WAS IST EIN TOURIST?

Ethnologische Feldforschung im Bereich Tourismus

Von Corinne Neudorfer

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Touristin und Guide in Laos. Foto: M. Flacke

Das Interesse am Thema Tourismus steigt in der deutschsprachigen Ethnologie. Tagungen, wie die des Arbeitskreises Tourismus & Ethnologie in München im Dezember 2003, die GATE-Konferenz im November 2004 und ein von GATE organisierter Workshop auf der DGV-Tagung 2005 sind aktuelle Beispiele dafür. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die Umsetzung theoretischer Konzepte der Tourismusethnologie in „die Tat“: Zum einen stellt sich die Frage, wie ethnologische Forschung im Bereich Tourismus aussehen kann, denn „Tourismus“ als ethnologisches Forschungsfeld erfordert andere Fragestellungen und Methoden als eine klassische Dorfstudie. Zum anderen wird verstärkt über einen Praxisbezug ethnologischer Forschung im Bereich Tourismus nachgedacht: Ist eine Zusammenarbeit von EthnologInnen und „Tourismus-PraktikerInnen“, beispielsweise aus der Wirtschaft oder der Entwicklungszusammenarbeit, sinnvoll? Diesen beiden Fragen möchte ich im Folgenden am Beispiel meiner eigenen Feldforschung nachgehen.

Multilokale Feldforschung

Von Januar bis September 2004 untersuchte ich in Nord-Laos in der Region Muang Sing ein Projekt für gemeindeorientierten Tourismus. Am Projekt waren verschiedene Akteure beteiligt: Akha (eine ethnische Minderheit, die in diesem Projekt die Rolle der „Gastgeber“ einnehmen), laotische Fremdenführer (Guides), lokale Behörden, Touristen, aber auch Projektmitarbeiter von Entwicklungsinstitutionen, wie die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) und der Deutsche Entwicklungsdienst (DED). Zusammen mit laotischen Behörden arbeiteten sie an einem Programm der ländlichen Entwicklung. Mein Forschungsinteresse galt der Kommunikation und Interaktion zwischen den Bewohnern der Akhadörfer und den Guides beziehungsweise Projektmitarbeitern.

Wer Prozesse im Tourismus untersucht, hat es zwangsläufig mit Akteuren zu tun, die ständig in Bewegung sind. Nicht nur die Touristen sind auf Reisen: Im Rahmen des Tourismusprojektes in Muang Sing wurden sie von laotischen Guides begleitet, die auf diese Weise immer wieder in Kontakt mit Dorfbewohnern traten. Auch die Dorfbewohner selbst, die Akha, waren ständig im Bewegung, etwa um Geschäfte in anderen Dörfern oder auf dem Markt abzuwickeln. Diesen „Bewegungen“ sollte meine Forschungsmethode Rechnung tragen: So verbrachte ich die eine Hälfte meiner Zeit in einem Akha-Dorf, die andere Hälfte begleitete ich Touristengruppen zu anderen Akha-Dörfern oder forschte in Muang Sing, wo sich das Büro der Entwicklungsorganisationen sowie das „Tourism Information and Guide Service Office“ befanden.

Multilokale Feldforschung basiert auf einem mobilen Dasein. Allerdings erschweren das Herumreisen und die kurzen Aufenthalte einen vertieften Zugang zu den Menschen der Untersuchung, denn es braucht eine Zeit der Sesshaftigkeit, bis sich erste Vertrauensverhältnisse etabliert haben. Schon bei einer stationären Feldforschung sind teilnehmende Beobachtungen in sozialen und kulturellen Interaktionssituationen wenig planbar, dies gilt umso mehr bei einer multilokalen Feldforschung. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und im Voraus entscheiden, wann man an diesem Ort sein möchte. Der Forscher oder die Forscherin ist damit gezwungen, einer wenig bestimmbaren Fährte nachzugehen, Ethnologie wird zur Spurensuche und zum Sammeln verschiedener „Puzzleteile“. Mit dieser Vorgehensweise ist immer Unsicherheit verbunden: Woher weiß ich, ob die Puzzleteile irgendwann ein ganzes Bild ergeben werden? Doch im Forschungsprozess entsteht dann schnell ein Gespür für eine Fährte. Auch Weißköppel beschreibt, wie sie durch diese Methode des „kreuz und quer“, durch die sie immer wieder an dieselben Schauplätze zurückkehrte, einen Blick und ein Gehör für eine Fährte entwickelte und Zusammenhänge entdeckte, die ihr bei einer stationären Feldforschung entgangen wären. Ähnliche Informationen tauchten bei ihr an unterschiedlichen Orten auf, verschiedene Akteure schnitten immer wieder ähnliche Gesprächsthemen an, durch die sie auf neue Forschungsgebiete stieß.

