EIN HAUCH VON EWIGKEIT

Haarkult im 19. Jahrhundert

Von Nicole Tiedemann

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Haararmband. Erste Hälfte 19. Jahrhundert, Altonaer Museum

In der antiken Vorstellung wurde das Mysterium der Haare vor allem daran festgemacht, dass Haare nach dem Tod des Menschen noch eine Weile weiter wachsen. Außerdem wurden die Haare als Sitz der Lebenskraft gesehen. Diese Vorstellung wurde in der griechischen Mythologie zum Ausdruck gebracht, beispielsweise in der Geschichte von Scylla und Minos oder im „Buch der Richter“ des Alten Testaments: Die göttliche Kraft des Helden Simson lag in seinen sieben Locken. Durch eine List konnte Delilah - aus dem feindlichen Stamm der Philister kommend - ihm dieses Geheimnis entreißen. Mit dem Abschneiden der Haare verlor Simson seine übermenschliche Kraft.

Das Haar wurde also nicht als ein Teil des Körpers betrachtet, über den man selbst bestimmen konnte, sondern war religiös besetzt. Wegen dieser überhöhten Bedeutung pflegte man seine Kopfpracht in besonderem Maße: Lange, gesunde Locken symbolisierten Vitalität, Virilität, Freiheit und Würde. Haare waren wertvoll und wurden sorgsam aufbewahrt oder an geliebte Menschen weitergegeben. Die nachweislich älteste Haarsträhne stammt vermutlich von Teje. Die Locke wurde im Grab des Tutenchamuns (Regierungszeit: 1345-1335 v. Chr.) gefunden.

Im nördlichen Europa sind verarbeitetes Haar und Schmuckstücke mit Haareinlagen seit dem Mittelalter überliefert. In London wurden Haarbänder aus Pferde-, wenig später aus Menschenhaar entdeckt, die aus dem 14. Jahrhundert stammten. Um 1820 erfuhr der Haarschmuck zunächst an den Fürstenhöfen eine Renaissance, zum Ende der Biedermeierzeit wurde er volkstümlich.

Gleichzeitig mit dem Schmuck waren Haarbilder und Stammbuchblätter mit Haarbeigaben begehrte Andenken. Auch in persönlichen Briefen fügten Verfasser - zum Ausdruck ihrer Verbundenheit gegenüber dem Adressaten - ein "Stück von sich selbst" in Form einer Locke oder eines geflochtenen Haarkranzes bei. Nach 1900 nahm die Beliebtheit der Arbeiten aus Haar ab. Als Erinnerungsträger trat die Fotografie nun zunehmend in den Vordergrund.

Trauerschmuck

Die Ursprünge des Schmucks aus Haar liegen in den Trauerritualen. Im Mittelalter wurden Haarringe vor der Beisetzung als Andenken an die Hinterbliebenen verteilt. Große Popularität erlangte der Trauerschmuck in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine der bekanntesten Liebhaberinnen dieses Schmucks war Königin Victoria, wobei ihr frühes Witwendasein sicher eine wesentliche Rolle dabei spielte. Neben Ringen gab es Trauerbroschen mit oder aus Haaren. Diese trug man während der Trauerphase. Dagegen wurden geklöppelte Ketten, die als Symbol der Liebe oder als Erinnerung an einen Verstorbenen gedacht waren, im Allgemeinen ein Leben lang getragen und später vererbt. Kaiser Napoleon I. (1769-1821) zum Beispiel berücksichtigte in seinem Testament ausdrücklich seinen Haarschmuck und trug selbst ein Medaillon mit einer Locke von seiner Ehefrau Joséphine de Beauharnais (1763-1814).

Freundschaftsschmuck

Mit dem Gedanken der Freundschaft, die über den Tod hinaus währt, kann die Brücke zwischen Freundschafts- und Trauerschmuck geschlagen werden. Schon bei Cicero (106-43 v. Chr.) als „wahre Freundschaft dauert ewig“ formuliert, wird die Unsterblichkeit der Freundschaft zu einem Leitgedanken des späten 18. Jahrhunderts. Marianne von Willemer beschenkte Goethe zum Geburtstag mit einer Freundschaftskette aus Haaren. Sie schrieb dazu: "Solange wie der Raum eine so große Rolle spielt - so suchen wir denn auch, den Entfernten an uns zu ketten." Goethe antwortete aus Jena am 1. September 1820: "Heute kann ich mich des schärfsten Blickes rühmen. Durch all die Schachteln hindurch habe ich gleich auf den Grund gesehen, und das Mitteljuwel erblickt, die Einfassung entging meinem geistigen Auge; desto mehr erfreute sich nachher mein sinnliches. Tausend Dank in Eile.“

Haarbilder

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Haarbild. Erste Häfte 19. Jahrhundert, Altonaer Museum

Bekannt sind Haarbilder bereits als Reliquien in Wallfahrtskirchen. Ziel war es, das Haar geliebter lebender oder verstorbener Personen aufzubewahren. Kästchen mit Bildern und Ornamenten aus Menschenhaar zierten als Andenken an die bedeutenden Ereignisse im Leben eines Menschen – wie Taufe, Hochzeit, Jubiläum, Tod - die Wände der bürgerlichen und großbäuerlichen Wohnstuben. Besonders beliebt waren florale Motive aus Haar. Jede Blumenart hatte eine bestimmte, verschlüsselte Bedeutung, durch die der Beschenkte eine Botschaft vermittelt bekam.

