ECHTE MÄNNER UND BESCHÄMENDE MARICOS

Männlichkeiten in Venezuela

Von Katrin Vogel

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Cyntia als Touristin in Deutschland. Foto: K. Vogel

„Wenn meine Tante Cyntia aus Europa zu Besuch kommt…“, so erzählte mir 2007 Hugo in Venezuela, werde sie von ihren Brüdern – Hugos Onkeln – nicht begrüßt und während ihres gesamten Aufenthaltes ignoriert. Nur die Frauen der Familie, Cyntias Schwestern und Nichten, pflegten inzwischen einen normalen Umgang mit Hugos Tante aus Europa. Bei ihrem letzten Besuch habe Hugo sie zur Begrüßung demonstrativ vor allen umarmt und ihr zwei Küsschen gegeben. Das eine oder andere Mal habe er sich sogar geprügelt, wenn jemand schlecht über seine Tante sprach. Cyntia ist eine Schande für ihre Familie.


Ehre und Schande
„Ehre und Schande“ bezeichnet ein Moralsystem, das in der Ethnologie der 1960er bis 1980er Jahre als charakteristisch für den Mittelmeerraum galt. Der „Ehre und Schande“-Komplex bot eine Folie für die Interpretation gesellschaftlicher und ökonomischer Phänomene und wurde im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern als wesentlich erachtet.

Die Ehre eines Mannes konstituiert sich gleichermaßen über den Wert, den er sich selber beimisst, wie über seinen guten Ruf in der Gesellschaft. Das soziale Ansehen des individuellen Mannes färbt auch das Ansehen seiner Familie. Umgekehrt wirkt der Ruf der im Haushalt lebenden Frauen auf die Ehre seiner Männer. Das Leben der Frauen wird von den Werten Jungfräulichkeit, Keuschheit, Schamhaftigkeit und eheliche Treue bestimmt. Leistet ihnen eine Frau nicht Folge, so bringt sie Schande über den Haushalt und entehrt damit automatisch seine Männer.

Das Wertesystem „Ehre und Schande“ wurde herangezogen, um diverse Phänomene an einer Vielzahl von Orten und zu unterschiedlichen Zeiten – im Mittelmeerraum des ausgehenden 20. Jahrhunderts genauso wie im kolonialen Lateinamerika – zu verstehen. Zwangsläufig lautet die Kritik, dass ein solches Vorgehen von Vorannahmen gelenkt, reduktionistisch, ethnozentristisch und totalisierend ist. Wikan Unni (1984) bemerkt zudem kritisch, dass „Ehre und Schande“ in der ethnologischen Literatur vorwiegend als sich ergänzendes und einander bedingendes Paar auftreten. Sie hinterfragt die Bedeutung von „Ehre“ im gesellschaftlichen Alltag und stellt fest, dass „Ehre“ vor allem Teil des normativen Diskurses unter Männern ist. Sie wirft die Frage auf, ob es nicht vielmehr die Vorstellung von Schande ist, die in den gesellschaftlichen Realitäten verbreitet und empirisch nachweisbar ist.

Warum gerade Scham und Schande auch Cyntias Lebensgeschichte prägen, werde ich im Folgenden beleuchten. Der Weg des Verstehens führt über den spezifischen Kontext der Konstruktion von Männlichkeiten und der damit verbundenen Spannungen zwischen normativen und heterodoxen Sexualitäten. Für die Zugehörigkeit zur Kategorie „Mann“ ist in Venezuela das biologische Geschlecht entscheidend. Doch innerhalb der Kategorie „Mann“ wird entlang der sexuellen Orientierung und der damit verbundenen sexuellen Praxis differenziert: Es gibt „echte“ Männer und maricos .

Cyntia
Cyntia ist marico . 1965 kam sie als Junge in einem venezolanischen Andendorf zur Welt. Auf Wunsch des Vaters und zu Ehren des Boxers Muhammed Ali wurde sie unter anderen auf den Namen Ali getauft. Ali (Cyntia) war das fünfte von sieben Kindern einer armen Familie. 1998 emigrierte Cyntia (Ali) nach Europa, wo sie mir in einem biografischen Interview (2006) berichtete: „Schon als ich sehr klein war, habe ich gemerkt, dass ich einmal homosexuell sein würde. Viele Leute haben es gemerkt: Meine Geschwister und die Nachbarn. Schon mit zehn Jahren, als man begann mir anzumerken, was ich war – ein Homosexueller – wurde ich von vielen Leuten abgelehnt. Sogar von meinen Brüdern und Schwestern. (…) Und mit zehn Jahren (…) begann ich zu arbeiten. (…) Ich war noch ein Kind, die Hilfskraft eines Herrn, der einen Lkw hatte. (…) Als der Herr bemerkte, dass ich homosexuell war, sagte er mir, dass ich nie wieder für ihn arbeiten könnte. Weil es für ihn nicht angebracht war. Es beschämte ihn, dass die Leute sagen würden, dass ich homosexuell bin. Manche behaupteten sogar, er hätte ein Verhältnis mit mir.“

