MIGRATION UND KULTURWANDEL IN ZEITEN DER GLOBALISIERUNG

Von Dieter Kramer

Migration und Kulturwandel in Zeiten der Globalisierung
Pak Dar-ul-Islam. Prozession auf der Münchenerstraße in Frankfurt/M. 2002. Foto: Heiko Arendt

Migrationen der verschiedensten Art, freiwillig, halb freiwillig und unfreiwillig, gehören zur Menschheitsgeschichte. Angesichts der Dynamisierung solcher Prozesse in der „Globalisierung“ werden sie Thema von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Dabei wird bewusst, wie Kulturen sich durch Migration wandeln. Auf den verschiedensten Ebenen, von der Religion über die Literatur und Künste, populäre Formen wie „Unterhaltungsmusik“ und Erzählmotive eingeschlossen, bis zur materiellen Kultur, kann verfolgt werden, wie Migration zum Wandel beiträgt.

Migranten sind eine Vorhut der Globalisierung und der interkulturellen Kommunikation. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass in der Welt der Globalisierung die Orientierung an traditionellen Einheiten wie Kulturen oder Staaten, Ethnien oder Völkern, Nationen oder geographischen Lebenswelten auf kultureller wie auf politisch-gebietskörperschaftlicher Ebene nicht mehr trägt. Deshalb kann uns die Auseinandersetzung mit den kulturellen Folgen der Migration Hinweise geben für angemessene Strategien für den interkulturellen Dialog und für die Politik der gemeinsamen globalen Verantwortung.

Migranten verlassen ihre Heimat, weil man sie anderswo braucht, weil sie sich eine Verbesserung ihrer Lebensmöglichkeiten erhoffen oder weil sie durch Krieg, Gewalt und Unterdrückung vertrieben werden. Wie bei Juden in der Diaspora sind ihnen Sprache, Religion, Kultur oder Netze der Verwandtschaft und Herkunft das kostbarste Gut, das sie zur Sicherung ihrer Identität und Würde mit sich tragen. Wer versucht, sie in eine ihnen fremde „Leitkultur“ oder in das Korsett einer von außen definierten und konstruierten Kultur zu pressen, nimmt ihnen diesen letzten und unverzichtbaren Schutz und provoziert damit Konflikte, wie sie durch Gegenwehr oder durch Desorientierung verursacht werden.

Migrationsprozesse haben Ursachen in der Herkunftsregion wie in den Zielregionen. Nicht zuletzt spielt die demographische Entwicklung dabei eine Rolle: Länder mit geringer Geburtenzahl wie Deutschland ziehen Menschen aus Regionen mit raschem Bevölkerungswachstum an. Die gängigen Theorien zur Migration beschränken sich nicht auf die einfache Auflistung von Schub- und Sogfaktoren (Push and Pull). Geht man z. B. der Frage nach, warum nicht alle, die arm sind, in die reicheren Regionen wandern, erkennt man, wie das Interesse an Migration bei den Auswanderern und die Nachfrage nach Migranten in den Zielländern eine eigenständige Dynamik entfalten. Migration ist erzeugt und geformt, und sie bedarf der informellen Infrastruktur von Netzwerken ("Kettenmigration") und der formellen Infrastruktur von Verkehr, Regelungen und Gesetzen.

An der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland lassen sich unterschiedliche Phasen des Interesses an der Arbeitsmigration ablesen: Zunächst ging es darum, ob man sich mit einer eher als schlecht empfundenen Realität abfinden sollte. Das Pathos von der erzwungenen „Entwurzelung“ und die Kritik an den Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten standen im Vordergrund. Allmählich wurde dann klar, dass es sich bei der Arbeitsmigration nicht um eine Ausnahme handelt, sondern um eine Normalität, mit der es sich zu arrangieren gilt. In einer Situation, in der es in Deutschland mehr Menschen mit außerdeutscher Geburtsherkunft gibt als in den USA, kann Deutschland sich leicht als Einwanderungsland begreifen. Und während noch über „Leitkultur“ und die Formen der Integration nachgedacht wird, weisen neue Interpretationen darauf hin, dass Deutschland mit der Arbeitsmigration und anderen Formen der Zuwanderung in Europa angekommen ist: Wenn so viele Menschen aus europäischen Staaten in Deutschland leben, wird dieses Land zu einem lebendigen Beispiel europäischer Vielfalt in der Einheit. Und das setzt sich fort: Migranten aus Regionen außerhalb Europas sind die Vorhut einer praktizierten Globalisierung.

Wenn Kulturwissenschaften und Ethnologie sich mit Migration beschäftigen, relativieren sich die Vorstellungen des Zusammenhanges von Raum und Kultur. In der Europäischen Ethnologie hat die Überwindung der völkischen Konzepte der Minderheitenforschung dazu beigetragen, neue dynamische Konzepte von Kultur und Raum zu entwickeln. In empirischen Studien erhalten „Kulturräume“ fließende Grenzen, die mit Verkehrsströmen und Herrschaftsverhältnissen zusammenhängen.

