ETHNOLOGIE UND TOURISMUS

- die andere Perspektive

Von Kundri Böhmer-Bauer

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Der Ngorongoro-Krater zählt zum UNESCO Weltnaturerbe. Besuchergebühren dienen zu seinem Schutz. Foto: K. Böhmer-Bauer

Lange hatten EthnologInnen Berührungsängste in Bezug auf die freie Wirtschaft generell und die Touristik im Besonderen. Aufgrund des hohen mit dem Fach verbundenen Ethos arbeiteten AbsolventInnen lieber als schlecht bezahlte wissenschaftliche Hilfskräfte, Taxifahrer, wählten die Mutter- bzw. Vaterrolle oder wichen in fachfremde Branchen aus. Dadurch wurden Arbeitsfelder im Tourismus, für die EthnologInnen prädestiniert waren und sind, nicht nur Menschen mit weniger Kenntnissen (und Skrupeln) überlassen, sondern es wurde auch die Chance verpasst, Richtungen und Trends mitzubestimmen. Inzwischen zeichnet sich bei der jüngeren Ethnologen-Generation ein steigendes Interesse an der Tourismusforschung und Tourismuspraxis als mögliche Arbeitsfelder ab. GATE (Gemeinsamer Arbeitskreis Tourismus und Ethnologie e. V.) widmete sich mit der Konferenz „ETHNOLOGIEsch IM TOURISMUS“ 2004 in Berlin der Diskussion um Verknüpfung von Theorie und Praxis.

In den Ausführungen zur Idee und zum Hintergrund der GATE-Konferenz wurde die Bedeutung des Einsatzes von EthnologInnen im Ferntourismus hervorgehoben. Um der Notwendigkeit dieses Einsatzes im Tourismus Nachdruck zu verleihen, wurden die Folgen des Ferntourismus „aus ethnologischer Perspektive“ ausgesprochen negativ gekennzeichnet. Dieses Paper der GATE-Konferenz soll im Folgenden kritisch hinterfragt werden, aber durchaus im Sinne einer produktiven Annäherung von Ethnologie und Tourismus in der Praxis.

In dem Paper zur GATE-Konferenz wird allgemein vom Tourismus gesprochen. Nicht nur dass es den Tourismus nicht gibt (denn Tourismus gabelt sich in zahlreiche Zweige, die sich an spezifische Zielgruppen richten, mit eigenen Bedürfnissen und Reisemotiven), GATE kann auch nicht die ethnologische Perspektive für sich vereinnahmen, da mehr als eine existiert. Außerdem sind auch die angeblich vom Tourismus verursachten Probleme und Konflikte nicht oder nicht nur im Tourismus verwurzelt.

GATE prangert die Gefahr der alleinigen Abhängigkeit der lokalen Ökonomie vom Tourismus an und sieht diesen als unsicheren Wirtschaftsfaktor, zum Beispiel aufgrund von Saisonalität oder Auswirkungen möglicher politischer Instabilität. Zweifelsohne haben terroristische Anschläge (zum Beispiel in Ägypten) oder Krankheiten (wie SARS in China) die in der Tourismuswirtschaft Beschäftigten in den betroffenen Ländern durch Ausbleiben von Besuchern existenziell bedroht. Doch gab es in vielen Teilen der Welt vergleichbare Situationen in Vor-Tourismus-Zeiten durch Missernten bei Abhängigkeit vom Bodenbau (Hagel, Seuchen, Heuschreckenschwärme), durch Viehverluste bei Nomadenvölkern (Rinderraub, Epidemien, Weide- und Wassermangel) oder kriegerische Überfälle (Zerstörung oder Raub der Lebensgrundlagen). Das Problem einer alleinigen ökonomischen Abhängigkeit ist also nicht durch den Tourismus entstanden, sondern hat sich auf diesen verlagert.

