VOM KLEINEN DIENER ZUM KLEINEN TYRANNEN

Wie sich im Iran Kindheit ändert

Von Erika Friedl

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Mit zehn Jahren, 1981, hatte dieses Mädchen (Fateme), die Älteste von sieben Kindern, in einem Dorf in Iran bereits Brot backen gelernt und musste hart im Haus arbeiten. Sie ist heute Ärztin. Foto: R. Löffler

Im Iran bekommen Kinder langsam Seltenheitswert. Innerhalb von zehn Jahren fiel die Geburtenrate von einer der höchsten auf eine der niedrigsten in der Dritten Welt. Trotz deutlicher Klassenunterschiede in der Kinderkultur ist der Trend überall gleich, denn kleine Familien sind “chic”, und Kinderreichtum ist ein Zeichen von Rückständigkeit. Im Rechtswesen der islamischen Republik ist außer Abtreibung jede Geburtenkontrolle erlaubt. Schwangerschaftsverhütung wird sogar vom Staat gefördert und ist beispielhaft erfolgreich. Schulkinder sagen den Eltern, dass sie sich schämen, wenn sie viele Geschwister haben. Jeder kann die Vorteile der Kleinfamilie aufzählen. Ältere Leute erinnern sich allerdings mit Stolz und Wehmut an die Zeit vor nur einer Generation, in denen zehn Kinder im Haus keine Seltenheit waren.

Nach dem Sturz des Schah-Regimes wurde Geburtenkontrolle als eine Intrige des Westens gebrandmarkt. Sie sei nur dazu da, um den Iran zu schwächen. Wahrer Kinderreichtum dagegen sei das Zeichen einer spirituell gesunden Gesellschaft. Das passte auch in ein populäres traditionelles Argument: Man sagte, Männer bräuchten Söhne als Arbeitshilfe - die Geburt von Töchtern müsste man dabei eben in Kauf nehmen; außerdem brauche jedes Kind zur politischen Rückenstärkung Geschwister. Diese Einstellung war in den Köpfen fest verankert, obwohl sie empirisch leicht zu widerlegen war. Denn Ehepaaren, die keine oder nur wenige Kinder hatten, ging es gerade deshalb wirtschaftlich besser als anderen. Und je weniger Söhne den Vater beerbten, desto weniger wurde gestritten. Die Einstellung, dass Söhne als die Träger der Familie galten, führte zur Unterbewertung von Mädchen und Frauen bis hin zur Tötung neugeborener Mädchen. Söhne waren die Stütze des Vaters. Ihr Wert als Personen wurde an ihrem Gehorsam dem Vater gegenüber, ihrer gutwilligen Arbeitsleistung und später an ihrem wirtschaftlichen und politischen Erfolg bemessen. Töchter lernten daheim alles, was eine Frau brauchte, um einen Haushalt zu führen. Sie konnten ihrer Mutter aber nicht viel Hilfe leisten, denn kaum waren sie kompetente Hausfrauen, kam ihr Können dem Haushalt des Ehemannes zugute. Auch wenn eine kleine Tochter der Liebling des väterlichen Hauses war, so war sie dennoch eine Belastung, denn sie musste zugunsten einer anderen Familie genährt und belehrt werden. Eine Tochter wurde früh verheiratet und damit der Schwiegermutter überstellt, die in ihr eine billige Dienerin hatte. Man fand, dass je jünger die Braut war, desto leichter war sie der Schwiegermutter und dem Ehemann unterzuordnen. Willige, widerspruchslose Arbeit, Bescheidenheit und Geduld wurden an einer Braut geschätzt.

Gezielte wie auch unbewusste Vernachlässigung kleiner Mädchen, hohe Sterberaten Gebärender, hohe Selbstmordraten unter Frauen und Polygynie besonders in reichen Familien führten zu Frauenmangel. Dieser, zusammen mit der im Koran gegebenen Erlaubnis, ein Mädchen mit neun Jahren verheiraten zu können, begünstigten ein niedriges Heiratsalter für Mädchen. Alle Kinder wurden im Bewusstsein erzogen, dass Gehorsam, Heirat und Kinderreichtum die Grundsteine einer wohl regulierten und gottgefälligen Gesellschaft seien. Ein freiwilliges Single-Leben war praktisch undenkbar. Ob reich oder arm, schön oder hässlich, gesund oder kränklich, fast für jeden wurde ein Ehepartner gefunden. Obwohl kaum jemand dieses System kritisch hinterfragte, so stellt sich in neueren Memoiren und Autobiografien von Iranern heraus, dass anscheinend alle Betroffenen - Eltern, Schwiegereltern, junge Brautleute - an diesem Zustand etwas auszusetzen hatten und darunter litten.