Räume werden „konstruiert“ und geschaffen. Auch die Ethnologie hat die früher gängigen Kulturmodelle überwunden, bei denen jeder Kultur eine eigene geographische Einheit zugewiesen wurde (Container-Modelle). "Die vermeintliche Einheit von Kultur, Ort bzw. Raum und Sprache hat sich als Trugschluss erwiesen. Kultur ist beweglich und kann, ohne dass sich die Menschen selbst über große Strecken wegbewegen, mittels Medien der Kommunikation und des Transportes raumübergreifend weitervermittelt, modifiziert, neu geschaffen und auch instrumentalisiert werden. Umgekehrt haben Menschen in Bewegung auch immer Kultur in ihrem Gepäck; sie tragen sie mit sich, bewahren sie, nehmen Fremdes auf, erfinden Neues und handeln ihre Kultur mit ihrer jeweiligen sozialen Umwelt kontinuierlich aus." (Brigitta Hauser-Schäublin/Ulrich Braukämper (Hg.): Ethnologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin: Dietrich Reimer 2002, S. 9).

Kulturelle Folgen aktueller Migrationsprozesse werden benannt mit Begriffen wie Kreolosierung, Hybridität, Kulturwandel. Genauso spannend wie die Frage, warum nicht alle Armen in die reichen Regionen wandern, ist die Frage, warum nicht alle Wandernden sich assimilieren, sondern Kultur und Religion trotz mannigfacher unübersehbarer Wandlungen wichtige Orientierungen bleiben. Wir beobachten Kosmopolitismus und moderne Kulturmoden, bei denen exotische kulturelle Elemente als „Lifestyle-Ornament“ auftauchen. Aber kulturelle und religiöse Prägungen bleiben oft auch bei Arbeitsmigranten auf erstaunliche Weise im Alltag dauerhaft, wie sich am Beispiel der Religion beobachten lässt.

Kulturproduzenten aller Art gehören zu den privilegierten und am meisten beachteten Migranten. Alltagskultur wie Künste verändern sich unter dem Einfluss der Migrationen. Die allgemeine „Gefräßigkeit“ der Künste nimmt dabei keine Rücksicht auf Wurzeln und Herkunft dessen, was verwendet wird. Künste sind immer auch Verarbeitung und Gestaltung von Lebenswelt, werden somit auch von den Migrationen aktiv und passiv beeinflusst.

Die Dynamik von Globalisierung und Wachstum hat, gewollt oder ungewollt, den Menschen in allen Teilen der Welt eine Menge von Problemen aufgehalst, mit denen sie in gemeinsamer Verantwortung umgehen müssen. Weder die benachteiligten Regionen der Welt noch die Migranten dürfen allein die Verlierer in diesen Prozessen sein. Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit verlangen von den industrialisierten wie den wenig industrialisierten Regionen die Gestaltung neuer Lebensformen.

Migranten arbeiten und leben mit uns in einem Land, für das wir mit ihnen gemeinsam verantwortlich sind. Migration mündet nicht in die Integration in eine „deutsche“ Kultur, sondern mit der neuartigen Mobilität im Zeichen der Globalisierung entsteht eine Lebenswelt, in der sich zahllose Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition auf vielen Ebenen in so früher nicht praktizierter Form begegnen und auf die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen mit einer kreativen Fortentwicklung ihrer Kultur und Lebensweise reagieren.

Zukunftsfähigkeit entsteht mit Handlungsstrategien, die auf der Basis realitätsnaher Einschätzungen der aktuellen Situation beruhen. Das heißt Trends müssen erklärt und die Interessen und Motive der Partner begreifbar gemacht werden. Es bedarf der Fähigkeit der Kommunikation mit den Anderen. Auch wenn "Verstehen" im umfassenden Sinne nicht möglich ist, wird dennoch gemeinsame Praxis denkbar und realisierbar.

Heute ist es angesagt, Begriffe, Symbole und Metaphern für eine polyzentrische Welt der Globalisierung zu entwickeln. Je stärker sich weltpolitische Akteure kulturell definieren, desto mehr wird die Fähigkeit interkultureller Kommunikation Bestandteil einer Politik des "aufgeklärten Eigeninteresses". Gefordert wird die Fähigkeit, trotz wechselseitig anerkannter fundamentaler Unterschiede in den jeweiligen Werten und Standards miteinander in immer mehr Teilbereichen sachbezogen zu kommunizieren. Die Anwesenheit von Migranten aus aller Welt in unserem Land hilft uns dabei.

Auf Aspekte wie die hier genannten machen Ethnologen und Kulturwissenschaftler aufmerksam. Es lohnt sich deshalb, die weitgehend auf Sozialwissenschaften orientierten Betrachtungsweisen der Migration zu überwinden durch stärker auf Kultur sich beziehende Interpretationen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008