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Die traditionelle Goldstickerei in Usbekistan wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjeunion wieder belebt. Sie wird auch an Touristen verkauft. Foto: K. Böhmer-Bauer

Weiterhin kritisiert GATE ungerechte Arbeitsbedingungen in der Tourismusindustrie: schlecht bezahlte Jobs für die lokale Bevölkerung und Managementpositionen für auswärtiges Personal. Dieser Vorwurf ist teilweise – zum Beispiel im Hinblick auf Tourismuskonzerne – gerechtfertigt. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob in allen Ländern bereits qualifiziertes Personal für Managementaufgaben zur Verfügung steht. Ganz abgesehen davon, dass nicht jeder Manager werden kann und will, schafft Tourismus Arbeitsplätze unterschiedlichster Anforderungsprofile, die, genau wie in anderen Wirtschaftszweigen, unterschiedlich entlohnt werden (das Zimmermädchen verdient in Deutschland ebenfalls weniger als die Hotelmanagerin). Die diversen Arbeitsfelder eröffnen damit auch Menschen mit niedrigem Bildungsstand Chancen, im Tourismussektor Arbeit zu finden; und ein schlecht bezahlter Job ist in der Regel der Alternative – nämlich keinen Job zu haben – vorzuziehen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang ebenso auf Beispiele wie Dubai, wo die lokale Bevölkerung praktisch nur in der Armee, in Ministerien und Behörden tätig ist. „Gearbeitet“ wird von Ausländern – auch Deutschen, Briten und Franzosen –, die an klare Arbeitsverträge gebunden sind und nach deren Ablauf das Land verlassen müssen. Andererseits sind zum Beispiel in Panama Luxus-Resorts in Händen der ansässigen Kuna.

GATE bemängelt, dass traditionell frauenspezifische Arbeiten abgewertet werden, da eher Männer in der Tourismusbranche Geld verdienen können. Was unerwähnt bleibt: Seit Europäer die Welt bereisen und darüber schreiben, ist eine Abwertung von Frauenarbeit festzustellen, weil die meist männlichen Reisenden (auch Ethnologen!) aufgrund ihrer kulturellen Prägung nicht sehen konnten oder wollten, dass Frauen in vielen Ländern politische und wirtschaftliche Macht innehatten und -haben; ein blinder Fleck, der bis vor wenigen Jahrzehnten genauso in der Entwicklungshilfe nachzuweisen war. In vielen Ländern arbeiten Frauen zudem eher im Hintergrund und überlassen die formellen Geschäfte den Männern, was nicht heißt, dass Frauenarbeit weniger wert ist. Zum Beispiel knüpfen in Iran Frauen die als Souvenirs geschätzten Teppiche, männliche Familienangehörige übernehmen den Verkauf; in Tansania bereiten Frauen Speisen zu, ihre Söhne verkaufen sie auf den Bahnhöfen an Reisende.


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Beduinen am Sinai arbeiten seit Jahrhunderten als Fremdenführer. Foto: K. Böhmer-Bauer

Manche touristischen Dienstleistungen eignen sich zudem eher für Männer, wie die Begleitung von Gruppen, eine Tätigkeit, die eine längere Abwesenheit von der Familie erfordert. So geleiteten schon vor vielen Jahrhunderten die Gebeleya-Beduinen moslemische Reisende – früher in der Regel unterwegs nach oder von Mekka – durch die Berg-, Stein- und Sandwüsten der Sinai-Halbinsel. Heute nehmen die Mekka-Pilger meist das Flugzeug. Die Gebeleya haben sich aber ihre Einkommensquelle erhalten, indem sie nun Trekking-Touristen führen.