Neben dem Trauerschmuck wurden auch Haarbilder anlässlich eines Todesfalls angefertigt. Bei der Wahl der Motive – in erster Linie Grabmonumente – orientierte man sich vor allem an Grabstätten der klassischen Antike. In Deutschland erschien 1769 die für die Darstellung des Todes in Kunst und Literatur wegweisende Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet" von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Die Begeisterung für die Kunst des Altertums, die vor allem durch die Schriften Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) und durch die Entdeckung der antiken Städte Herculaneum und Pompeji (1748) entfacht worden war, blieb nicht ohne Auswirkung auf die Gestaltung der Haarbilder.

Vor dem Aufkommen der Fotografie waren diese Bilder aus Haar wohl die wichtigsten Andenken an Verstorbene. Als die Fotokunst im 19. Jahrhundert nicht mehr nur der adligen und bürgerlichen Oberschicht vorbehalten war, trat die Haarkunst in den Hintergrund. Häufig waren nun die Ablichtungen von Verstorbenen mit Haargeflechten kunstvoll umrahmt, wobei das Haar mehr und mehr schmückendes Beiwerk wurde und seine zentrale Bedeutung verlor.

Die Technik der Herstellung von Haararbeiten

Haararbeiten sind gewoben, geflochten oder geklöppelt. Aus geschnittenen Haarsträhnen oder feingemahlenem Haarstaub wurden Haarbilder geklebt. Die meisten Arbeiten wurden per Hand mit Hilfe bleierner Klöppel und eines Rahmens hergestellt. In der Spätzeit gab es auch die Konstruktion der Haarflechtmaschine.

Für die Festigung der Form wurden die fertigen Geflechte zuerst gekocht und dann an der Luft getrocknet. Danach fasste man die Enden in Hülsen aus Metall ein, um ein Verschieben der Haare zu verhindern.

Haarkünstler

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Nähkästchen. Haareinlage im Deckel. Erste Häfte 19. Jahrhundert, Altonaer Museum

Vornehmlich wurden Haararbeiten als Auftragsarbeiten von Perückenmachern, Friseuren und Barbieren erledigt, die aufgrund fehlender Kundschaft - Perücken waren nach der französischen Revolution aus der Mode geraten - neue Tätigkeitsbereiche suchten.

Da die Verarbeitung von Haaren zu Schmuckstücken kein zunftpflichtiges Handwerk darstellte, verdienten viele Frauen selbständig damit Geld. Die Preise für die jeweiligen Arbeiten waren frei aushandelbar. Nennenswert sind in diesem Zusammenhang die Frauen aus Mora in Dalarme in Schweden, die in Krisenzeiten ein Wandergewerbe in Nordeuropa praktizierten. Sie schnitten regelmäßig ihr eigenes Haar und das ihrer Kinder und verkauften oder verarbeiteten dieses. Eine andere Gruppe von Haarkünstlerinnen waren Klosterfrauen, die das gestutzte Haar von Novizinnen verarbeiteten. Außerdem sind Haararbeiten von Strafgefangenen bekannt.

Eine gewisse Rolle für den Rückgang der Auftragsarbeiten an einzelne Haarkünstler spielte neben dem Abflauen der Mode Ende des 19. Jahrhunderts auch die Tatsache, dass eine Vermarktung von Haararbeiten durch Versandhäuser in Amerika erfolgte. Der Kunde konnte das Haar einschicken und bekam das fertiggestellte Schmuckobjekt ausgehändigt.

Das Haar als Material für Schmuckgegenstände hat für die heutige Gesellschaft weitestgehend an Bedeutung verloren. Die Vorstellung des Tragens vor Haarschmuck wirkt abstoßend, löst gar Ekel aus. Seine symbolische Bedeutung blieb jedoch erhalten. Die einzelne Locke als Erinnerung an einen geliebten Menschen findet sich noch häufig in den Schubläden oder Portemonnaies wieder. Die bildende Kunst der Gegenwart hat das Material Haar in seiner Besonderheit und Einmaligkeit neu entdeckt. Beispielhaft seien zwei Künstler genannt: Joachim Jakob, der den Betrachter durch seine Fotografien einer neuen Wahrnehmung der Körperbehaarung aussetzt; Klaus Elle, in dessen Werken das Gestaltungsmittel Haar wieder zu einem Ursymbol des Lebens wird, mit dem er auf eine anthroposophische Suche nach dem Ursprung des Menschen geht.

Der Wert der Haararbeiten liegt nicht in der handwerklichen Fertigkeit, sondern in der Einmaligkeit des Materials. Selbst wenn viele der Objekte durch das aufwendige, aber doch immer wiederkehrende Arrangement ähnlich wirken, so sind sie doch durch das Haar, das einem Menschen gehörte, der längst verstorben ist, ein Unikat. Das Individuum, das einst die Locken für diese Haararbeit opferte, lebt bis heute in ihr weiter. Somit sind das Bild, die Brosche oder der Anhänger keine toten Gegenstände, sondern durch den verborgenen Inhalt geradezu beseelt.

Zur Autorin

Dr. Nicole Tiedemann wurde mit der Arbeit "Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks" an der Universität Bremen promoviert und ist nun Leiterin der Abteilung Gemälde und Graphik im Altonaer Museum Hamburg.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008