TOURISMUSETHNOLOGIE

Anregungen für einen ethnologischen Forschungsbereich

Von Christoph Antweiler

Tourismusethnologie 1
Touristisches Reiseziel: Die Pyramiden von Giseh. Foto: A. Rein

Ethnologische Forschung zu Tourismus nützt sowohl der Tourismuswirtschaft als auch der Ethnologie selbst. Die Tourismusethnologie kann – statt ein Hobby für ethnologische Flachbrettbohrer zu sein, was manche Kollegen befürchten – zum Kern des Fachs beitragen. Für die Touristikbranche hat eine moderne Ethnologie, die kritisch ist, aber nicht traditionalistisch, einiges zu bieten! Unter dem Motto, dass die Ethnologie Touristen genauso ernst nehmen sollte wie in einer klassischen Feldforschung die 180 interessanten Typen auf einer abgelegenen Waldlichtung in Neuguinea, möchte ich zeigen, was eine ethnologische Sicht auf Tourismus für das Fach bringen kann. Für die Ethnologie ist Tourismus als angewandtes Thema wichtig, erschöpft sich darin aber keineswegs. Ethnologie hat als Fach immer viel mit Tourismus zu tun gehabt. Entgegen verbreiteten Ansichten gibt das Thema auch kulturtheoretisch viel her, z. B. in Hinsicht auf Lokalisierungsprozesse, Ethnisierung, Diasporas und Hybridisierung (Antweiler 2005; dort ausführliche Literaturhinweise).

Ein ungeliebtes und doch genuin ethnologisches Thema!

Ich halte Tourismus unter anderem deshalb für faszinierend, weil er sich immer in einer spezifisch kulturell geprägten Arena abspielt und trotz standardisierter Formen und Strukturen individuelle Erlebnisse bietet (Löfgren 2002, Strain 2003). Mein Credo ist, dass die Ethnologie das Thema viel ernster nehmen muss, als das bislang der Fall ist. Tourismus in seinen vielen Formen bietet ein potenzielles Berufsfeld, in dem EthnologInnen Arbeit finden und gleichzeitig kritische Haltungen nutzbar machen könnten. Tourismus wird oft abgelehnt, da er pauschal mit negativen Folgen für Menschen in bereisten Gebieten assoziiert wird. Da Tourismus mit Freizeit zu tun hat, gilt die Beschäftigung damit auch vorschnell als oberflächlich. Aber nicht nur der Mangel an Berufsfeldern spricht dafür, Tourismus endlich auf die ethnologische Agenda zu setzen. Als Disziplin ist die Ethnologie schon immer intensiv mit Tourismus verquickt gewesen. Das betrifft ihre Themen und Theorien, teilweise auch ihre Institutionen und Feldmethoden. Frühe Reisende entwickelten das Reisen zu einer Form der Sozialforschung, wie Stagl (2002) in faszinierender Weise zeigt. Ethnologie als Fach hat also immer schon mit Tourismus zu tun gehabt.

Tourismus kann sowohl die empirische Ethnologie als auch die Theoriebildung bereichern. Touristische Bilder, Wünsche und Träume sind weltweit in den Köpfen der Menschen. Sonnenuntergänge, Palmen und Strände sind heute überall verbreitete Symbole, die aber erst erfunden werden mussten und eine eigene Sozialgeschichte haben. Tourismus ist eines der weltweiten Phänomene, in denen sich interkultureller Umgang konkret manifestiert, und er bietet ein methodisch ergiebiges „Fenster“ auf die Dynamik von Interkulturalität. Als soziales Phänomen ist Tourismus zu verbreitet, um es als Thema „nur angewandter“ Ethnologie abzutun. Tourismus ist so interessant und empirisch vielfältig, dass das Thema zu schade ist, um es bei postmodernen Reflexionen zu belassen.

Die Tourismuswirtschaft kann von ethnologischen Erkenntnissen über alle Beteiligten im Umfeld von Reisen profitieren. Im Mittelpunkt stehen Interessen, Wünsche und Sichtweisen sowie deren oft schneller Wandel. Hierbei spielen nicht nur diverse Einzelpersonen, Netzwerke und Gruppen im Zielgebiet eine Rolle, sondern auch unterschiedlichste Touristen und Vermittler.