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Kinder im Iran verkaufen am Straßenrand Eis für die Kühlboxen der Reisenden. Foto: K. Böhmer-Bauer

Auch der Vorwurf von GATE, Kinder und Jugendliche würden durch Arbeit im Tourismus am Schulbesuch gehindert, muss überdacht werden. Was hindert die Kinder tatsächlich am Schulbesuch? Häufig ist es die wirtschaftliche Lage der Familien, welche die Kinder zwingt, Geld zu verdienen, um das Überleben der Angehörigen (mit) zu sichern oder um wenigstens einem Geschwisterteil den Schulbesuch zu ermöglichen. Weiterhin ist in manchen Ländern die Arbeitslosigkeit von Schulabgängern so hoch, dass es Eltern sicherer erscheinen kann, das Kind im Tourismus Geld verdienen zu lassen. Nicht zu vergessen, dass der Schulbesuch in vielen Ländern mit Kosten verbunden ist, wie Schulgebühren oder Anschaffung von Schuluniformen.

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Tibetische Klöster. Um Touristen anzuziehen, erlaubt die chinesische Regierung zerstörte Klöster wieder zu errichten. Foto: K. Böhmer-Bauer

GATE nennt als vom Tourismus verursachte Probleme: Generationenkonflikte, die Gefahr der Zerstörung des kulturellen Erbes und des lokalen Sozialgefüges, Identitätskonflikte oder Ablehnung der bisherigen ethnischen Identität. Es gibt aber zahlreiche Belege dafür, dass Identität durch die Wertschätzung der Touristen gestärkt und kulturelles Erbe wegen des Interesses der Touristen erhalten wird (Wiederaufbau der Klöster in Tibet zum Beispiel). GATE vermittelt weiterhin den Eindruck, dass Konflikte, die beim Kontakt zwischen Touristen und ethnischen Minderheiten entstehen können, auf den gesamten Tourismus übertragbar sind. Besuche bei Minderheiten entsprechen jedoch einem verschwindend kleinen Anteil am Gesamttourismus. Ganz abgesehen davon, dass GATE den Binnentourismus ausgeklammert, der laut WTO (Welttourismusorganisation) den acht- bis zehnfachen Anteil des Ferntourismus weltweit ausmacht.

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Tibeter dürfen ihre Religion wieder ausüben. Touristen sind Beobachter und informieren über Menschenrechtsverletzungen in entlegenen Gebieten. Foto: K. Böhmer-Bauer

Kulturen wandeln sich, seit Menschen existieren. Die Frage darf deshalb nicht sein, wie traditionell sollen die Bereisten leben (aus wessen Sicht eigentlich, aus der von EthnologInnen?), sondern wie traditionell wollen sie selbst leben. Dabei bleibt zu klären, was gesellschaftliche Gruppierungen unter „traditionell“ oder „modern“ verstehen. Interessanterweise wird Wandel in den so genannten traditionellen Gesellschaften von vielen EthnologInnen skeptisch beurteilt, obwohl er für die eigene Gesellschaft und Person akzeptiert wird. Auch in Europa hat der Tourismus vor nicht allzu langer Zeit rasant Einzug gehalten, vor allem in ehemals sehr armen Gebieten wie der Alpenregion, in Teilen Griechenlands oder der Türkei. Viele Gebiete in heutigen Entwicklungs- und Schwellenländern durchlaufen Prozesse ähnlich jenen in Europa vor 30, 50 oder 70 Jahren. Wie Patricia East, Mitarbeiterin von Ecohimal, betont, blicken die Himalaya-Bewohner „... sehnsüchtig auf die Errungenschaften der westlichen Welt und lehnen die ihnen von den Fremden zugeteilte Rolle als Akteure im Museum der glückseligen Rückständigkeit entschieden ab“. (Vortrag 2004 zur Fotoausstellung „Alpen & Himalaya – Gestern & Heute“).