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Fatemes Tochter Shilan, 5 Jahre alt und ein Einzelkind, wird dagegen auf ein Leben in Wohlstand vorbereitet. Ausgelassen spielt sie hier mit ihrem Vater. Foto: R. Löffler

Verglichen mit diesen Traditionen, sind die Veränderungen im Lebensstil junger Menschen in den letzten zehn Jahren im Iran geradezu dramatisch. Fast 90 % aller Kinder gehen heute in die Grundschule. Es studieren mehr junge Frauen als Männer. Es gibt fast so viele weibliche Ärzte und Lehrer wie männliche. Das Heiratsalter für Frauen steigt rasch, die Kinderzahl pro Frau sinkt. Viele traditionelle Berufe und die männlich/weibliche Arbeitsteilung verschwinden und damit auch die Notwendigkeit oder der Wunsch, Kinder für diese Arbeiten auszubilden. Kinder sind nicht mehr Diener in Haus und Feld und Altersvorsorge für die Eltern, sondern ein Luxus. Besonders in der Mittelklasse werden sie gut ernährt und gekleidet, umsorgt und behütet, und auch das schlechteste Benehmen wird mit Toleranz erduldet, aus Angst, die kleinen “Teufel”, wie die Eltern sagen, könnten sonst seelischen Schaden nehmen. (Bei den Armen jedoch ist Kinder-Arbeit so hoch, dass Regierungsstellen jetzt mit Besorgnis davon Notiz nehmen). Kinder stehen aber unter gewaltigem Druck, gut zu lernen, damit sie in den Universitäten in einem Fach aufgenommen werden, das zu Wohlstand, wenn nicht gar Reichtum, führt. Diese elterlichen Wünsche resultieren daher, dass die traditionellen Einkunftsmöglichkeiten erschöpft sind. Land wurde bei den Erbteilungen der letzten Generationen bis zur Unwirtschaftlichkeit zerstückelt, und der Konkurrenzdruck liegt schwer auf Handwerkern und Kaufleuten. Da man heute ohne Kapital wirtschaftlich nicht mehr erfolgreich sein kann, die Lebenshaltungskosten inflationär steigen und der erstrebte Lebensstandard immer höher wird, sind Verschuldung und Arbeitslosigkeit enorm hoch (bis zu 80 % der jungen Leute haben keine Arbeit). In dieser Situation halten die meisten Eltern Bildung und Ausbildung für den einzigen Weg in die erstrebte Mittelklasse, wenn nicht überhaupt für eine Notwendigkeit zum Überleben. Schon aus diesen wirtschaftlichen Gründen steigen das Heiratsalter und die Zahl der Männer und Frauen, die gar nicht oder spät heiraten.

Eine neue Kategorie junger Leute entstand, vergleichbar mit unseren Teenagern im Westen, aber ohne feste Regeln, Gebräuche und Erwartungen. Sie umfasst junge Menschen, die unverheiratet sind, ohne viel Verantwortung (verglichen mit den Eltern und Großeltern in diesem Alter), arbeitslos, ohne Einkommen, daheim verwurzelt, gewohnt, von Eltern und Verwandten verwöhnt und zugleich bevormundet zu werden, gelangweilt, mit viel Freizeit, aber wenig Möglichkeiten, sie sinnvoll zu gestalten, und ohne legitimen Zugang zu Gleichaltrigen des anderen Geschlechtes. Besonders in den wohlhabenden Häusern in Großstädten (allen voran in Teheran) hat sich in den letzten Jahren eine Teenager- und Twens-Kultur gebildet, die sich an den (meist übertriebenen) Erzählungen von Verwandten orientiert, die aus Europa und Amerika zu Besuch nach Iran kommen. Die “Los Angeles Cousins”, wie sie oft genannt werden, bringen nicht nur die neuesten Moden, Kosmetika, Tänze und Drogen mit, sondern bestimmen die Szene. Dieser Lebensstil wurde zur Norm, mit der alles daheim gemessen wird. Damit sieht für viele junge Menschen das Leben in Iran grau, eng, und trostlos aus, während das Leben im Westen als frei und voller Möglichkeiten erscheint, besonders der Möglichkeit, reich zu werden. Dieser Lebensstil prägt das Wunschdenken von Millionen.