Schwerpunkte der Tourismusethnologie

Tourismusethnologie 2
Touristen am Fuß der Cheops-Pyramide, Gizeh/Kairo. Foto: A. Rein

Reisende
Ethnologinnen und Ethnologen sollten verstärkt Individualreisende und Reisegruppen empirisch untersuchen. Es gibt bislang immer noch sehr wenige wirklich detaillierte, dichte und umfassende Untersuchungen von Touristen. Idealerweise sollten Touristen vor, während und auch nach der Reise untersucht werden. Touristen denken oft das ganze Jahr über eine Reise nach. Für manchen ist die Reise ein „persönliches Projekt“. Das zeigt sich zum Beispiel an der Bedeutung, die Reisende Souvenirs beimessen. Wir sollten auch mehr über die Rolle von Tagebüchern wissen und von veröffentlichten Schriften, die auf Reisen entstehen. Damit könnten Ethnologen Forschungen über historische Reisende befruchten, die bislang nur am Rande theoretischer Reflexion stehen. Ethnologische Forschungen zu aktuell Reisenden könnten die Vielfalt von Reisen stärker betonen.

Aktive Zielbevölkerung
Die aktiv gestaltende Rolle der Menschen in Zielgebieten des Tourismus sollte stärker beachtet werden. Derzeit werden „Bereiste“, wie das Wort schon nahe legt, als einheitliche Gruppe und passive Empfänger oder Opfer gezeichnet. Die Annahme der Passivität geht oft einher mit der prinzipiellen Vorannahme, dass Tourismus schädlich für Umwelt und lokale Kultur sei und dies auch von „der lokalen Bevölkerung“ so gesehen würde. Mitglieder indigener Völker stehen sicherlich in einem besonders prekären Verhältnis zum Tourismus, besonders wenn er von anderen organisiert und vorstrukturiert ist, aber sie sind – wie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch – nicht per se Opfer.

Motivvielfalt
Ethnologen sollten die sehr vielfältigen Motive bei Reisenden, bei Vermittlern und „Bereisten“ genauer untersuchen. Die bisherigen Untersuchungen arbeiten allzu ungeprüft mit der Annahme, dass das „Fluchtmotiv“ oder die Suche nach dem „Anderen“ bei Touristen im Vordergrund steht und bei den Bereisten das Gewinnstreben das Hauptmotiv sei (dagegen z. B. Strain 2003). Beim Personal von Reiseveranstaltern finden sich neben materiellen Interessen auch noch andere Motive der Beschäftigung mit Tourismus! Auch die Wünsche von so genannten Sextouristen erweisen sich bei genauer Untersuchung als so vielfältig, wie es die Motive und Lebenslagen der Sexverkäufer sind.

Körpererfahrungen
Touristen reisen nicht nur im und mit ihrem Kopf, sondern mit ihrem ganzen Körper. Körperlichkeit und Körperbewegung können sogar als Kardinaleigenschaften des Reisens gelten. Man fühlt die Fortbewegung … die Fahrtluft im Gesicht ... oder den Schmerz im Rücken. Die Tourismusethnologie sollte körperliche Erfahrungen und sinnliche Erlebnisse viel stärker in den Blick nehmen. Hierzu könnten neuere Theorierichtungen zur Ethnologie des Körpers und der Sinne und Performanzstudien nutzbar gemacht werden. Die derzeitigen sozialwissenschaftlichen Tourismusstudien und die leitenden Theorietexte sind dagegen noch stark auf kognitive Fragen oder Medienthemen beschränkt. Dies gilt ganz besonders für theoretische Texte und Fallsammlungen, die nach wie vor vorwiegend Fragen der Repräsentation und Imagination thematisieren und sich dem gazing widmen.

Orts- und Landschaftsbezug
Ethnologinnen und Ethnologen könnten die spezifische Ortsbezogenheit und den Landschaftsbezug des Reiseerlebnisses eruieren (Yamashita 2003). Damit könnten Theorien der Ent-Örtlichung (De-Territorialisierung), die auf dem gegenwärtigen Theoriemarkt en vogue sind, geprüft werden. Viele neuere Studien feiern die „Kosmopoliten“ und „nomadisierenden Subjekte“, aber nur wenige fragen, was Ortlosigkeit subjektiv bedeutet und welche psychischen „Kosten sie verursacht. Wie hoch ist der faktische Grad von Delokalisierung und wie hoch die Austauschbarkeit von Orten tatsächlich?