Maricos und Homosexualität
Cyntias Gebrauch des Terminus „homosexuell“ ist der formalen Interviewsituation geschuldet. Denn wenn venezolanische “Homosexuelle” wie Cyntia miteinander und übereinander sprechen, gebrauchen sie fast ausnahmslos den in Venezuela geläufigen Begriff marico (mask.). „Schwuchtel“ stellt die vielleicht am besten zutreffende Übersetzung ins Deutsche dar, obgleich der deutsche Begriff eindeutig und ausschließlich abschätzig belegt ist. Wenn marico in Venezuela von Außenstehenden verwendet wird, wird diese Wortwahl ebenfalls meist als beleidigend empfunden; je nach Intention des Sprechers kann sie aber auch als wertfrei und beschreibend gelten. Homosexuell“ und marico verweisen zwar auf eine ähnliche sexuelle Orientierung und auf eine ähnliche sexuelle Praxis, trotzdem sind sie nicht als Synonyme zu verstehen. Die Begriffe stehen für unterschiedliche Klassifizierungssysteme, die in Venezuela ambivalent koexistieren. Vor allem im städtischen Umfeld und in gebildeten Schichten wird der Terminus „Homosexualität“ (oder auch „gay“) zunehmend gebräuchlich. Dieses westliche Konzept definiert sich über das biologische Geschlecht und die sexuelle Orientierung: Mann begehrt Mann. Ein Mann bleibt ein Mann, unabhängig von seinem homosexuellen Begehren und seiner homosexuellen Praxis.

Im traditionellen und hegemonialen Diskurs über Männer in Venezuela wird dagegen zwischen „echten“ Männern – „hombre“ (dt.: Mann) oder gedoppelt „hombre-hombre“ – auf der einen Seite und marico auf der anderen Seite unterschieden. „Echte“ Männer sehen männlich aus und sie verhalten sich maskulin. Ihre Männlichkeit steht im Einklang mit ihrem biologischen Geschlecht. Dazu gehört auch, dass „echte“ Männer Frauen begehren. Beim Geschlechtsverkehr werden Frauen (passiv) von Männern (aktiv) penetriert.

„Ich war immer sehr weiblich“
Maricos sind dagegen Männer, die sich nicht wie „echte“ Männer verhalten, deren Verhalten und/oder Aussehen es an Männlichkeit fehlt. Alis (Cyntias) Umfeld erkannte bereits in seiner Kindheit, dass er sich nicht gemäß der männlichen Geschlechterrolle verhielt. Fehlende Männlichkeit wird mit Weiblichkeit assoziiert. Cyntia (Ali) betont gerne, schon immer „sehr weiblich“ gewesen zu sein. Die Geschwister, Nachbarn und Dorfbewohner klassifizierten ihn als marico . Männer mehr als Frauen begegneten ihm mit Ablehnung. Die Schläge seiner männlichen Verwandten sollten Ali zudem hart und zu einem „echten“ Mann machen. Die Aggressoren wiederum konnten sich über ihr männliches Gewaltverhalten in ihrer eigenen, „echten“ Männlichkeit bestätigt sehen.

„Mir gefielen immer nur Männer“
Cyntia wusste schon als Junge, dass sie sich sexuell nur zu Männern hingezogen fühlte. Die Vorstellung von maricos beinhaltet, dass maricos keine Frauen, sondern Männer begehren. Nicht zuletzt deshalb können sie keine „echten“ Männer sein. In einem Gespräch über die gemeinsamen Masturbationsspiele der Jungen des Dorfes berichtete Cyntia von der schmerzhaften Erfahrung der erstmaligen analen Penetration durch einen älteren Dorfjungen. Ob sie im Gegenzug den Jungen ebenfalls penetriert habe, fragte ich sie. „Nein. Der marico war ich. Mir hat man es angesehen. Ich habe ihn nicht penetriert. Ich wollte immer marico sein. Und dann wird man vergewaltigt und kommt auf den Geschmack.”

„Gott hat uns geschaffen, um Männer zu befriedigen“
Wie ist eine sexuelle Begegnung zwischen marico und „echtem“ Mann zu interpretieren? Theoretisch (aber nicht ausnahmslos) penetriert der „echte“ Mann (aktiv) den marico (passiv). Passivität steht für Weiblichkeit und ist stigmatisiert. Der aktive Mann bleibt in seinem Selbstverständnis ein „echter“ Mann, trotzdem wird er tunlichst vermeiden, mit maricos in Zusammenhang gebracht zu werden. Vorausgesetzt jemand erführe von seinem sexuellen Kontakt zu einem marico , würde der individuelle Mann vermutlich von anderen Männern als „ coje-marico “ (dt.: Schwuchtel-Ficker) beschimpft und verlacht. Von Frauen würde sein Verhalten als grober Verstoß gegen die Moral erachtet. Trotzdem – davon ist Cyntia fest überzeugt – wollen ausnahmslos alle Männer Sex mit maricos . Ein zu marico äquivalenter, eigener Terminus für die Rolle des aktiven Partners existiert nicht. Marico ist eine Daseinsform, maricos zu penetrieren ist eine Praxis.

