VOM WEITEN FELD DER KÖRPERLICHKEIT ZUR FINALEN BODY-MODIFICATION

Zu Erich Kastens: Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen

Von Igor Eberhard

Vom weiten Feld der Körperlichkeit zur finalen Body-Modification
Bei einer Chest-Suspension wird der Betroffene an zwei durch die Brust gebohrten Haken emporgezogen. Zeichnung: U. Herbert. In: Erich Kasten (2006), S.88, Abb. 56.

„Das ist ein zu weites Feld“, sagt der Vater der verstorbenen Protagonistin im Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane zu seiner Frau. „Das ist ein zu weites Feld.“ Ein zu weites Feld ist es für den Psychologen Erich Kasten zum Glück nur stellenweise. Sein Buch „Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen“ quillt förmlich über vor Informationen und Material aus allen nur irgendwie denkbaren Bereichen der Körpermodifikation. Es ist ein gutes, informatives und nützliches Buch für alle, die sich für dieses Gebiet interessieren.

Körperveränderungen sind ein manifestes, jeder Kultur eingeschriebenes Bedürfnis. Sie sind nicht nur Mode, sondern auch gelebte, zum Teil auch re-kreierte Form der Menschlichkeit. In der einen oder anderen Form sind sie etwas allen Menschen gemeinsames. Die Ausformung ist jeweils an die lokale, soziale, ethnische und historische Situation der Betroffenen gebunden. Körperformungen, die verschönern, schmücken, schützen (vor wem oder was auch immer) und Signalwirkung haben sollen – also Status, Leistung, Emotionen anzeigen sollen - gibt es weltweit zu allen Zeiten und an allen Orten.

Schon die frühen europäischen Entdeckungsreisesenden wie James Cook, Georg Forster und Co. waren fasziniert von den Körpergestaltungen anderer Kulturen. Auch in der Sozial- und Kulturanthropologie hat die Beschreibung und Untersuchung von Körperverzierungen und Körpergestaltungen eine lange Tradition.

Der Schwerpunkt bei Erich Kastens Buch liegt auf der personalen Identität und wie sie durch Körperveränderungen ausgebildet und verändert wird. Die größte Stärke von „Body-Modification“ ist zugleich auch die größte Schwäche: Die Materialfülle aus den unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen und die Begriffsdefinitionen. Der Autor hat den Begriff Body-Modification äußerst weit gefasst. Wahrscheinlich ist es sogar ein „zu weites Feld“. Er greift über das durchschnittliche Alltagsverständnis dieser Dinge hinaus, indem er nicht nur Tattoos (den Begriff der „Tatauierung“ verwenden fast ausschließlich Ethnologen und zum Teil Pacific Islanders) und Piercings (Perforationen) untersucht. Kasten geht sogar weiter als viele Aktive der “Modern Primitives“ oder ”BodyMod“-Szene, für die neben dem eben schon erwähnten, vor allem Praktiken wie die derzeit modernen Suspensionen (das Aufhängen an mit Haken durchstochener Haut an Seilen), Implantate (Additionen), Fleischtunnel (Dehnung von Piercings in Weichteilen und Vergrößerung der gepiercten Öffnungen), Brandings und bestimmte Skarifizierungen („Cuttings“) (wie etwa Schmucknarben oder das Spalten der Zunge) relevant sind.

Kasten zählt zum Begriff Körpermodifikation sowohl dauerhafte körperplastische Praktiken wie (Selbst-) Amputationen (Subtraktionen), Genitalveränderungen (zum Beispiel Penisvergrößerungen) und Genitalverstümmelungen (wie Beschneidungen), als auch temporäre Schmuckformen wie Gewichtsveränderungen, Schminken, Frisuren und Schmuck. In welche dieser beiden Kategorien Schönheitsoperationen und Tätowierungen fallen, ist fraglich (vergleiche auch das Kapitel „Body-Modification und Sucht“).