Wie stellt sich GATE – nach einer massiven und nicht sonderlich fundierten Verurteilung des Tourismus – die Zusammenarbeit mit Touristikern vor? Etliche Reiseveranstalter bilden Reiseleiter nach hohen, eigens entwickelten Standards aus, haben längst Sozial- und Umweltkriterien entwickelt, setzen sich seit Jahren – manche seit Jahrzehnten – mit sozialverträglichem Tourismus auseinander und unterstützen sozial- und umweltverträgliche Tourismusprojekte. Es geht demnach nicht nur darum, dass die Tourismusbranche „Erwartungen und Anforderungen“ der Ethnologie berücksichtigt, sondern es müssen Kenntnisse und Wissen der Tourismusbranche in die Ethnologie einbezogen werden.

Tourismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ist einer der arbeitsplatzintensivsten modernen Wirtschaftszweige und deshalb in vielen so genannten Entwicklungs- oder Schwellenländern nicht mehr wegzudenken. Trotz bestehender Problemfelder, die hier keinesfalls geleugnet werden sollen, kann Tourismus zahlreiche positive Auswirkungen für die Bevölkerung und die Zielgebiete haben. Dazu gehören wachsender wirtschaftlicher Wohlstand, Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Infrastruktur sowie Umwelt- und Naturschutz. Denn nur landschaftlich intakte Regionen sind für Touristen und damit für Touristiker interessant. Entwicklungen, die von GATE als „besorgniserregend bzw. veränderungswürdig“ eingestuft werden, müssen es aus der Perspektive der lokalen Bevölkerung der bereisten Länder nicht sein. Wenn doch, fehlt häufig ein Alternativangebot zur unerwünschten Situation. Diese Angebote gemeinsam mit Touristikern und Vertretern der lokalen Bevölkerung zu entwickeln und zu schaffen, wäre eine der vielen Aufgaben von EthnologInnen im Tourismus. Um EthnologInnen überhaupt zu dieser Zusammenarbeit zu befähigen, braucht es eine zeitgemäße ethnologische Ausbildung an den universitären Instituten, denn bisher haben die meisten EthnologInnen nichts als Kritik zu bieten. Immer noch zielt die Lehre in der Ethnologie auf die klassischen Einsatzfelder Universität und Völkerkundemuseum ab. – Nebenbei bemerkt: Auch die Aufgaben der Völkerkundemuseen wären zu überdenken. Auch sie sind vom Tourismus betroffen, da inzwischen viele Besucher weiter gereist sind als Museumsethnologen und Ausstellungen für die Vor- oder Nachbereitung ihrer Reisen nutzen möchten.

Will sich die Ethnologie innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht selbst konservieren, steht es an, ihre Rolle im Zeitalter der Globalisierung grundsätzlich zu überdenken, Aufgaben neu zu definieren, aktuelle Arbeitsfelder zu etablieren und vor allem die Praxis nicht nur in Forschung und Lehre zu integrieren, sondern als gleichwertiges Arbeitsfeld für Ethnologen anzuerkennen. Oder sollten wir gar die Praxis höher bewerten? Denn wie sagte Benjamin Disraeli: „Um wie viel leichter ist es doch, Kritik zu üben, als richtig zu handeln.“

Weiterführende Literatur

Baumgartner, C.; Leuthold, M. (2003): Reisen mit dem Wüstenschiff. Bewertung der Nachhaltigkeit von Wüstenreisen am Beispiel von Desert Team. München.
BMZ (2002): Von Rio nach Johannesburg. Ausgewählte Handlungsfelder der deutschen Entwicklungspolitik seit der Konferenz von Rio de Janeiro (UNCED) 1992 – eine Bestandsaufnahme. Bonn. Hierin Kapitel 4.8. „Gender und nachhaltige Entwicklung“.
Böhmer-Bauer, Kundri (2005): Braucht die Praxis Ethnologen?

Zur Autorin

Dr. Kundri Böhmer-Bauer ist promovierte Ethnologin, arbeitet freiberuflich als interkulturelle Trainerin (u. a. für Reiseleiter und Touristiker) und ist Lehrbeauftragte am Institut für Völkerkunde und Afrikanistik der Ludwig-Maximilians-Universität in München.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008