneln deshalb Museen. Sie repräsentieren in Bauwerken verfestigte Rituale.

Viele KonsumentInnen ritualisieren die Übernahme neuer Waren. Bevor sie das Einkaufszentrum betreten, parken sie ihre Autos in der Tiefgarage. Dann nehmen sie den Aufzug und holen einen Einkaufswagen. Routinisierung und Ritualisierung gehen ineinander über. In den meisten mittelgroßen städtischen Einkaufszentren existieren spezielle Plätze für Events, manchmal sogar permanente Bühnen. Dort treten mehrmals im Jahr oder sogar wöchentlich Tänzer, Schnulzensänger oder lokale Stars auf.

Gewöhnlich haben die BesucherInnen von Einkaufszentren weder dieselben politischen Anschauungen noch ähnliche religiöse Überzeugungen. Aber wenn Events angeboten werden, versammeln sie sich um diesen „Hot Spot“. Ihre Körperhaltungen verraten, dass keine bewussten Entscheidungen sie leiten. Sie bleiben stehen und schauen, gehen bald wieder weiter oder umkreisen den Platz. Dennoch entstehen atmosphärische Differenzierungen innerhalb der Flaniermeilen, Grenzen zwischen außergewöhnlichen und alltäglichen Orten.

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Bühne im Einkaufszentrum Citypark in Graz. Foto: G. Sorgo

Doch nicht nur spezielle Bühnen, sondern die ganze Anlage bietet Gelegenheit für verschiedenste soziale Performances. Menschen repräsentieren sich als Familie, als Paare, sexuell attraktive Personen, coole Typen und so weiter. Während ihres „Auftrittes“ schaffen, vermitteln und interpretieren sie kulturelle Erfahrungen.

Gerade unspektakuläre Einkaufszentren an der Peripherie der Stadtzentren erwirtschaften Profit, indem sie einerseits die Nahversorgung gewährleisten und andererseits künstliche Marktplätze für individuelle Performances sowie für kostenlose Events anbieten. Der Zusatznutzen für die KonsumentInnen besteht darin, dass sie sich gegenseitig bei ihrer Konsumarbeit, das heißt bei der Überführung von liminoiden Gegenständen in sinnvolle Zusammenhänge wahrnehmen. Formalisierte Handlungen und Äußerungen sowie deren Wiederholungen zeigen, was von den „Arbeitenden“ gemeinsam für wahr, richtig und legitim gehalten wird.

Der Ethnologe Roy Rappaport interpretiert Liturgien als “Arbeit des Volkes” im Sinne der altgriechischen Bedeutung dieses Wortes. Laut Rappaport sichern Liturgien auf nicht-diskursive Weise die grundlegenden Behauptungen und Annahmen, auf denen die Fundamente einer Gesellschaft ruhen. So gesehen erfahren KonsumentInnen im Einkaufszentrum durch ihre gemeinsame „liturgische Arbeit“, dass sie am Prozess des Konsumierens, der als Grundlage der Konsumgesellschaft betrachtet wird, partizipieren. Einkaufen wird zu einer performativen Affirmation der aktuellen Produktions- und Konsumptionsprozesse.

Der Osterhasen-Event
Das Citypark-Einkaufscenter in Graz wurde in den 1970er-Jahren in einem Viertel errichtet, das durch niedrige Einkommen, 20 % MigrantInnen und hohe Fremdenfeindlichkeit gekennzeichnet ist. Im Citypark sind jedoch so gut wie nur österreichstämmige KonsumentInnen zu beobachten. Türkische Nahrung fehlt in den Supermarktregalen, die Preise sind moderat. Die Events im Einkaufscenter richten sich offensichtlich an Steirer: Verkostung steirischer Weine, Autos aus Grazer Autohäusern, regional bekannte Bands.

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Ostereierverteilen in der Citypark-Mall in Graz. Foto: G. Sorgo

Das Osterhasen-Gewinnspiel fand am Ostersamstag des Jahres 2008 statt. Es handelte sich um die Schlussveranstaltung einer Reihe von Auftritten eines Osterhasens namens Hubert in Dörfern rund um Graz. Die Figur dieses Hasen wurde vom steirischen Lokalsender des Österreichischen Rundfunks erfunden. Rund um den Osterhasen wurde ein Glückspiel angeboten. Der Hauptgewinn bestand aus Gutscheinen im Wert von 4000 Euro, einzulösen im Citypark.