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Cyntia zu Beginn ihrer Transformation hin zu Weiblichkeit. Foto: K. Vogel

„Ich wollte einen weiblichen Körper entwickeln“
Im Alter von 13 Jahren verließ Ali (Cyntia) seine Familie und zog in die Hauptstadt Caracas, um dort ständig in einer weiblichen Rolle zu leben. Lange Haare, Make-up, lackierte Fingernägel, Mädchenkleidung, Damenschuhe, etc. markierten den Geschlechtswechsel. Ali nannte sich nun Cyntia. Cyntia spritzte sich regelmäßig weibliche Hormone, um „Weiblichkeit zu entwickeln, um mehr auszusehen wie eine Frau.“ Mit 22 Jahren ließ sie sich schließlich Industriesilikon in die Brust- und Hüftpartie sowie in die Oberschenkel injizieren, um eine noch weiblichere Silhouette zu formen. Innerhalb der Kategorie marico war Cyntia nun transformista . Transformistas definiert sie als „ maricos , die sich zu Weiblichkeit verwandeln. Wir werden geboren und machen uns. Auf natürliche Weise geht das nicht. Du versuchst – fast – alles vom Mann in dir zu eliminieren.“ Obwohl transformistas alles daran setzen, hyperfeminine Schönheit zu verkörpern, streben sie keine geschlechtsangleichende Operation der männlichen Genitalien an. Sie behaupten nicht – wie etwa „klassische“ Transsexuelle – eigentlich Frauen zu sein.

Scham und Schande: La verguenza
Männlichkeit und Weiblichkeit basieren nicht allein auf dem biologisch männlichen bzw. weiblichen Körper. Männlichkeit ist auch gebunden an männliches Aussehen, männliches Verhalten und sexuelle Aktivität. Die Weiblichkeit von maricos und transformistas liegt in ihrem nicht-männlichen bzw. weiblichen Aussehen und Verhalten sowie in ihrer sexuellen Orientierung (zu „echten“ Männern) und ihrer Praxis (passiv).

Auch wenn maricos und transformistas als kulturelle Formen von Männlichkeit in Venezuela institutionalisiert sind, heißt das nicht, dass die venezolanische Gesellschaft „homosexuellem“ Verhalten gegenüber ausgesprochen tolerant und aufgeschlossen wäre. Maricos und transformistas sind stigmatisiert und ihre Schande betrifft insbesondere ihre Familien und ihr näheres Umfeld.
Die Öffentlichkeit – Nachbarn, Passanten auf der Straße oder die Kunden des Herrn, für den Ali arbeitete – misst, bewertet und sanktioniert das Verhalten und So-Sein von maricos und transformistas vor dem Hintergrund dessen, wie „echte“ Männer sind. Über das, „was die Leute sagen“, wird Schande zugeschrieben. Im Kontext von maricos und transformistas erweist sich „ la verguenzea “ (dt.: Scham, Schande) als bedeutungsvolle, lebensnahe Vorstellung. Anders als im stereotypen mediterranen Moralsystem, in dem Scham und Schande auf das engste mit dem Bereich der Frauen verbunden sind, überkommen sie hier auch Männer. Cyntia: „In Venezuela sagt man: Ein Mann verliert jede Scham, wenn er anfängt sich als Frau zu kleiden. Aber das ist eine Lüge. Ein bisschen Scham bleibt immer.“

Weiterführende Literatur
Herzfeld, Michael (1980): Honour and Shame: Problems in the Comparative Analysis of Moral Systems. In: Man 15 (2). S. 339-351
Johnson, Lyman L.; Lipsett-Rivera, Sonya (eds.) (1998): The Faces of Honor: Sex, Shame, and Violence in Colonial Latin America. Albuquerque: University of New Mexico Press
Lancaster, Roger N. (1988): Subject Honor and Object Shame: The Construction of Male Homosexuality and Stigma in Nicaragua. In: Ethnology 27 (2). S. 111-125.
Wikan, Unni (1984) Shame and Honour. A contestable pair. In: Man 19 (4). S. 635-652
Murray, Stephen O. (1995): Machismo, Male Homosexuality, and Latino Culture. In: Stephen O. Murray (ed.): Latin American Male Homosexualities. Albuquerque: University of New Mexico Press. S. 49-70

Zur Autorin
Katrin Vogel, M.A., studierte Ethnologie in München und Barcelona. Sie arbeitet derzeit an ihrer Promotion über venezolanische transformistas, die auf mehrjähriger Feldforschung in Europa und Venezuela basiert. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut für Ethnologie in München.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008