WAHRE EHRE?

Über „gute“ und „schlechte“ Morde

Von Stéphane Voell

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Zwei Wehrtürme (kulla), in denen sich Familien vor Blutrache verschanzten, in Nordalbanien in der Nähe von Reps am Fluss Fani i Vogël, Januar 2009. Heute stehen die Türme unter Denkmalschutz Foto: A. Hemming

Ein Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (08/2009, Rainer Frenkel) irritierte mich. Der Beitrag handelte vom sogenannten Hamburger Ehrenmord-Prozess gegen Ahmad O., der seine Schwester Morsal getötet hatte. Im Text steht: „Von Ehre ist da schon lange nicht mehr die Rede. Und als das noch anders war, ging es nicht um die Ehre selbst. Sondern allenfalls um Verbrechen im Namen der Ehre.“ Der Artikel erschien vor der Urteilsverkündung und die Passage bezieht sich auf einen Hinweis des vorsitzenden Richters im Zusammenhang mit der Frage nach der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten. Der Richter verwies dabei auf mögliche psychische Probleme des Täters. Aber vorher im Prozess, „als das noch anders war“, ist die Rolle von Ehre im Mordfall mehrfach thematisiert worden.

Der Fall Morsal ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Nachdenklich stimmt aber die Überlegung des Zeit-Journalisten, dass es hier nicht „um die Ehre selbst“ gegangen sei, sondern „allenfalls“ um Taten „im Namen der Ehre“. Es gebe demnach irgendwo eine wahre Ehre, im Fall Morsal sei sie aber nicht zum Tragen gekommen. Hier war es wohl ein billiger Abklatsch der Ehre.

Die Richtung diese Argumentation (auch wenn sie sicher nicht intendiert war) erinnert mich an Aussagen von Intellektuellen und Vertretern der Zivilgesellschaft in Albanien. Nach dem Fall des Sozialismus im Jahre 1991 wurden große Zahlen von Verbrechen im „Namen der Ehre“ gezählt. Es wurde von zahlreichen Blutrachefällen besonders in Nordalbanien berichtet. War die Region wieder in der Hand des traditionellen Gewohnheitsrechts „Kanun“? Viele albanische Intellektuelle sagten: nein. Die Morde im „Namen der Ehre“ seien keine richtige Blutrache mehr. Sie hätten nichts mehr mit dem Kanun gemein, der die Blutrache genau geregelt haben soll. Es handele sich hier um Mord aus niederen Beweggründen. Die Mörder bemühten den Kanun lediglich im Nachhinein, um ihre Taten zu rechtfertigen. Das sei nicht der „wahre Kanun“.

Angenommen Ahmad O. hätte sich nun tatsächlich nach einer vom „Zeit“-Autor vermuteten wahren Ehre verhalten, wäre sein Verhalten dann ehrenvoller und begründbarer gewesen? Oder zugespitzter formuliert: Wenn ein Mord in Albanien nun tatsächlich nach dem Kanun verlaufen würde, wäre dies dann ein besserer Mord als Morde von Tätern, die den Kanun willkürlich auslegen?

Diese Frage habe ich leider nicht Prof. Ismet Elezi gestellt, auch wenn sie eigentlich auf der Hand lag. Der Jurist Elezi (Jahrgang 1920) arbeitete in akademischen Positionen und Regierungsämtern im sozialistischen Regime unter Enver Hoxha. Ich traf ihn im Herbst 2001 in den Büros einer albanischen Nichtregierungsorganisation für Konfliktvermittlung. Er beriet diese Organisationen, die sich auch mit der Versöhnung von Blutrachefällen befasste.

Einer von Elezis Forschungsschwerpunkten war das albanische Gewohnheitsrecht. Der Kanun ist ein von Generation zu Generation mündlich überliefertes Recht. Er ist einerseits ein lokales Recht, andererseits ist das Gewohnheitsrecht auch Projektionsfläche für regionale und nationale Identitätsvorstellungen. Losgelöst von konkreten Regeln und Normen steht der Kanun in enger Beziehung zu mythisch überhöhten Wertvorstellungen wie Ehre, besa (gegebenes Wort) oder Gastfreundschaft. Viele Nordalbaner stellen diese Wertvorstellungen als ihre zentralen Tugenden heraus. Nicht wenige sind stolz auf ihren Kanun und meinen, ihr lokales Recht habe es auch ermöglicht, dass in den turbulenten 1990er Jahren in Nordalbanien nicht das Chaos ausgebrochen wäre, wie es im restlichen Land vorgeherrscht hatte.