Eine solche Fährte zeichnete sich auch zu Beginn meiner Feldforschung zum Tourismus in Nord-Laos ab. Ein wiederkehrendes Gesprächsthema, das von den unterschiedlichen Akteuren teils sehr heftig, teils mit wenig Anteilnahme diskutiert wurde, war die Frage, ob Touristengruppen schädliche Einflüsse auf die Akha ausüben oder nicht.

Eine Leitfrage aus der Praxis

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Touristen bei einer ethnischen Minderheit in Laos. Foto: M. Flacke

Um zu erfahren, ob eine gastgebende Bevölkerung Tourismus als störend empfindet und durch ein Tourismusprojekt negative Folgen für die Einheimischen drohen, arbeiten Wissenschaftler oftmals mit quantitativen Methoden und vorgefertigten Fragebögen. Während meiner Feldforschung dagegen suchte ich das direkte Gespräch und stellte dabei verschiedenen Akteuren die simple Frage: „Was ist ein Tourist?“

Diese Frage scheint nur auf den ersten Blick banal zu sein. Denn umfassende Diskussionen in den verschiedensten Wissenschaften zeigen, dass es unzählige Touristen-Typologien und Definitionen gibt. Auch innerhalb des Projektes „Gemeindeorientierter Tourismus“ in Muang Sing gab es bei den verschiedenen Gruppen unterschiedliche Auffassungen, wer oder was ein Tourist ist. Während es für die Projektmitarbeiter in Muang Sing und die laotischen Guides ganz klar war, was ein Tourist ist, nämlich ein falang (laotisch sowohl für „Franzose“ als auch „westlicher Ausländer“, „Europäer“), der zu seinem Vergnügen andere Länder bereist, konnte ich bei den Akha diese Frage gar nicht erst stellen. Denn in der Sprache der Akha gibt es keinen Begriff, der sich mit „Tourist“ übersetzen lässt. Allerdings gab es mehrere Möglichkeiten, Touristen zu umschreiben.

Der laotische Begriff nak tong tiao , der genau genommen „umherreisende Person“ heißt, wurde von all jenen Akha verwendet, die bereits mit Guides oder der Tourismusbehörde zusammengearbeitet hatten. Eine andere Möglichkeit ist die Nationalität der entsprechenden Person zu nennen, wie es Akha-Souvenirverkäuferinnen im täglichen Kontakt mit Touristen tun. In Akha-Dörfern, wo auch Touristen mit der laotischen Begrüßungsformel sabai dii („Guten Tag/ Hallo“) angesprochen werden, hat sich dieser Gruß als Bezeichnung für Touristen etabliert. Und in einem der Akha-Dörfer, in dem die GTZ Projekte durchführte, wurden Touristen als „deutsche Personen“ bezeichnet, eine Hütte, die für Touristen erbaut wurde, als „deutsches Haus“.

Allgemein haben die Akha zwar eine Kategorie für „fremde Besucher“, in die auch Touristen fallen. Allerdings umfasst diese Kategorie mehr als die Personen, die von Guides und Projektmitarbeitern als „Touristen“ klassifiziert werden. Denn „fremde Besucher“ sind für die Akha auch Wissenschaftler, EZ-Experten und nicht laotische Projektmitarbeiter.