Wie überall sonst auf der Welt, wo Ehepaare sich auf ein oder zwei Kinder beschränken müssen, wenn sie komfortabel leben wollen, wird den Kindern in der iranischen Kleinfamilie “alles” geboten, was gut und teuer ist. Sie werden mit Spielzeug, Lern-Möglichkeiten und Erfahrungen überschüttet. Zehnjährige Jungen chauffieren das Auto des Vaters, Mädchen verlangen Schmuck und schöne Kleider, teure Computerspiele sind in fast jedem Mittelklasse-Haushalt zu finden, Privatschulen sind überlaufen. “Früher haben Kinder für die Eltern gearbeitet, jetzt arbeiten Eltern nur für die Kinder”, hört man immer wieder, zusammen mit dem Hinweis, dass die respektlosen Kleinen im Haus jetzt die Herrscher sind und die Eltern ihre Diener. Die Welt steht auf dem Kopf.

Zwar empfinden Kinder die elterliche Kontrolle als drückend, und junge Leute klagen über mangelnde „Freiheit“, aber die Zeiten langer Arbeitsstunden oder der widerspruchslos hingenommenen arrangierten Heirat sind vorbei. Mädchen prahlen damit, nicht kochen zu können, und nutzen ihr Einspruchsrecht in der Wahl des Ehepartners, wenn sie nicht überhaupt selbst auf der Suche nach Männerbekanntschaften sind. Ehe und Kinder sind längst nicht mehr selbstverständlich, und die allein stehende Frau mit eigenem Einkommen ist zu einem trotzigen Ideal geworden. Denn in der von Drogen und Arbeitslosigkeit durchsetzten Männer-Gesellschaft lassen sich reiche, gesunde, gut aussehende, “moderne” potentielle Ehemänner, die mehr Partner als Herrscher im Haus sein wollen, immer schwieriger finden. Junge Männer klagen über unrealistische, in schwindelnde Höhen geratene Ansprüche moderner, junger Frauen, und diese wiederum klagen über die jungen Männer, die weiterhin, wie schon ihre Großväter, eigensinnig ihre Ehefrauen als Dienerinnen betrachten. Ein doppelter Standard ist entstanden: Für ihre Tochter wünschen sich Eltern einen Mann, der ihr erlaubt, zu studieren, zu arbeiten und finanziell unabhängig zu sein, aber für ihren Sohn suchen sie eine schöne Jungfrau ohne Karriere-Ambitionen, die sich kompetent und leise in den Haushalt des Mannes einfügt.

Diese widersprüchlichen Ideale haben zu einer Heiratskrise im Iran geführt, die überall diskutiert wird. Junge Männer können aus wirtschaftlichen Gründen nicht heiraten, junge Frauen sind wählerisch. Kinder werden in diesen widersprüchlichen Erwartungen erzogen. Der Druck, “gut” zu heiraten oder in der Schule die “Nummer eins” zu sein, ist so groß, dass viele, besonders junge Männer, ihm entfliehen. Tausende versuchen jahrelang, beim Universitätsexamen gut genug abzuschneiden, um in ein renommiertes Studienprogramm aufgenommen zu werden. Die reichen, jungen Leute vergeuden, wie sie selbst sagen, ihre Jugend mit Flirts und wilden Parties. Eine große, hektische Traurigkeit liegt über dieser Jugend. Eltern wissen nicht recht, für welche Welt sie ihre Kleinen nun erziehen sollen. Die Welt der persischen Ideale mit Mitgefühl, ausgesuchter Höflichkeit, Besinnlichkeit und arbeitsamem Streben verschwindet schnell am Horizont, während es in der friedlosen Konsumentengesellschaft des Westens nur noch Gewinner und Verlierer zu geben scheint. Auch wenn sich die Ideologen der islamischen Republik dagegen stemmen, so finden die meisten Eltern, dass sie ihre Kinder doch eher auf diese neue Weltordnung vorbereiten sollten.

Zur Autorin

Prof. Dr. Erika Friedl, Western Michigan University, USA. Friedl führt seit 40 Jahren ethnographische Feldarbeiten im Iran durch. Über Kinder im Iran hat sie veröffentlicht: Children of Deh Koh. Young Life in an Iranian Village. Syracuse University Press, Syracuse, New York, 1997.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008