DIE EHRE DER FRAU – DIE EHRE DES MANNES

Ehrvorstellungen in Georgien

Von Elke Kamm

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Die georgische Spezialität Tutschrela wird hergestellt. Foto: E. Kamm

In den 1960er Jahren wurde vermehrt über den Begriff der Ehre und den damit einhergehenden Verhaltensregeln geforscht. Besonders über den Mittelmeerraum, der als eine Anhäufung von honour and shame societies gesehen wurde, finden sich viele Aufzeichnungen zu Ehrvorstellungen. Der Ehrbegriff wird hier als soziale Kontrolle – als Regelwerk - innerhalb einer Gesellschaft verstanden, wobei das Verhalten des Individuums das der ganzen Gruppe beeinflusst. Bewertet wird das Verhalten jeweils durch die anderen, nach einer Norm, die sich das Individuum durch Sozialisation und Nachahmung in der Gesellschaft aneignet. Die Person ist angehalten, darauf zu achten, sich richtig im Sinne des Normengefüges zu verhalten. Damit hat sie die Möglichkeit ihre Ehre zu wahren oder sie zu vermehren.

Das tägliche Leben in Georgien, insbesondere in ländlichen Regionen, läuft nach einer geschlechtspezifischen Arbeitsteilung ab. Frauen haben sich um den Haushalt, den Garten und um die Kindererziehung zu kümmern, während Männer in den öffentlichen Räumen arbeiten, Feldarbeit verrichten, politischen Tätigkeiten nachgehen und Erledigungen in der Stadt machen. Vor, während und nach der Sowjetregierung konnte diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nachgewiesen werden. Zwar proklamierte die Sowjetideologie Gleichberechtigung, dennoch agierte die georgische Bevölkerung - soweit es möglich war - gemäß ihren Traditionen. Im öffentlichen Leben war das nicht möglich, hier mussten Frauen und Männer gemeinsam auf den Feldern, auf den Teeplantagen, in den Kolchosebetrieben oder in den Fabriken arbeiten. Zu Hause jedoch erfolgte eine Arbeitsteilung, die nach Geschlecht, Alter und Generation getrennt war.

Frauen gelten als traditionell und konventionell, da sie sich mit der Arbeit im Haus und im Garten beschäftigen, während Männer außerhalb des Hauses arbeiten, in andere Dörfer und Städte reisen und dort mit fremden Menschen, anderen Begebenheiten oder Normen in Berührung kommen. Die Frau ist in der georgischen Vorstellung der Inbegriff der Feinheit, Schönheit und Geduld. Sie wird als Trägerin der Kultur gesehen, die georgische Lieder und Gedichte an ihre Kinder weitergibt. Sie schützt die Familienehre, indem sie fleißig im Haushalt arbeitet und sich gemäß den Ehrvorstellungen verhält.

Ein Mann muss in der Lage sein, Recht und Gerechtigkeit zu schaffen. Das gehört zu der Vorstellung von Männlichkeit in Georgien. Dazu soll Gewalt, Einfluss, List und Macht gerecht angewendet werden. Gerechtigkeit steht dem Begriff der Ehre sehr nahe und wird in erster Linie durch ehrenhaftes Verhalten erzeugt. Demgegenüber bedeuten Ungerechtigkeit und Schande eine Unordnung, die es aufzuheben gilt. Besonders unter den Jugendlichen nimmt der Begriff der Ehre neuerdings eine wichtige Rolle ein. Er wird in Bezug auf Ruhm, Ansehen und Achtung immer wieder neu ausgehandelt. Diesem verhandelbaren und individuellen Begriff steht ein generalisierter und absolut gedachter Begriff der Ehre gegenüber: Der Schutz der Familienehre, welche nicht verhandelbar ist und nur verloren werden kann. Eine Widerherstellung der Ehre kann einzig durch Gewaltanwendung erfolgen. Dieser Ehrbegriff spielt vor allem in den Bergregionen Georgiens, insbesondere im Nordkaukasus (Xevsuret´i und Svanet´i) eine dominante Rolle.