Diese unterschiedlichen Touristen-Definitionen haben im Verlauf des Projektes Auswirkungen auf die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen. Die fol-genden dem Projektplan entnommenen Fragestellungen sollten Projektmitarbeitern in der Diskussion mit den Akha helfen, sich über die Einflüsse von Tourismus auf die Akha klar zu werden: Unter der Überschrift „Kulturelle Auswirkungen/Allgemeine Zufriedenheit mit Öko-Tourismus“ wurden folgende Fragen gestellt: „Sind Sie der Meinung, Touristen verhalten sich ungesittet und beleidigend? Waren Sie es schon leid und überdrüssig, Touristen zu sehen? Sind Sie der Meinung, Touristen kommen zu oft in Ihr Dorf?“

Die Akha waren von diesen Fragen verwirrt, denn der Unterschied zwischen ausländischen Projektmitarbeitern und Wissenschaftlern einerseits und Touristen andererseits war für sie nicht im selben Maße relevant wie für die Projektmitarbeiter. Deshalb konnten die Fragen auch in dem Sinne verstanden werden, dass der mit Fragebogen ausgestattete Projektmitarbeiter sich damit nach dem Ansehen von Ausländern allgemein und damit seiner eigenen Person erkundigt. Selbst wenn es Probleme mit Ausländern gab – so saß den Akha in diesem Moment ja auch einer gegenüber, und sie konnten ihn kaum vor den Kopf stoßen und sich über sein Verhalten beschweren. Dies galt umso mehr als ja Projektmitarbeiter grundsätzlich positiv eingestuft wurden, da sie – wie auch manchmal Touristen – bestimmte Waren, Dienstleistungen oder schlichtweg Geld in die Dörfer bringen.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine ethnologische oder emische Herangehensweise Probleme in der Interaktion zwischen den Akteuren aufdecken kann. Ohne eine vorherige Klärung des Begriffs “Tourist“ können Projektmitarbeiter im Dialog mit den Akha keine aussagekräftigen Daten darüber erhalten, welche Auswirkungen gemeindeorientierter Tourismus auf das alltägliche Leben hat.

EthnologInnen und Praxis?

Arbeitet ein Ethnologe oder eine Ethnologin gemeinsam mit einer Institution, so können solche Probleme früher erkannt und Lösungsansätze intensiver gesucht werden. Dies setzt allerdings Offenheit von beiden Partnern voraus. Im nachhaltigen oder gemeindeorientierten Tourismus geht es häufig auch um wirtschaftliche Aspekte: Tourismus soll ein zusätzliches Einkommen für die Zielgruppe eines Projektes schaffen. Vertreter von Unternehmen und Institutionen erwarten somit, dass eine Forschung zu Tourismus etwas „nützt“. Dieser Nutzwert ist nicht gleichbedeutend mit den Ergebnissen einer ethnologischen wissenschaftlichen Forschung, wie es EthnologInnen gerne unterstreichen. Sie sollten erklären können, wieso die Berücksichtigung von Kultur und sozialen Faktoren von Bedeutung ist und was eine Nichtbeachtung für Folgen haben kann. Die Notwendigkeit von ethnologischen Untersuchungen ist am oben genannten Praxisbeispiel direkt zu ersehen.

Bei nachhaltigen Tourismusprojekten sollte nach wie vor das Selbstbestimmungsrecht der lokalen Bevölkerung im Vordergrund stehen. Um herauszufinden, was die Menschen vor Ort von Tourismusprojekten erwarten, muss man allerdings auch mit ihnen kommunizieren können. An dieser Stelle können Ethnologen – gerade auch mit neueren Methoden wie der multilokalen Feldforschung – einen wichtigen Beitrag leisten.

Der Text ist eine gekürzte und veränderte Fassung von: Neudorfer, Corinne (2005): Von der Theorie zur Praxis – ethnologische Feldforschung im Bereich Tourismus. In: GATE e. V. (Hrsg.): Ethnologie und Tourismus – Chancen, Perspektiven und Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammenarbeit. Berlin, GATE e. V. (zu beziehen über www.gate-tourismus.de)

Weiterführende Literatur

Steck, B., W. Strasdas, et al. (1999): Tourismus in der Technischen Zusammenarbeit. Ein Leitfaden zur Konzeption, Planung und Durchführung von projektbegleitenden Maßnahmen in der ländlichen Entwicklung und im Naturschutz. Eschborn, GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit).
Weißköppel, C. (2005): Kreuz und quer. Zur Theorie und Praxis der multi–sited–ethnography. In: Zeitschrift für Ethnologie 130:45–68.

Zur Autorin

Corinne Neudorfer ist Ethnologin und beschäftigt sich vor allem mit den Themenfeldern Tourismus und Entwicklung sowie der Region Südostasien. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ethnologie an der Universität Trier.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008