Mit Argwohn schaute Elezi auf die Blutrachefälle im Norden des Landes. Das seien nur noch Fälle von hakmarrje (Rache), das heißt Morde, die nicht mehr nach dem Kanun erfolgten, den es - Elezi zufolge - seit fünfzig Jahren auch nicht mehr gebe. Der Kanun sei während des Sozialismus ausgemerzt worden. Die hakmarrje verwende nur die Themen des Kanuns und bette darin die verbrecherischen Handlungen oberflächlich ein. Man könne bei heutigen Blutrache-Fällen keinesfalls von einer gjakmarrje (Blutrache) im eigentlichen Sinne sprechen. – Ich komme auf die Frage von oben zurück: Wenn die Blutrache-Morde denn tatsächlich im Sinne der gjakmarrje erfolgt wären, hätten man dann von „besseren Morden“ sprechen können?

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Historisches Museum in Rrëshen, Juli 2008. Vitrine zum albanischen Gewohnheitsrecht "Kanun" in der Version des Franziskaners Shtjefën Gjeçov. Foto: A. Hemming

Die „richtige Blutrache“ und der „richtige Kanun“ – sie soll es mal gegeben haben. Autoren im Sozialismus und danach verurteilen zwar die heutige Praxis des Gewohnheitsrechts: Diese sei nur eine billige Nachahmung eines großen kulturellen Monuments. In einer Zeit ohne funktionierenden zentralen Staatsapparat mit Machtmonopol sei die Blutrache durchaus ein funktionierendes Sanktionsmittel gewesen. Der Kanun soll das Grundgesetz der vorsozialistischen nordalbanischen Berge gewesen sein. Die großen Skipetaren mit ihrem Gewohnheitsrecht genossen lange Zeit eine weitreichende Autonomie. Besonders der Kanun habe die nordalbanische Gesellschaft, die unter dem Joch der Osmanen zu leiden hatte, nach Innen zusammengehalten und die Jahrhunderte langen Unterwerfungsbestrebungen zurückgewiesen. Der Kanun wird hier gewissermaßen als Verfassung beschrieben, der die nordalbanische „Stammesbevölkerung“ innerlich gefestigt habe. Spielverderber dieser sozialistischen Identitätskonstruktionen mögen einwerfen, dass die Osmanen überhaupt kein Interesse an einer tiefgehenden Eingliederung Nordalbaniens in die osmanische Verwaltung hatten und ihnen bewusst eine große Autonomie gewährt hätten. - Aber das ist eine andere Geschichte.

Nicht nur die Identitätsbastler im Sozialismus berufen sich auf den Kanun. Douglas Saltmarshe berichtet zum Beispiel von Kriminellen in Nordalbanien, die sich auf den Kanun berufen. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre brach die öffentliche Ordnung in Albanien vielerorts zusammen. Es gab Massenproteste, weil viele Albaner sehr viel Geld in hochspekulative Pyramidengesellschaften gesteckt und nach deren Kollaps ihre Einlagen verloren hatten. In dieser Phase konnten sich kriminelle Gruppierungen etablieren, die sich nicht selten auch auf den Kanun beriefen. Saltmarshe berichtet von einem Mann namens Zef aus der nordalbanischen Stadt Shkodra. Er habe einige Regeln aufgestellt, die für Neueinsteiger in seiner Verbrecherbande galten. Die Rekruten sollten besa haben, was hier soviel heißt wie eine „integre Person“ zu sein. Weiter sollten sie die albanische Tradition befolgen, das heißt den Kanun. Auch verbrecherische Banden arbeiten mit dem Kanun und den damit verbundenen Ehrvorstellungen.

Meine Gesprächspartner in Nordalbanien verwiesen immer wieder darauf, dass „Mord aus Blutrache“ in der Öffentlichkeit und vor Gericht nicht als niederträchtige Tat gesehen wurde. In Veröffentlichungen ist zu lesen, dass die Polizei um die Jahrtausendwende Mörder aus Blutrache nicht als „richtige Mörder“ gesehen hätte. Auch Staatsanwälte hätten die Täter als weniger kriminell und nicht als „richtige Mörder“ eingestuft, weil sie im Namen des Kanun gehandelt hätten. Richter urteilten über die Täter milde und auch in den Gefängnissen sollen die verurteilten Bluträcher angesehene Personen gewesen sein. Unter diesen Umständen ist verständlich, dass viele Morde in Nordalbanien von den Tätern zunächst einmal als Blutrache dargestellt werden. Es gibt auch keine zentrale Institution, die bestimmt, ob ein Verbrechen ein Mord aus Blutrache ist oder nicht.