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Käseherstellung. Foto: E. Kamm

In Bezug auf die Ehrhaftigkeit und den daraus resultierenden Verhaltensnormen der Frauen gelten auf dem Land strengere Regeln als in der Stadt. Tamara Dragadze beobachtete, dass die Ehrhaftigkeit von Frauen an ihrer Schamhaftigkeit und Jungfräulichkeit gemessen wird. Mit dem Einsetzen der Pubertät ändert sich der Alltag für Mädchen und Jungen. Sie werden räumlich voneinander getrennt und dürfen nicht mehr miteinander spielen. Die Mädchen werden fortan strenger bewacht, da ihre Ehre - damit ist ihre Jungfräulichkeit gemeint - vor einer eventuellen Entführung beschützt werden muss. Die Aufgabe der Mädchen ist es nun, ihrer Mutter im Haushalt zu helfen. Fleißige Mädchen werden höher geachtet, als jene, die die Arbeit verweigern – denn Faulheit wird als Schande für die Familie angesehen. Die Jungen begleiten ab der Pubertät ihren Vater und genießen größere Freiheit als die Mädchen. Den Jungen wird beigebracht, Stärke und Tapferkeit zu zeigen, da sie später eine Familie beschützen müssen. Deshalb werden ihnen Gefühlsausdrücke, wie zum Beispiel Weinen, untersagt. Bei der Brautwahl wird die Jungfräulichkeit der Frau vorausgesetzt, außerdem soll sie tüchtig in der Haus- und Gartenarbeit sein, eine schöne Handschrift haben und in der georgischen Literatur bewandert sein. Um die Reinheit der Frau zu gewährleisten, zieht die Familie des Heiratswilligen eine Frau aus dörflichen Strukturen vor, denn Frauen aus der Stadt haftet das Gerücht an, sie würden ein ehrloses Leben führen. Umgekehrt gilt das gleiche, Männer aus dem Dorf werden Stadtbewohnern vorgezogen.

Die Heirat ist eine ökonomische Angelegenheit und nicht nur eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die sich lieben (wobei eine Liebesheirat nicht ausgeschlossen ist, sie kann durch eine Entführung der Braut herbeigeführt werden). Es wird überwiegend exogam geheiratet. Die Eheleute stammen aus zwei verschiedenen Dörfern und nach der Heirat zieht die Frau in das Haus der Familie ihres Mannes. Viele Frauen empfinden die ersten Jahre nach der Hochzeit als schwierig. Da sie als Fremde in eine neue Familie kommen, sind sie in der Hierarchieordnung an unterster Stelle und bekommen oft die schwierigen Tätigkeiten im Haushalt zugewiesen. Zudem müssen sie die Trennung von ihrer Herkunftsfamilie überwinden und sich in der neuen Familie einfinden. Die Geburt eines Kindes, vorwiegend eines Jungen, ermöglicht es ihnen, einen höheren Rang in der Familie und in der Gesellschaft einzunehmen. Das heißt umgekehrt, dass eine kinderlose Frau in der Gesellschaft nur wenig Anerkennung erfährt.

In patriarchalen Gesellschaften, wie Georgien, ist die Jungfräulichkeit ein Beweis der Schamhaftigkeit und des ehrenwerten Verhaltens einer Frau. Durch diese kann eine Frau ihre Ehre vorweisen. In ihrer Ehre spiegelt sich die Ehre des Mannes wider. Verhält sie sich normgerecht und sittsam, ist sie in der Gesellschaft anerkannt und gilt als ehrbare Tochter, Braut und Ehefrau. Nach der Hochzeit ist der Mann für die Überwachung des ehrenhaften Verhaltens seiner Ehefrau zuständig. Geschieht ein Vergehen, wie zum Beispiel eine verbale Beleidigung durch einen Nachbarn gegen die Ehefrau, verletzt der Angreifer zuallererst die Ehre des Mannes und erst an zweiter Stelle die der Frau. Der Ehemann hat nun die Aufgabe, seine Ehre wieder herzustellen. Mit der Wiederherstellung seiner Ehre erlangt er gleichzeitig auch die Ehre seiner Frau wieder zurück. Somit ist die Ehre der Frau in erster Linie die Ehre des Mannes. Wird ihre Ehre verletzt, hat sie keine Möglichkeit, diese selbst wieder herzustellen. Diese Aufgabe muss der Ehemann übernehmen.