Typologien
Die Tourismusethnologie sollte Typologien in der Tourismusforschung bereichern. Die Ethnologie könnte dazu beitragen, die enorme Vielfalt von Tourismusformen zu eruieren. In der ethnologischen Literatur wird nach wie vor zumeist nur von Bade-, Kultur- oder Ethnotourismus geredet, während in der Tourismuswirtschaft, in Touristikmanagementlehrbüchern und in der Fremdenverkehrsgeographie verschiedenste Typologien verwendet werden. Differenzierungen zu „dem Touristen“ sind angesichts der derzeitigen Marktsegmentierung von eminenter Bedeutung. Dazu kommt der schnelle Wandel der Motivmischungen und Reisebedürfnisse, der es erforderlich macht, empirisch Schritt zu halten.

Binnentourismus
Die „Bereisten“ reisen zunehmend selbst; die Tourismusethnologie sollte sich dem weltweit stark zunehmenden Binnentourismus widmen. Besonders in südlichen Ländern, in denen es eine wachsende Mittelschicht gibt, nimmt der domestic tourism derzeit stark zu (z. B. in Indonesien und Indien). Wir sollten uns auch mit den verbreiteten Ausflügen und Belohnungsreisen für Angestellte oder Beamte befassen, statt nur Ausländer als Reisende zu sehen.

Zusammenhänge mit anderen Mobilitäten und Konsumformen
Wir brauchen mehr Studien zu den Übergängen zwischen Tourismus und anderen Mobilitätsformen, statt nur Tourismus zu untersuchen. Wie hängen Grenzüberschreitung; Migration, traveling culture (statt nur „Fremdenverkehr“) zusammen? Ein Desiderat sind auch Untersuchungen zu den Mischungen und Zusammenhängen von Reisen mit anderen Formen des Konsums, besonders von Kultur und „Heritage“. Welche Rolle spielt simuliertes Woanders-Sein als Konkurrenz zu Tourismus? Wie wird Kultur in Museen, Themenparks, Einkaufs-Malls im Vergleich zu typischem Reisen konsumiert (Smith 2003)?

Lokalisierungsstudien
Lokalisierungsstudien innerhalb der Globalisierungsforschung fragen nach der lokalen Umsetzung globaler Ströme. Statt der verbreiteten Lokalstudien brauchen wir Untersuchungen, die Tourismus als lokalisierten Teil kultureller Globalisierung sehen. Bezüglich Tourismus wäre es z. B. wichtig, zu wissen, wie sich weltweit ähnliche Auffassungen von Kultur als Differenz auf touristische Wahrnehmung auswirken. Wir sollten herausfinden, wie sich Strukturen und Dynamiken der Ungleichheit, die global an verschiedensten Lokalitäten ähnlich sind, mit Tourismus zusammenhängen, sei es als Faktor oder auch als Effekt.

Teilnehmen!
Als Tourismusethnologe/in sollte jede/r von uns gezielt selbst am Tourismus teilnehmen und die Rolle als Tourist/in erleben, auch wenn sie uns unangenehm ist. Das bedeutet Auto-Ethnologie, und die dabei erfahrenen Irritationen können erhellend sein. Dadurch könnten wir die Meidung des Themas im Fach besser verstehen, und wir würden dem „Othering“, das wir selbst mit Touristen machen, entgegentreten. Wir könnten z. B. den Ort der eigenen früheren Feldforschung einmal bewusst als Tourist besuchen. Echte Teilnahme würde das Fach weiterbringen und zugleich der Touristikbranche wichtige neue Innensichten vermitteln.

Literaturtipps

Antweiler, Christoph (2005): Tourismusethnologie: Trends und Visionen. In Gemeinsamer Arbeitskreis Tourismus und Ethnologie (Hrsg.): Ethnologie und Tourismus. Chancen, Perspektiven und Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammenarbeit: S.16–25. Berlin: Gemeinsamer Arbeitskreis Tourismus und Ethnologie, GATE e.V.
Löfgren, Orvar (2002): On Holiday. A History of Vacationing. Berkeley etc.: University of California Press (California Studies in Critical Human Geography, 6) (zuerst 1999)
Smith, Melanie K. (2003): Issues in Cultural Tourism Studies. London and New York: Routledge
Stagl, Justin (2002): Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien etc.: Böhlau Verlag
Strain, Ellen (2003): Public Places, Private Journeys. Ethnography, Entertainment and the Tourist Gaze. New Brunswick: Rutgers University Press
Yamashita, Shinji (2003): Bali and Beyond. Explorations in the Anthropology of Tourism. New York and Oxford: Berghahn Books (Asian Anthropologies) (japanisches Original: “Balitô. Kankôjinruigako no ressun”, Tokyo, 1999)


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008