Es existiert ein festgeschrieber Ehrkodex in Nordalbanien. Anfang des 20. Jahrhunderts hat der franziskanische Mönch Stjefën Gjeçov den Kanun, der bis dahin mündlich tradiert wurde, aufgezeichnet. Doch diese geschriebene Version ist seine Interpretation. Gjeçov vermischte Rechtsvorstellungen aus unterschiedlichen Regionen und aus verschiedenen Zeiten zu einem zusammenhängenden Kodex. Dennoch wird Gjeçov heute herangezogen, wenn es darum geht, die Regeln des Kanuns zu zitieren. Aber Gjeçovs Kanunversion ist unkommentiert nicht viel wert. Der Kanun wurde und wird weiterhin regional höchst unterschiedlich interpretiert und praktiziert. Die sozialistische Wissenschaft nutzte den Kanun genauso wie postsozialistische Kriminelle oder Mörder, die ihre Taten mit einer Art kulturellen Logik rechtfertigen wollten. Diesen willkürlichen Einsatz von Ehrvorstellungen kennt man in Deutschland auch, zum Beispiel vor Gericht – siehe oben. Die Verteidigung argumentiert bei Taten im Namen der Ehre häufig, dass der Täter normativen Ehrvorstellungen aus der Heimat folge und die Tat daher nicht auf Grund niederer Beweggründe erfolge. Die Gegenseite verweist ebenfalls auf Ehre, indem sie dem Täter im Namen der Ehre gerade ein besonders zielgerichtetes Handeln und Grausamkeit unterstellt.

Der Hallenser Ethnologe Thomas Hauschild schrieb kürzlich, dass es keinen fixierten mediterranen Ehrenkodex gebe, der Männer dazu anleite Frauen zu töten, die scheidungswillig sind oder „moderner“ leben wollten. Das ist sicher richtig. Werner Schiffauer, Ethnologe in Frankfurt/Oder, geht noch einen Schritt weiter und weist daraufhin, dass es in Bezug auf den Ehrkodex nur wenig Sinn habe, von „dem Ehrbegriff“ im Singular zu sprechen, sondern es angemessener sei, von „Ehrbegriffen“ im Plural zu sprechen. Dass jemand nach einer „Ehre“ gehandelt habe, so Schiffauer, erkläre nichts: „Man muss in jedem einzelnen Fall neu klären, worauf der Wert sich bezieht und wie er verwendet wird.“ So gibt es zwar die Vorstellung eines albanischen Gewohnheitsrechts und viele Gruppen glauben oder behaupten, sich auf diesen zu berufen, aber letztlich tragen die Menschen in Nordalbanien, (und die Wissenschaftler, Vertreter von Zivilgesellschaft, Staat und Politik oder Kriminelle) lediglich ihre individuellen Interpretation vor sich her.

Der eingangs erwähnte Beitrag in „Die Zeit“ machte mich stutzig, weil dort zu lesen war, dass im Mordfall Morsal „nicht die Ehre selbst“ Thema war. Welche Ehre? Die einzig „wahre Ehre“ gibt es nicht. Es gibt viele, sich möglicherweise überlappende Vorstellungen von Ehre. Warum, von wem und was für Ehrvorstellungen angewendet werden, muss wissenschaftlich erforscht werden. Die Ethnologie mit ihren langfristig angelegten Tiefenanalysen ist dafür gut gerüstet. Schiffauer meint, dass jeder Fall mit Tatmotiv „Ehre“ unterschiedlich ist und neu untersucht werden müsse. Nach Hauschild zeigen Forschungen, dass weniger ein „irgendwie funktionierendes traditionales Umfeld“ Verbrechen im Namen der Ehre erkläre, sondern gerade die „Krise des funktionierenden Familienverbandes“, einen Rahmen für das Ehrverbrechen setze.

Eines gilt es noch zu betonen: Wenn die Ethnologie Verbrechen, die im Namen einer wie auch immer gearteten Ehre erfolgen, untersucht, dann heißt dies nicht, dass hier Gründe gesucht werden, eine Tat (besonders vor Gericht) zu rechtfertigen. Ich bin der Meinung, dass das Tatmotiv Ehre in deutschen Gerichten nichts verloren hat, die Erforschung dieses Themas aber unbedingt erforderlich ist.

Weiterführende Literatur
Hauschild, Thomas (2008): Ritual und Gewalt: Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften. Frankfurt/M: Suhrkamp
Saltmarshe, Douglas (2001): Identity in a Post-communist Balkan State: an Albanian Village Study. Aldershot: Ashgate
Schiffauer, Werner (2008): Parallelgesellschaften: Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript
Voell, Stéphane (2004): Das nordalbanische Gewohnheitsrecht und seine mündliche Dimension (Reihe Curupira, 17). Marburg: Curupira

Zum Autor
Dr. Stéphane Voell, Ethnologe am Institut für Vergleichende Kulturforschung – Religionswissenschaft und Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg. Promotion zum postsozialistischen traditionellen Recht in Nordalbanien. Forscht nun zur Praxis des traditionellen Rechts in Georgien.



Siehe auch die Artikel:


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008