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Gänsehirtin. Foto: E. Kamm

Verhält sich seine Ehefrau wider den Vorstellungen der Ehre (etwa indem sie eine Liaison mit einem anderen Mann eingeht), verletzt sie auf dem direkten Wege die Ehre ihres Ehemannes. Diese kann er wieder herstellen, in dem er seine Ehefrau für dieses Vergehen bestraft (zum Beispiel durch den Ausschluss aus der Familie, das heißt durch eine Scheidung oder im schlimmsten Falle durch Tötung der Ehefrau). Dadurch erhält jedoch nur der Ehemann sein Ansehen wieder zurück, die Ehefrau verliert ihre Anerkennung und Ehre für immer und hat keine Möglichkeit ihre Ehre wieder herzustellen.

Jeder Einzelne ist dazu angehalten, sich entsprechend den gesellschaftlich-sozialen Ehrvorstellungen zu verhalten. Das „richtige“ Verhalten der Individuen gewährleistet Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Gruppe.

Die Verhaltensnormen in Bezug auf die Ehre werden einerseits durch Erziehung der Kinder reproduziert und andererseits durch die Norm, die durch richtiges Verhalten - im Sinne der von der Gesellschaft gegebenen Normen - immer wieder bestätigt wird. Nach Tamara Dragadze gab es in der Sowjetzeit zwei Erziehungsstile: Den traditionellen, der die Geschlechtersegregation vorschrieb, und den nicht traditionellen, der sich an den Erziehungsstil des Sowjet-Regimes hielt und die Koedukation praktizierte. Meistens wurden und werden die Kinder heute noch traditionell erzogen, da die Georgier in der Wahrung der alten Normen und Werte die einzige Möglichkeit sahen und sehen, sich gegen die Fremdherrschaften zu wehren. Obwohl die Georgier das Epos ihres berühmten Dichters Šot´a Rust´aveli in Teilen auswendig aufsagen können und diese folgenden Zeilen verinnerlicht haben: „Die Welpen eines Löwen – egal welchen Geschlechts – seien Löwen“, werden dennoch unterschiedliche geschlechtsspezifische Erziehungsstile praktiziert. Die Mädchen werden stärker überwacht und dazu angehalten, häusliche Tätigkeiten zu übernehmen, während die Jungen größere Freiheiten genießen und die Tätigkeiten des Vaters nachahmen.

Trotz des Einflusses der Sowjetregierung, so stellte Tamara Dragadze fest, blieben die georgischen traditionellen Werte und Normen während der Sowjetzeit erhalten. Heutzutage werden sie stärker in den Vordergrund gedrängt, da seit dem Wandel – nach der Unabhängigkeit Georgiens 1991 - großes Chaos in Politik, Gesellschaft und Ökonomie herrscht. Besonders die Männer leiden unter der Veränderung. Ihre Rolle als Alleinernährer der Familie wird in Frage gestellt, da Frauen nach dem Ende der Sowjetzeit die neuen Möglichkeiten nutzen, um selbst arbeiten zu gehen oder um sich selbständig zu machen. Inwieweit sich die Vorstellungen über geschlechterspezifisches ehrenhaftes Verhalten auch heute erhalten oder sich geändert haben, wird eine von der VW-Stiftung finanzierte Forschung im Zeitraum von 2009 – 2011 zeigen (nähere Informationen dazu unter

Weiterführende Literatur
Dragadze, Tamara (1988): Rural Families in Soviet Georgia. A Case Study in Ratcha Province. London, New York: Routledge
Dragadze, Tamara (1997): The Sexual Division of Domestic Space among Two Soviet Minorities: The Georgians and the Tadjiks. In: Ardener. Woman and Space: Ground Rules and Social Maps. Oxford, New York: Berg. S. 156 - 164
Herzfeld, Michael (1980): Honour and Shame: Problems in the Comparative Analysis of Moral Systems. In: Man, New Series (15). S. 339–351
Koehler, Jan (2000): Die Zeit der Jungs: Zur Organisaton von Gewalt und der Austragung von Konflikten in Georgien. Münster: LIT
Kotthoff, Helga (1980): Der Recke im Pantherfell und das Veilchen im Moose? Geschlechterrollen in Georgien. In: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 3/1990. Wien. S. 40-46
Peristiany, John G. (Hg.) (1966): Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society. Chicago: The University of Chicago Press

Zur Autorin
Elke Kamm, M. A., Ethnologin. Magisterarbeit zum Thema „Die Ehre der Frau – Annäherung an ein Geschlechterverhältnis in Georgien und der Türkei“. Seit 2001 jährliche Reisen nach Georgien. 2003: Studium an der Staatlichen Universität Tbilisi (TSU). Ab 2009 Forschungsprojekt zu Georgien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008