In der Mythenforschung wird der Hase mit der Figur des Tricksters, mit Dionysos oder sogar mit Christus verglichen. Denn in mythologischen Erzählungen ist der Hase mit dem Martyrium verknüpft, das Vorstellungen von Verwandlung, Fruchtbarkeit und Auferstehung transportiert. Das synkretistische liturgische Spiel mit dem Osterhasen als Hauptfigur adaptierte agrarische und christlichen Mythen an die Konsumgesellschaft. Es ersetzte die Fülle der Natur durch die Warenfülle.

Die Performance fand auf der zweiten Etage des Gebäudekomplexes rund um eine kurzfristig errichtete Bühne statt. Zu Beginn erzeugten die Kameraleute des ORF durch ihre konzentrierten Vorbereitungen bereits eine Atmosphäre der Erwartung. Wie moderne Tempeldiener handelten sie einerseits professionell, andererseits aber auch voller Ehrerbietung für das kommende Ereignis. Ausschnitte der Veranstaltung wurden am selben Tag noch in den Regionalnachrichten gesendet.

Zuerst trat die Moderatorin auf die Bühne und erläuterte die Regeln. Die ausgefüllten Karten waren in einer transparenten Kunststoffbox zu sehen, aus der ein Kind die Karten der Spieler für die Bühnenshow ziehen durfte. Die Endausscheidung bestand in der österreichischen Sitte des „Eierpeckens“: Zwei Personen nehmen je ein hart gekochtes Ei und schlagen sie gegeneinander. Wer das härtere Ei hat, gewinnt.

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Zuschauer vor der Bühne in der Citypark-Mall in Graz. Foto: G. Sorgo

Die Gruppe sammelte sich langsam um die Bühne. Viele Interessierte erschienen pünktlich mit Fotoapparaten zum angekündigten Termin. Die Grenzen zwischen Zuschauern und distanzierten Konsumenten waren fließend. Der Umstand, dass es keine Sitzgelegenheiten gab, verstärkte das Gefühl, eher Mitwirkender statt nur Zuschauer zu sein. Während der Performance verteilten junge Frauen, die ein T-Shirt mit dem Logo des ORF trugen, ununterbrochen Schokolade-Eier aus großen Weidekörben wie aus Füllhörnern in ausgestreckte Hände. Als der Osterhase endlich nach langem Warten auftauchte, interviewte ihn die Präsentatorin wie einen Leistungssportler. Sie befragte den ganz in Plüsch verkleideten Mann über seine harte Arbeit und Hubert beklagte sich über seine Belastung in der Karwoche.

Obwohl das Spiel auf Glück und Zufall beruhte, verkörperte der Hase doch das Leistungsprinzip. Seine Arbeit ähnelte dem Opfer Christi. Denn ein Osterhase verteilt die Geschenke umsonst und die Eier sind Symbole der Transformation und Auferstehung. Die Präsentatorin rief die 20 TeilnehmerInnen der Reihe nach namentlich auf die Bühne. Dort bildeten sie einen Halbkreis um den Hasen und die Spielleiterin. Alle erhielten eine Karte mit einer Nummer, die sie zu bestimmten Osternestern führte, die auf Tischen ausgestellt waren. In den Nestern befanden sich entweder ein 50-Euro-Gutschein oder die Einladung zum Finale des Spiels. Ein Junge und ein Mädchen hatten das Glück, zum Eierpecken auf der Bühne bleiben zu dürfen. Sie kämpften in zwei Durchgängen um den Sieg. Der aufgeregten Gewinnerin überreichte der Citypark-Manager persönlich auf der Bühne den Gutschein und außerdem ein riesiges vergoldetes Plastikei. Der Hase blieb während der gesamten Performance auf der Bühne. Viele Kinder - aber auch Erwachsene - versuchten, ihn zu berühren oder ihm die Hand zu schütteln.

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Osterhase Hubert überwacht das Eierpecken in der Citypark-Mall in Graz. Foto: G. Sorgo

Der Event wies alle wichtigen Komponenten eines Rituals auf. Er bestand aus Sequenzen formalisierter Handlungen und Äußerungen, die aus verschiedensten Spiel- und Showtraditionen stammten. Die TeilnehmerInnen akzeptieren die vorgegebenen Vorgangsweisen bedingungslos. Zeit und Ort, Anfang und Ende waren ebenfalls von den Veranstaltern bestimmt worden. Die Moderatorin wiederholte ihre Anweisungen zudem in einer Art von Singsang. Ihre Gestik entsprach den Moderationsregeln, wie sie seit Jahrzehnten in Fernsehshows befolgt werden. Die Performance enthielt keine dramatischen Elemente. Dramen stellen laut Rappaport die soziale Ordnung in Frage und weisen auf Widersprüche hin. Beim Osterhasenspiel im Citypark wurden jedoch die passiven Rollen der KonsumentInnen und ihre Ergebenheit gegenüber den vorherrschenden Verteilungsregeln nicht in Frage gestellt. Der Zufall entschied, wer mitspielen und wer gewinnen durfte, die Zeremonienmeister und Eventmanager verteilten die Gaben. Aktivität und Passivität waren – wie in der Konsumgesellschaft auch – klar verteilt.