Dabei beschreibt er den eher traditionellen und ritualisierten Kontext genauso wie den Alltag und die Praxis aktueller, städtischen Sub- und „Mainstream“-Kulturen. Gut ist, dass die alltäglichen, urban-gesellschaftskonformen Techniken wie Bodybuilding, Diäten, Korsetts und Schönheits-OPs nicht ausgeklammert werden. Leider macht er noch einen weiteren Schritt. In seiner Untersuchung nimmt er auch eher krankhafte und destruktive körperliche Veränderungen wie Magersucht, Kastrationen, Selbstkannibalismus und die Verstümmelung des eigenen Körpers, wie Selbstvernähungen der Geschlechtsorgane oder des Mundraumes auf. Das aber sind Krankheitsbilder und Folgen eines gestörten Selbstwertgefühls. Vor allem sind es Einzelfälle von Selbsthass, die kein Phänomen, keine bewusst gewählte Einstellung beschreiben. Aus psychologischer Sicht ist dies durchaus interessant, gehört jedoch nur bedingt - beziehungsweise genau definiert und umrissen - in diesen Kontext (dies geschieht leider erst im hinteren Teil des Buches). Es besteht ein Unterschied zwischen der „Feier“ des Körpers und seiner Zerstörung, fast könnte man dies hier vergessen.

Ein letzter Punkt auf seiner allumfassenden Reise durch die Körperveränderungen ist das Leben selbst: Leben, Krankheit und Altern als finale BodyMod. Muss nicht sein. Es ist außerdem in den allermeisten Fällen weder selbst gewählt, noch erwünscht. Eine schärfere und engere Begriffsbeschreibung hätte ein gewisses Maß an Beliebigkeit verhindern können, die sich dadurch eingeschlichen hat.

Im Kapitel „Motive für Body-Modification“ führt Erich Kasten eine lesenswerte, psychologische Beschreibung von Körperveränderungen durch. In den Kapiteln „Normalität und Body-Modification“ und „Body-Modification und Selbstverletzung“ gelingt ihm die Ein- und Abgrenzung von psychischen Abweichungen und BodyMod. Das ist in dieser Form neu und macht mit den Wert dieses Buches aus. Diese Abschnitte sind notwendig und gleichermaßen ein Highlight. Kasten bemüht sich nicht zu werten; begegnet allen Erscheinungsformen der Body-Modification weitgehend mit Respekt und mit Kenntnis. Gut! Durch die weitgehend deskriptive Breite (nicht unbedingt Dichte) seines Materials entsteht dennoch – wiederum auch durch die Überdehnung des Begriffes „Body-Modification“ ins Beliebige – der Eindruck eines Sammelsuriums. Er bringt eine Fülle von zumeist unkommentierten Zitaten, setzt Aussagen über soziale Ausgrenzung durch Tattoos, neben Aussagen von Teenagern über Selbstverstümmelungen. Dieses nebeneinander Gewusel schafft leider kein vereinendes Miteinander.

Erich Kasten ist Psychologe und kein Sozial-/Kulturanthropologe, das heißt seine Begrifflichkeit ist aus der Sicht unserer Wissenschaft manchmal etwas fragwürdig, ebenso Termini wie „Ureinwohner“, „archaisch“, et cetera. Das sind jedoch Schwächen, keine Fehler. Gerade die psychologische und medizinische Betrachtungsweise ist, abgesehen vermutlich für Fachkreise, neuartig und lehrreich.

Die Illustrationen und Bilder von „Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen“ sind zarten Seelen nicht unbedingt zur Betrachtung anzuraten. Manche sind schlichtweg grausig und gehen zum Teil sogar über meine Schmerzgrenze hinaus. Dies ist keine notwendige Folge der Thematik, sondern einer bestimmten Bildauswahl und führt zu einer mit Vorsicht zu genießenden Optik.

Fazit: Ein großes Fragezeichen und ein oder zwei Ausrufezeichen bleiben in einigen größeren Abschnitten des Buches. Dennoch für alle, die sich für Körper und ihre Formungen und Veränderungen in verschiedenen Krankheitsbildern und Moden, in der eigenen oder anderen Kultur interessieren, lohnt sich dieses Buch.

Erich Kasten (2006): Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. München und Basel: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 3-497-01847-3. Preis: EUR 29, 80

Zum Autor

Igor Eberhard, M. A. Kulturanthropologe, Journalist, Künstler. Studium der Ethnologie, Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Mainz und an der Universität Wien. Mitarbeiter beim Tattoo Guide Europa. Forschungsstipendium der Universität Wien zum Thema ta moko, Maori Tätowierungen. Seit 2006 Dissertant an der Universität Wien.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008