Rituale in der „Surmodernité“
Der Ritualforscher Don Handelman hat vormoderne Feste klar von modernen Spektakeln unterschieden. Er hält Feste für totale kollektive Performances, die die Harmonie der sozialen Struktur mit der jeweiligen kosmischen Ordnung bestätigen sollen. Das Spektakel kann jedoch autonom durchgeführt werden und bedarf nicht einmal der TeilnehmerInnen. Es integriert letztere auch nicht in ein soziales Gebilde. Die ZuschauerInnen können völlig individuelle Empfindungen haben ohne sie mitzuteilen. Nach Handelman sind Spektakel typisch für individualistische moderne Gesellschaften und repräsentieren weder eine soziale Gruppierung noch beziehen sie sich auf ein gemeinsames kulturelles Skript.

Das Osterhasenspiel lässt sich jedoch mit den Kategorien von Handelman nicht erfassen. Es konnte sowohl als Spektakel wie auch als Fest mit kultischen Elementen erlebt werden. Die Teilnahme bot die Gelegenheit, sich kultureller Bedeutungen auf performative Weise zu versichern. Doch die Affirmation schließt die Reflexion nicht aus. Das Spiel formulierte insgesamt dennoch einen Metakommentar, den eine Gruppe sich selbst über sich selbst erzählte. Denn die Mühen des Osterhasen spiegelten das Leben der KonsumentInnen, die wie er ihre Opfer für die Leistungs- und Konsumgesellschaft bringen müssen.

Der Ethnologe Marc Augé hält Einkaufszentren für Nicht-Orte, wo das Vergnügen der „Desidentifikation” genossen werden kann. Sich zu zerstreuen und die Sorgen des Alltags zu vergessen heißt, sich in liminale Zustände zu begeben. Aber es scheint, dass Einkaufzentren nicht nur architektonisch verfestigte Rituale sind, sondern auch Rituale anbieten, die die Teilnehmenden in ihren Rollen als KonsumentInnen bestätigen. Die Moderne, schreibt Augé, konnte die Kirchen noch neben den Fabrikschloten dulden. Die Übermoderne jedoch verwandelt Kulturgüter in Spektakel.

Das Osterhasenspiel bot aber mehr als ein Spektakel an einem Nicht-Ort. Es hat die Individuen auch nicht isoliert und gemeinsame Erinnerungen und geteilte Erfahrungen nicht unterbunden. Vielmehr liefert es ein Beispiel dafür, dass auch trivialste Spektakel sich in Rituale verwandeln können, die soziale Bindungen und kollektive Werte bestätigen. Ein Grund dafür könnte sein, dass rein kontraktuelle Beziehungen sekundär werden, sobald ein Ritual durchgeführt wird. Die körperliche Teilnahme bedeutet Zustimmung. Die Übermoderne ruht vermutlich weiterhin auf sehr alten Grundlagen.

Weiterführende Literatur
Augé, Marc (1992): Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris
Bloch, Maurice (1989): Symbols, song, dance and features of articulation: Is religion an extreme form of traditional authority? In: Bloch, Maurice: Ritual, History and power. Selected papers in anthropology. London, Atlantic Highlands Duncan, Carol (1995): Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums. London/New York
Handelman, Don (2003): Reflexivity in Festival and Other Cultural Events. In: Mary Douglas Collected Works. Vol. VIII. Essays in the Sociology of Perception. London, New York. S. 162-190
Rappaport, Roy A. (1999): Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge
Jonathan Z. Smith (1992): To Take Place. Toward Theory in Ritual. Chicago,London

Zur Autorin
Gabriele Sorgo, PD Dr. phil. lehrt Kulturgeschichte und pädagogische Anthropologie an den Universitäten Graz, Innsbruck und Wien. Forschungsschwerpunkte: Anthropologie der Konsumgesellschaft, religiöse Aspekte und Rituale der Warenkultur. Letzte Publikation: Abendmahl in Teufels Küche. Über die Mysterien der Warenwelt (Wien: Styria 2006).


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008